Gegen das Schweigen der Lämmer

Mitbestimmen ist ein Privileg in unserer Kirche
Man muss die meisten Evangelischen motivieren, zum Ankreuzen überhaupt aufzukreuzen, also überhaupt zur Kirchenwahl zu gehen. Und das ist schade!

Wer die Wahl hat, heißt es, habe die Qual. Daran ist zumindest dies richtig, das entscheiden zu können bedeutet, es eben auch zu müssen. Oder, vorsichtiger formuliert, es wenigstens zu sollen.

Dieses Sollen schließt die Mühe ein, sich zu informieren, sich eine Meinung zu bilden und diese womöglich sogar zu verändern. Es schließt den Mut ein, eine Meinung zu haben, Ideale und Überzeugungen, Haltungen und Werte zu vertreten. Und mehr noch, es schließt ein, diese in Kontakt mit der Wirklichkeit zu bringen, sie in den Streit der Meinungen zu halten. Es schließt ein, die eigene Meinung der Unübersichtlichkeit der Fürs und Widers, der sprichwörtlichen Langsamkeit der Mühlen und der Kunst der Kompromisse auszusetzen, für die es übrigens viel Schweiß und Fleiß braucht, wenn sie nicht sprichwörtlich faul werden sollen. Und nicht zuletzt schließt es die Möglichkeit ein, sich zu irren, Gutes gewollt und Schlechtes bewirkt zu haben ...

Ja, wirklich, all das ist zuweilen durchaus mühsam. Mitunter – besonders dann, wenn unangenehme Entscheidungen zu fällen sind – tut es sogar richtig weh, den Idealen und der Wirklichkeit. Aber ob Qual wirklich der einzig mögliche Reim auf Wahl ist?

„auf kreuzen!“: So lautet bei uns das Motto für die Kirchenwahlen, die in diesem Monat in der Evangelischen Kirche von Westfalen stattfinden. Mit ihnen bestimmen alle vier Jahre die Gemeinden vor Ort in freier, gleicher und geheimer Wahl ihre Entscheidungsträger und -trägerinnen.

Sie ahnen es womöglich schon: Wenn das Motto ‚aufkreuzen!‘ heißt, dann muss man die meisten Evangelischen motivieren, zum Ankreuzen überhaupt aufzukreuzen, also überhaupt zur Wahl zu gehen. Und das ist schade! Es ist schade, weil die Menschen, die sich in den Gemeinden zur Wahl stellen und in oft schwierigen Zeiten Verantwortung übernehmen, auf das Vertrauen, die Unterstützung und den Respekt derer angewiesen sind, für die sie diese Mühe auf sich nehmen.

Es ist aber vor allem schade, weil es ja gerade in Sachen Religion und Glaube ein echtes Privileg ist, dass wirklich jeder Mann und jede Frau, der oder die dazu gehört, mit seiner oder ihrer Stimme den Weg der Kirche mitbestimmen.

Dass „eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen“ – wie es Martin Luther einmal als evangelische Position formuliert hat, ist auch unter den christlichen Konfessionen eher die Ausnahme.

Für die Reformatoren und die Evangelischen Kirchen ergibt sich das bündig aus dem Evangelium von Jesus Christus, der – so Luther – doch gesagt habe: „Meine Schafe kennen meine Stimme.“ (Johannes 10,27). Mit anderen Worten: Wer glaubt, ist tatsächlich fähig, in Glaubensdingen zu unterscheiden und zu entscheiden.

Daraus, dass Jesus der gute Hirte ist, folgt also keineswegs das Schweigen der Lämmer. Im Gegenteil.

Denn Glaube bedeutet zu hören und eine Stimme zu haben, sie in Kirche und Welt zu erheben, sie riskieren zu können und auch zu sollen. Wir haben die Wahl.

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Annette Kurschus ist Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Herausgeberin von zeitzeichen.

Annette Kurschus

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