Eine Frage des Respekts

Es ist Liebe, wenn die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan über Polen spricht
Gesine Schwan war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und von 2004 bis 2009 Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit der Bundesregierung. Foto: dpa/ Malte Ossowski
Gesine Schwan war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und von 2004 bis 2009 Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit der Bundesregierung. Foto: dpa/ Malte Ossowski
Die Wissenschaftlerin Gesine Schwan bemüht sich seit Jahrzehnten um die deutsch-polnischen Beziehungen, die zu pflegen ihr eine Herzenssache ist. Sie sieht die Arroganz vieler Deutscher gegenüber Polen - und die fatale Neigung mancher Polen, sich vor allem als Opfer zu sehen, was angesichts der polnische Geschichte allerdings nahe liegt. Philipp Gessler ist der Grande Dame der deutsch-polnischen Beziehungen in ihrem Büro am Brandenburger Tor begegnet.

Wer über die deutsch-polnischen Beziehungen etwas wissen will, muss Gesine Schwan treffen - oder sollte es zumindest. Denn die Politikwissenschaftlerin, zweimal als SPD-Kandidatin ehrenhaft gescheitert in der Bundespräsidentenwahl, personifiziert diese Beziehung wie kaum jemand anderes in der Bundesrepublik. Und wer mit ihr spricht, spürt sofort: Es ist schlicht Liebe zu Polen, die da wirkt, eine Liebe, die schon in ihrer Familie gegründet wurde: „Meine Mutter hatte, vor dem Hintergrund, dass beide Eltern politisch engagiert und im Widerstand waren, eine besondere Sympathie für Polen, auch weil sie in einer deutschen Familie in Polen aufgewachsen ist. Sie hat später zum Beispiel auch für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze plädiert.“

Gesine Schwan wäre jedoch nicht diese Intellektuelle von Rang, wenn sie diese Liebe nicht von Anfang an intellektuell unterfüttert hätte: „Am Ende meiner Schulzeit habe ich mir überlegt: Wenn ich an Verständigung mit Polen arbeiten will, was damals ja noch viel brisanter war, Anfang der Sechzigerjahre, dann muss ich die Sprache lernen. Also habe ich angefangen, neben dem regulären Studium Polnisch in Kursen an der Freien Universität zu lernen.“

Die sprachbegabte junge Frau, der Latein, Französisch, Englisch und Italienisch nicht besonders schwer fielen, biss sich an Polnisch fast die Zähne aus: „Polnisch war ganz anders, vom ganzen Wortschatz, zum Teil ist auch die Syntax ganz verschieden, und ich musste mich sehr anstrengen. Ich habe einen heftigen Liebeskummer dazu genutzt. Den habe ich verdrängt damit, dass ich mir gesagt habe: Keine Zeit verlieren, Polnisch lernen!“

Das Engagement für die deutsch-polnischen Beziehungen ist Gesine Schwan zu einer Lebensaufgabe geworden. Auch wenn die Zeiten zur Zeit stürmisch sind: „Ich mache einen klaren Unterschied, und das machen ja viele, zwischen der aktuellen Regierung und der Gesellschaft. Etwa 38 Prozent haben die Regierungspartei PiS gewählt, in einer Situation, in der die vorangegangene sehr liberale bis neoliberale Regierung, die in Deutschland angesehen war, sehr viele soziale Diskrepanzen gefördert hat, zwischen Ost- und Westpolen, zwischen dem Land und den Städten usw. Dass dann ein großes Sicherheitsbedürfnis auftrat und dass die PiS mit der sozialen Sicherheit den Wahlkampf betrieben hat, ist klar. Sie hat den Wahlkampf nicht antideutsch geführt. Und sie hat auch nicht mit dem Ziel der Aufhebung des Rechtsstaats oder der illiberalen Demokratie geworben. Das heißt, die jetzige Politik kann man jetzt nicht einfach als den Willen der Polen bezeichnen.“

Die Ursache für derzeitige politische Entwicklung sieht Gesine Schwan in den Umbrüchen, die die polnische Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten erleben musste: „Viele haben unterschätzt, was für Mittelosteuropa die Crashkurse der Ökonomie bedeutet haben, die völlige Veränderung des Koordinatensystems. Dazu die Einführung von Demokratie, die den wirtschaftlichen Erfolg völlig in den Mittelpunkt gestellt hat und nicht die Würde des Menschen. Die, die noch in Polen für die Freiheit vom Kommunismus gekämpft haben, die hatten natürlich diese normativen Vorstellungen im Kopf. Aber die darauffolgende Generation hat eigentlich nur noch Business, Business, Business gewollt. Das ist auch für viele Polen furchtbar enttäuschend.“

Analytischer Blick

Gesine Schwan blickt auf die Leiden infolge dieser Umbrüche mit Empathie - aber auch aus der nüchternen Perspektive einer Wissenschaftlerin: „Ich schaue darauf gerne zunächst mit einem analytischen Blick, wie ich das generell besser finde, weil man nicht von vornherein in irgendwelche Affekte kommt oder Vorurteile. Ich glaube, dass Polen, auch das Baltikum und auch zum Teil Ungarn, in große Schwierigkeiten geraten sind, weil sich die Demokratie ganz schnell einfach als radikale Marktwirtschaft oder radikaler Kapitalismus präsentiert hat. Und das ist nicht der normative Kern. Demokratie ohne Gewaltenteilung, Minderheitenschutz usw. ist keine Demokratie. Der Liberalismus hat immer die Neigung, über die liberale, die kapitalistische Wirtschaft den Menschen zu instrumentalisieren, nur als Betriebsfaktor, Kunden und Verbraucher zu sehen.“

Doch zurück zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Sie sind nach der Einschätzung von Gesine Schwan durch eine schlechte Tradition deutscher Überheblichkeit gekennzeichnet: „Die Polen waren nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit positiver gegenüber den Deutschen eingestellt als die Deutschen gegenüber den Polen. Sozialpsychologisch kann man sich das ganz gut erklären: Immer, wenn man sich eigentlich ein bisschen schuldig fühlt gegenüber dem/den anderen, hat man keine gute Meinung von ihm/ihnen. Aber dann muss man auch sehr genau unterscheiden: Man kann grob sagen, je jünger und je linker, desto propolnischer. Je älter und konservativer, desto distanzierter.“

Die Abneigung vieler Deutscher, sich mit dieser Schuld ihrer Vorfahren und den rund sechs Millionen Opfern des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust auf polnischer Seite zu beschäftigen, ist Schwan zufolge eine der Ursache, weshalb es im deutsch-polnischen Verhältnis immer noch so knirscht: „Die Beschäftigung mit der eigenen persönlichen Schuld oder der von Menschen, die einem sehr nahe standen, also Vätern und Müttern, ist natürlich immer ein Problem.“

Umgang mit Schuld

Sie ergänzt: „Ich glaube, Menschen haben immer die Neigung, mit den Worten von Kant, sich blauen Dunst vorzumachen, sich nicht darum zu kümmern, was Unangenehmes geschehen ist. Das ist eine sehr menschliche Neigung, und man braucht eine Energie, einen Anstoß, und man braucht auch vielleicht einen Gewissensdruck, um das nicht so treiben zu lassen. Es hat eine große Bedeutung, was im öffentlichen Raum diskutiert wurde und wieweit dann im öffentlichen Raum auch eben ein diskursiver Zwang entsteht, sich damit zu befassen, vor allen in der Zeit um 1968 nach den großen Prozessen, dem Einsatzgruppen-, dem Eichmann- und dem Ausschwitz-Prozess, wie die eigenen Eltern, vor allem die Väter, beteiligt waren. Deswegen glaube ich, es haben sich schon sehr viele Deutsche sehr ernsthaft damit auseinandergesetzt.“ Aber quantitativ sei das kaum zu messen: „Denn der eigentliche Umgang mit Schuld findet nicht auf dem Marktplatz statt. Der findet im eigenen Herzen statt.“

Gesine Schwan glaubt, dass im deutsch-polnischen Verhältnis auch die Kategorie des Respekts, oder besser: des fehlenden Respekts eine große Rolle spielt - wie in vielen Beziehungen: „Die Frage, wie weit man sich wertgeschätzt fühlt, ist in meiner Sicht, je älter ich werde, die generelle Frage überall. Ganz egal ob in Polen, Deutschland, in Großbritannien oder sonst wo. Und es gibt eine Tradition der Geringschätzung von Deutschen gegenüber Polen. Das ist natürlich ein Eindruck, der bei Polen entstanden ist, der auch von Generation zu Generation durchaus oft unbewusst weitergegeben wird, der nicht einfach aufhört. Der ist nicht immer akut, wenn es gute Beziehungen gibt. Aber immer dann, wenn die Beziehungen schlechter werden.“

Allerdings ist in dieser Angelegenheit nicht nur auf die Deutschen zu schauen, auch Polen schleppt in seinem öffentlichen Diskurs alte Bilder mit, die nicht nur segensreich waren. „Das Bild, Polen als Christus der Völker, der stellvertretend leidet, wird wieder mobilisiert von der PiS, ganz klar. Das ist übrigens ein Bild, das überall grassiert, in Serbien auch zum Beispiel, wenn Nationen und Staaten militärisch oft besiegt worden sind. Dann muss man ja auf andere Weise ein Held werden. Und das Heldentum liegt dann im Opfertod. Polen ist lange Zeit sehr katholisch gewesen. Man muss heute sehr fragen, wie weit der katholische Glaube wirklich noch lebendig ist in Polen. Aber sich selbst als Opfer hinzustellen oder zu verstehen, das so zu interpretieren ist eine große Versuchung.“

Dabei ist der Opferbegriff schillernd: „Zu sagen, hier haben wir ein Opfer, es ist unschuldig, das stimmt natürlich nicht. Opfer können sich auch schuldig machen. Man kann Opfer und Täter zugleich sein.“ Fakten sind übrigens Schwan zufolge nicht unbedingt ein Gegenmittel gegen gesellschaftliche Mythen - und das gilt dies- und jenseits der Oder, gerade wenn vor allem Gefühle regieren: „Wenn man emotional an einer Sache hängt, dann will man sich mit Empirie nicht befassen. Das ist eine generelle Regel. Deswegen ist auch die aktuelle Diskussion um Fakten überhaupt nicht überraschend. Wer Wut hat, schaut sich keine Fakten an.“

Die Politikwissenschaftlerin hat ein Beispiel parat, wie es auch laufen kann, ein Bild der Versöhnung, ein, richtig verstanden, wirklich heldenhaftes: „Der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen nach dem Krieg war da viel weiter: Wir vergeben, und wir bitten um Vergebung. Das ist Partnerschaftlichkeit in der Annahme der Schuld. Die ist schon sehr heldenhaft, denn die Deutschen hatten deutlich mehr Schuld auf sich geladen.“

Wunden heilen

Und Gesine Schwan blickt bei den deutsch-polnischen Beziehungen nach vorne - es geht ihr, als grundsätzlich optimistischer Mensch, um die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen, die, so ihre feste Überzeugung, nur von unten wachsen können: „Gemeinsame Interessen, gemeinsame Projekte und der gegenseitige Respekt bringen uns in den deutsch-polnischen Beziehungen am besten voran. Am ehesten wirkt es, wenn Projekte in der Zivilgesellschaft geschehen. Für mich ist es ganz klar, dass das von unten nach oben passieren muss. Man kann es von Oben stärken und honorieren und symbolisch mit Gesten versehen usw. Aber die Menschen müssen handeln und auch ihre eigenen authentischen Erfahrungen damit machen. Diese verordneten offiziellen Freundschaften, die wirken nicht, das hat man ja ganz besonders damals in der DDR gemerkt.“

Gerade die Flüchtlingspolitik sei ein Feld, wo Neues wächst, so Schwan, und zwar von unten: „In einem speziellen Bereich, wo ich mich jetzt doch seit Jahren sehr engagiere, der Aufnahme von Flüchtlingen, gibt es elf polnische Städte, die sich öffentlich bekannt haben, dass sie Flüchtlinge aufnehmen wollen und dass sie sich an der Lösung der Migrationsfrage beteiligen wollen.“

Zugleich gelte es aber in den deutsch-polnischen Beziehungen nach wie vor, Wunden zu heilen, auch die jüngeren Datums: „Wir haben in den letzten zehn Jahren Europapolitik sehr viel Porzellan zerstört durch die deutsche Dominanz gerade in der europäischen Wirtschaftspolitik“, sagt Gesine Schwan. Und wagt ein großes Wort, das in Europa nicht mehr selbstverständlich ist: „Friede ist nicht einfach Stillhalten. Friede heißt auch, gerecht sein. Frieden ohne Gerechtigkeit geht nicht.“

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Philipp Gessler

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