Verständlich

Die Pflege von Demenzkranken
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Nach der Lektüre ist klar: Es wäre aller Mühe wert, Demenzkranke so zu versorgen, wie es in diesem Buch geschildert wird.

Dieses Buch hält, was Titel und Cover versprechen: Dement, aber nicht bescheuert. Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken. Der Schweizer Michael Schmieder hat gemeinsam mit der Journalistin Uschi Entenmann sein Plädoyer in einer Sprache geschrieben, die jeder versteht, auch dann, wenn es um Medizin und Methoden geht. Schmieder ist ausgebildeter Pfleger und hat einen Master in Ethik. Er schreibt aus jahrzehntelanger Berufserfahrung, aus der Kenntnis zahlreicher Einzelbeispiele und mit einem großen Herzen für diese hilflosen Alten. Ein absolut lesenswertes Buch.

Auf dem Cover sieht man eine Zeichnung, ein Wasserglas mit drei Blumen: zwei Blüten im Wasser, eine guckt oben raus. Niemand weiß, was sich der Mensch, der sie so angeordnet hat, dabei gedacht hat: Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh‘? Schmieder sagt, noch wichtiger als das Wissen sei die Empathie. Darin müssen die Pflegekräfte stark sein, mit denen er arbeitet.

Schmieder ist seit 1985 Chef der Einrichtung Sonnweid in der wohlhabenden Gemeinde Wetzikon bei Zürich. Der damalige Verwalter kaufte das Heim, eine heruntergekommene Verwahranstalt für psychisch kranke Frauen, steckte viel Geld in den Umbau und eröffnete mit Schmieder als neuem Leiter ein Erfahrungs- und Experimentierfeld, das ein seltener Glücksfall ist. Heute leben in der Einrichtung demenzkranke Menschen in unterschiedlichen Stadien der Krankheit. Die Wohnformen richten sich danach: am Anfang eine Wohngemeinschaft, dann das Zweibettzimmer und schließlich die „Oase“, die so etwas ist wie der Kernbereich für die Schwächsten. Schmieder, der anfangs auch Einzelzimmer einrichten wollte, wurde von seinem Pflegeteam daran gehindert.

Die „Oase“ zeigt eindrücklich, wie das Sonnweid-Team seine Arbeit versteht. In einem offenen Raum mit verschiebbaren Zwischenwänden leben schwer demenzkranke Menschen unter ständiger Betreuung der Pflegekräfte. Die Intimsphäre wird geschützt, auch Angehörige können sich mit ihrem Familienmitglied zurückziehen. Ansonsten aber setzt die Pflege auf Kontakt, auf Anregung, Berührung, auf Störungen bis zum Chaos und auf einen mitfühlenden, souveränen Umgang damit.

Frau Meister, die ständig aufstehen und losrennen will, sich aber nicht mehr auf den Beinen halten kann, sitzt auf dem Boden wie ein Kind und rutscht, wohin sie will. Seitdem braucht sie kaum noch Beruhigungsmittel. Herr Brade, der nichts essen will und abmagert, bis eine Pflegerin auf die Idee kommt, mit ihm vor dem Essen zu beten, langt ordentlich zu.

„Oft werde ich nach dem Pflegekonzept der Sonnweid gefragt“, schreibt Schmieder. „Meine Antwort befriedigt nicht jeden. Es gibt nämlich keins.“ Lediglich mit einem Pflegekonzept für die agile Frau Meister oder den frommen Herrn Brade könne er dienen. „Oder für jeden einzelnen unserer einhundertfünfzig Patienten.“ Die Patienten ernst zu nehmen, auf ihre Ängste und Bedürfnisse einzugehen, darauf komme es an. Die Kranken mit Medikamenten ruhigzustellen, sie gar zu fixieren oder ihnen eine falsche Realität vorzugaukeln, scheidet in diesem Konzept aus.

Schmieder ist inzwischen ein gefragter Ratgeber, und seine Einrichtung gilt als eine der besten für Demenzkranke weltweit. Am Anfang wurde er angefeindet für seine Überzeugung, dass demente Menschen getrennt von anderen Pflegebedürftigen betreut werden müssten. Die „Oase“ wurde vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (kda) als ein Ort des „konzentrierten Elends“ und „Vorstufe zum Fegefeuer“ dämonisiert. Inzwischen wird das Modell nachgeahmt, in Deutschland allerdings nur 22 Mal, obwohl die Urteile der Pflegewissenschaft eindeutig sind: Die Bewohner weisen weniger Apathie, Essstörungen und Aggressionen auf. Sie sind entspannter, erleben mehr, ihre Sinne werden angeregt, und sie brauchen weniger Medikamente.

Die Pflegekräfte in der Sonnweid werden in Methoden ausgebildet, die sich als wirkungsvoll erwiesen haben, um Demenzkranke zu erreichen oder zu aktivieren: in der Kinästhetik, der Validation und der basalen Stimulation. Sie helfen den Patienten, ihre Bewegungsabläufe zu kontrollieren (Kinästhetik) und mithilfe von Berührungen ihren Körper wieder wahrzunehmen und sich mobilisieren zu lassen (basale Stimulation). Validationserfahrene Pflegekräfte sind in der Lage, durch einfühlende Zuwendung Demenzkranke aus ihrem Dämmerzustand zu holen und etwa mit einem Lied zu erreichen. Schmieder schildert das berührend. Einen Menschen zu validieren „heißt also, ihn zu stärken und zu festigen, auch wenn der Abbauprozess im Gehirn mehr und mehr sein Verhalten steuert“, schreibt er.

Schmieders Credo lautet: Die Pflege hat sich den Demenzkranken anzupassen und nicht die Demenzkranken einem Pflegesystem. Eine zentrale Frage lässt er in seinem Buch allerdings offen: Was kostet ein Pflegeplatz im Haus Sonnweid? Reicht das Budget, über das deutsche Heime normalerweise verfügen, für eine solche Arbeit aus, wenn man es nur richtig ausgibt?

Nach der Lektüre ist aber klar: Es wäre aller Mühe wert, Demenzkranke so zu versorgen, wie es in diesem Buch geschildert wird. Dabei verhehlt Schmieder die Probleme und Herausforderungen für sein Team nicht, nicht das Schreien, die Aggressivität und Verzweiflung von Patienten, die Gerüche, den Ekel, mit dem die Pflegekräfte zurechtkommen müssen. Aber er zeigt auch Lösungen auf, die in der Regel gemeinsam erarbeitet werden.

Sein Buch lebt vom Konkreten und von der Klarheit seiner Überzeugung: Demenzkranke Menschen „sind sensibel, liebevoll, charmant, offen, ehrlich, direkt, ungeschminkt. Menschen, die uns fordern, mit allen Schattierungen, die ein Menschenleben bietet. Die Verwirrtheit gibt ihnen die Chance, sich selbst ohne Hemmschwellen zu erleben. Sie haben jetzt die Möglichkeit, das lebenslang Ungesagte zu sagen, das Ungelebte zu leben. Erst die Verwirrtheit schafft den Zugang zu sich selbst.“ Zu zwei Dritteln sei der Mensch von Emotionen gesteuert, vegetativ, von Intuition und Unbewusstem, nur zu einem Drittel vom Verstand. Die Würde, die ihm eigen ist, gehe mit dem Verstand nicht verloren, betont Schmieder. Das spürt man auf jeder Seite.

Michael Schmieder: Dement, aber nicht bescheuert. Ullstein, Berlin 2015, 220 Seiten. Euro 19,99.

Bettina Markmeyer

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