Provokante Existenz

Ostchristliche Memoiren eines Unangepassten zu 25 Jahren Kircheneinheit
1983 feierte die DDR „500 Jahre Luther“: Schaufenster in Wittenberg. Foto: picture alliance
1983 feierte die DDR „500 Jahre Luther“: Schaufenster in Wittenberg. Foto: picture alliance
Da er nichts „für das Volk“ tue, könne die „Volksmacht“ auch nichts für ihn tun. Mit dieser Begründung wurde der Pfarrersohn Christoph Dieckmann in den Siebzigerjahren in der DDR vom Abitur ausgeschlossen, und deswegen studierte er Theologie. Der heutige Autor der zeit erinnert sich an die Zeit in der DDR und die Wehen der Einheit.

Ich erwuchs im Heiligen Land der Protestanten. Mein Vater war Pfarrer in Sangerhausen, unweit von Eisleben, wo Martin Luther 1483 geboren wurde und 1546 starb. Auch Wittenberg lag nicht fern, wie Mansfeld und Erfurt. Neunjährig ritt ich auf einem Esel namens Max zu Luthers Fester Burg empor. Sie barg die Herzkammer des Protestantismus: das Stüblein, in welchem Junker Jörg 1521 das Neue Testament verlutherdeutscht und den Teufel mit dem Tintenfaß beworfen hatte.

Es kam West-Besuch. Die Partnergemeinde aus Steinheim am Main erschien in Mannschaftsstärke, importierte Konsumgüter und besichtigte Lutherstätten samt Umgebung. Die Umgebung hieß DDR. Ich sah unsere Murkelei mit den Augen der Westler und fühlte ambivalent: Sie kamen aus dem reicheren, besseren Staat, doch in puncto Protestantismus hatten wir das Eigentliche vorzuweisen: nicht nur Luther, auch die „Bewährung unterm Kreuz“.

Vater politisierte mit dem Amtsbruder. Ich entsinne mich des hessischen Satzes: „Der Helmut Kohl ist mein Mann.“ Kohls Kanzlerschaft stand freilich noch dahin. Die Eltern schätzten Willy Brandt und Helmut Schmidt. Die Christdemokraten, denen ich bei Bundestags-Übertragungen lauschte, empfand ich als revanchistische Haudraufs. Ihre selbstgerechten Tiraden enthielten keinerlei Besinnung, warum es zur deutschen Teilung kommen musste. Ich wusste: Die Teilung ist die Sühne für Deutschlands unermessliche Schuld. Diese geschichtstheologische Weisheit barg den Minimalkonsens zwischen den evangelischen Kirchen in der DDR und dem antifaschistischen Staat. Überdies empfand ich die Zweistaatlichkeit als normal. 1956 geboren, kannte ich Deutschland nicht anders.

Mein Vater war vom Jahrgang 1920. Er begriff sich als Bewahrten des Kriegs. Darüber fand er zur Theologie. Sein Glaube beantwortete jene Gnade, die ihn gerettet hatte. Dieser christliche Existentialismus verband ihn mit vielen Kommilitonen an der „KiHo“, der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf, die 1935 von der Bekennenden Kirche gegen die nationalsozialistisch gleichgeschalteten Deutschen Christen gegründet worden war.

Zahlreiche Theologen der Heimkehrergeneration waren Spätberufene, denen ihre Vorgeschichte Lebenswarnung blieb. An die Stelle volksideologischer Rassenmoral trat der Gott verantwortliche Mensch. Verwerlich sei, gemäß der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, jedwede Ideologie, die sich Gottes Platz anmaßt. Vater verfocht Luthers Zwei-Reiche-Lehre: der Obrigkeit zu geben, was ihr gebührt, aber Gott das Seine. Im Konfliktfall müsse das Gewissen entscheiden, insbesondere gegen alle Doktrinen vom gerechten Krieg. Du sollst nicht töten - das stand und steht als Gottes oberstes Gebot.

Die DDR definierte sich als Friedensstaat. Frieden hieß auch das rhetorische Bindemittel im Umgang mit der Kirche - freilich nicht von Anbeginn. Der junge SED-Staat hatte Anti-Kirchen-Kampf betrieben. 1953 verbot er den Religionsunterricht in Schulräumen. Die Junge Gemeinde kriminalisierte er als „US-Tarnorganisation“; deren Aktivisten seien „Agenten der Kriegstreiber in Washington und Bonn“. Über 3.000 Schüler und Studenten wurden relegiert. Wissenschaft oder Aberglaube, Sozialismus oder Sabotage - so primitiv markierte man die Fronten.

Auf sowjetischen Einspruch mäßigte die SED-Führung ihre Kirchenfeindschaft. Künftig sollten Bürger christlichen Glaubens für den sozialistischen Aufbau gewonnen werden. Das bedeutete Duldung, nicht ideologische Akzeptanz. Religionen galten gönnerhaft mit Marx als „das Opium des Volkes“ und „die Blumen an der Kette der entrechteten Kreaturen“, wobei letztere in der DDR ja nicht mehr existierten. Das unwissenschaftliche Relikt rage aus dunkler Vorzeit in den Sozialismus hinein, würde aber mangels Humus bald verdorren. Bis dahin mochte die Kirche als Kultinstitution noch ein wenig vegetieren. Ihr Ende stand auch biologisch fest. Neue Menschen, neue Zeit!

Dem wurde nachgeholfen. 1954 propagierte die Staatsmacht massiv die Jugendweihe, „ungeachtet der Weltanschauung“. Das zielte gegen die Konfirmation. Die Kirche erklärte Jugendweihe und Konfirmation für unvereinbar, doch die große Mehrheit auch der Christen fügten sich in den staatsopportunen Ritus. Die Kirchenleitung ruderte zurück. Fortan konnten Jugendgeweihte konfirmiert werden - ein Anstandsjahr später. Der Schlappe von 1954 folgte 1978 eine zweite. Die DDR hatte das obligatorische Schulfach Wehrkunde eingeführt. Kirchlicher Protest erwirkte, dass christliche Eltern ihre Kinder freistellen lassen konnten. Aber recht wenige machten davon Gebrauch. Die Untertanen fürchteten Nachteile.

Oft zu Recht. Die Volksbildung des Kreises Sangerhausen unterstand der Genossin R., einer Margot Honecker auf Provinzniveau. Diese Volksbildungskommandeuse ließ kein Kirchenkind zur Oberschule und zum Abitur zu. Trotz „Delegierung“ wurde ich abgelehnt, mangels FDJ und Jugendweihe. Genossin R. sprach: „Sie tun nichts für das Volk, da tut die Volksmacht auch nichts für Sie.“ Das bedeutete Studienverbot. Widerwillig begreife ich, warum sich Angela Merkel damals zur Anpassung entschloss.

Ich erhielt einen Brief meines Magdeburger Bischofs Werner Krusche. Er schrieb, wie mir ergehe es jetzt vielen um ihres Glaubens willen. Jesus wisse aber immer Wege, auch für mich. So kam es. Abiturlos studierte ich Theologie am Leipziger Theologischen Seminar und am Ost-Berliner Sprachenkonvikt. Bischof Krusche besuchte die Vikare bei einer Rüstzeit im Harz. Er wappnete uns mit der Pathetik des lutherischen Glaubenskämpfers. „Das Volk Gottes“, orgelte er, „spürte schon oft an der Kehle die Kralle des altbösen Feinds. Aber immer wieder riss unser Herr die Kralle fort und schenkte uns Atemluft.“ Mich schauderte. Ich sah die Kralle. Krusches Hand war kriegsverstümmelt. Deshalb heißt seine Autobiographie „Ich werde nie mehr Geige spielen können“.

Das Gröbste war mit der Ära Ulbricht ausgestanden. 1971 hatte Erich Honecker den Kirchenfresser Walter Ulbricht palastrevolutionär pensioniert. Der Staat stornierte seine atheistische Nah-Erwartung und verschob den Tod der Religion. In Honeckers halbliberale Anfangsjahre fiel Willy Brandts Ostpolitik der kleinen Schritte. Die Alleinvertretungsarroganz der Ära Adenauer war passé, die DDR erfreute sich diplomatischer Anerkennung aus aller Welt. Die Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fixierte pluralistische Standards, die ohne Gesichtsverlust nicht völlig verweigert werden konnten. Und dazu gehörte Religionsfreiheit.

Am 7. März 1978 prangte auf dem Partei-Organ Neues Deutschland ein verblüffendes Foto: Erich Honecker, augenscheinlich heiter, konferierte an einem runden Tisch mit dem Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, geleitet vom Berlin-brandenburgischen Bischof Albrecht Schönherr. Im Gespräch vom 6. März 1978 garantierte der Staat grundsätzliche Arbeitsmöglichkeiten für die Kirche. Bischof Schönherr sprach den nachmals dauerzitierten Satz: „Das Verhältnis von Staat und Kirche ist so gut, wie es der einzelne Bürger in seiner gesellschaftlichen Situation vor Ort erfährt.“

Die Bundessynode 1971 hatte den Begriff „Kirche im Sozialismus“ geprägt. Diese „Kompromissformel“ bedeutete kein Bekenntnis, sondern eine „Ortbestimmung“: „nicht gegen, nicht neben, sondern im Sozialismus“ wolle man „Kirche für andere“ sein. Die SED wünschte eine staatskonforme Kirche. Ihr Mantra lautete: „Die Machtfrage ist geklärt.“ Aber schon die Existenz der Kirche provozierte. Als einzige DDR-Körperschaft unterlag sie nicht dem parteistaatlichen Regiment. Sie regelte ihre Belange „bürgerlich“, durch parlamentarische Synodaldemokratie. In den Augen der SED bildete die Kirche aktuell eine „Bastion der kapitalistischen Gegenwelt“ (Rudolf Mau), historisch eine reaktionäre Autorität, die bereits den preußischen Militarismus geheiligt hatte.

Dieses Bündnis von Thron und Altar begann schon mit Luther. Dank seines Schutzfürsten Friedrich des Weisen widerstand er ungetötet Kaiser und Papst. Der Protestantismus kultivierte den Glaubens-Trutz, gemäß dem Motto des Augsburger Bekenntnisses: „Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen und schäme mich nicht“ (Psalm 119,46). Wirklich gewagt wurde die Machtferne erst in der Nazidiktatur von der Bekennenden Kirche, deren Geist die DDR-Kirchen mehrheitlich prägte. Der SED -Vorwurf lautete immerfort: Grenzüberschreitung, Einmischung in staatliche Belange. Die Kirchen argumentierten, der Glaube umfasse den ganzen Menschen, christliches Engagement in der Gesellschaft ende nicht mit dem Gottesdienst. Die Spannungen kulminierten in den Achtzigerjahren. Die weltweite Ökumenische Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung beschrieb christliche Verantwortung als global. In Moskau erschien Michail Gorbatschow. Glasnost und Perestroika konterkarierten die Stagnation der DDR. Demokratie und Ökologie, die Hochrüstung in Ost und West, das Menetekel Tschernobyl - Debatten, die der Staat unterband, fanden unter kirchliches Schutzdach. Freilich nicht überall. Manche Traditionsgemeinde protestierte gegen den Zulauf ungetaufter Geister. Der Thüringer Bischof Werner Leich sprach: „Die Kirche ist für alle da, aber nicht für alles.“

Dann wurde es 1989 … Euphorische Chronisten haben den Großen Umbruch zur Protestantischen Revolution verklärt. Dieser zum Epochenbild aufgeblasene Nikolaikirchenmythos ist rührend falsch. Wohl konnten Kirchenmenschen dank ihrer Ferne zur Staatsmacht der Volkserhebung ihre Stimme leihen, zum Frieden rufen, Runde Tische moderieren. Doch längst war die DDR weitgehend entchristianisiert; und Ostdeutschland ist es geblieben.

Hat die evangelische Kirche den SED-Staat stabilisiert oder geschwächt? Diese Alternative verkürzt die christliche Botschaft. Vor allem offerierte die Kirche im Weltanschauungsstaat DDR ein alternatives Menschenbild. Personell bestand sie aus staatsloyalen und „feindlich-negativen Kräften“, aus Ökumenikern und Orthodoxen, aus Hirn- und Handarbeitern, aus Pietisten und Säkularisten, aus Fundamental-Ethikern, Kompromisslern, Stasi-Informanten … Dieses corpus mixtum wurde vor nunmehr 25 Jahren mit den West-Kirchen vereinigt.

War man denn je getrennt? Angeblich nur organisatorisch, nie im Geiste. Die SED duldete keine gesamtdeutschen, grenzüberschreitenden Instanzen. Deshalb, auf staatlichen Druck, konstituierten 1969 die acht Ost-Landeskirchen den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Seine Verfassung enthielt als Artikel 4,4 einen Gummiparagraphen: „die besondere Gemeinschaft der gesamten evangelischen Christenheit in Deutschland“.

Gemeinschaft und Einheit erwiesen sich 1991 als höchst verschieden. Der Osten kannte Bonhoeffers „völlig religionslose Zeiten“ aus bewährter Erfahrung, der klerikale Westen gluckte auf volks- und staatskirchlichen Besitzständen. Die Vereinigung geschah im Streit. Vor allem drei Themen erzeugten Dissenz: Viele Ostler wünschten keinen schulischen Religionsunterricht, sondern weiterhin die Christenlehre als kirchliches Katechumenat. Zweitens misshagte den Ostkirchen die staatliche Einziehung der Kirchensteuer. In der DDR wurden Kirchbeiträge nach persönlicher Gehaltsauskunft gegeben - häufig dem Pfarrer während eines Hausbesuchs. Eines allerdings blieb im Osten tunlichst verschwiegen: Die DDR-Kirchen waren hoch westsubventioniert - ihr Haushalt (fast zur Hälfte), ihre Hochschulen, ihre Bauprogramme, deren Devisen-Finanzierung in Staatsbetriebe floss. Ohne die deutsch-deutsche Kirchenfusion 1991 hätten die Ostkirchen so wenig Zukunft gehabt wie eine eigenständige DDR. Dennoch enthielt die Ostalgie Utopie. Sie spiegelte sich im entrüsteten Satz eines Westkirchenpotentaten: Die Brüder und Schwestern in der DDR haben mit unserem Geld Urchristentum gespielt.

Das dritte Streitthema hieß Militärseelsorge. Es gab keine in der DDR. Die Ostkirchen lehnten sie auch 1991 ab, doch 2004, nach einer Übergangsregelung, trat der Militärseelsorge-Vertrag gesamtdeutsch in Kraft. Deutschlands Vereinigung war bekanntlich keine Hochzeit gleichgestellter Partner, sondern auf jedwedem Gebiet ein Anschluss zu den Bedingungen der vermögenden Mehrheitsgesellschaft. Vermöge meiner Herkunft und Prägung bleibe ich Ost-Christ. Mein Glaube widerstand nicht nur der NVA. Staatsideologisch wird auch heute aufgerüstet, dank „Deutschlands gestiegener Verantwortung in der Welt“. Soldaten sind Menschen, Gottes Häuser stehen ihnen offen. Aber zur Friedensbotschaft Jesu passen weder Garnisonkirchen noch gewissenshygienische Bundeswehrstützpunkte. Ärzte sollen heilen, menschenrechtlicher Pazifismus ist Christenpflicht. Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Man sagt, Pastorenkinder würden nicht identisch mit „der Welt“. Das wünsche ich auch der Vereinigten Evangelischen Kirche in Deutschland.

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Christoph Dieckmann

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