Piroggen mit Stäbchen

Südkorea ist ein vielfältiges und zerrissenes Land
Der Märtyrer-Friedhof für die 1980 durch die Militärdiktatur getöteten Demonstranten in Gwangju.
Der Märtyrer-Friedhof für die 1980 durch die Militärdiktatur getöteten Demonstranten in Gwangju.
Die evangelische Propstei Rhein-Main pflegt eine Partnerschaft mit presbyterianischen Kirchengemeinden im südkoreanischen Gwangju. Martin Franke, Pfarrer in Seligenstadt und ausgebildeter Journalist, war dabei, als die Hessen Südkorea besuchten. Und er hat viel Unbekanntes entdeckt.

Betroffen schauen die acht Vertreter der evangelischen Propstei Rhein-Main im Gemeindehaus einer südkoreanischen Kirchengemeinde auf ihre Kameras: Ist sie von der Firma Nikon, einer Tochter des Mitsubishikonzerns?

Die 87-jährige Yang Kim Dok arbeitete in ihrer Jugend in Japan für Mitsubishi und bekam dafür keinen Cent. Angelockt von den falschen Versprechungen, sie könnten studieren oder bekämen eine Ausbildung, haben viele oft junge Koreanerinnen 1944/45 der japanischen Besatzungsmacht als Rüstungsarbeiterinnen geholfen, ohne Lohn.

Selbst in der fremden Sprache ist die tiefe Verletzung der alten Frau unüberhörbar, als sie mit wenigen Sätzen die Schlafsäle und das schlechte Kantinenessen beschreibt. Mit gebrochener Stimme berichtet Yang über ihre 18 Monate in Japan, die ihr Leben geprägt haben.

Erst seit Kim Chi-Yong, Pfarrer der Presbyterianischen Kirche in der Republik Korea (PROK), sie und andere Opfer im Kampf um eine Entschädigung unterstützt, spricht Yang Kim Dok öffentlich von dem erfahrenen Unrecht. Es wird spürbar, wie wichtig allein ein Satz der Entschuldigung wäre, gerade in der südkoreanischen Gesellschaft, in der Ehre einen sehr hohen Stellenwert hat. Doch arm und krank, findet sich Yang auch heute auf der falschen Seite: Mitsubishi weigert sich den vorenthaltenen Lohn zu zahlen, geschweige denn eine Entschädigung.

In Südkorea wurde sie oft schäl angeschaut, weil vermutet wurde, sie sei eine der „Trostfrauen“ gewesen, wie die Zwangsprostituierten der japanischen Armee genannt werden. Auch sie kämpfen um Entschädigungen und haben vor Gericht Zwischenerfolge erzielt. Aber das Kaiserreich Japan und seine Firmen halten die Zwangsarbeit und Zwangs-prostitution, die sie Koreanerinnen und Koreanern während der Besetzung zwischen 1910 und 1945 auferlegten, für erledigt, seit General Park Chung Hee, Südkoreas Diktator und Vater der heutigen Präsidentin, 1965 auf Entschädigungszahlungen und individuelle Ansprüche der Opfer verzichtete.

Die Frankfurter Pröpstin Gabriele Scherle besuchte mit anderen Mitgliedern der Propstei Rhein-Main der hessen-nassauischen Landeskirche (EKHN) die Partnergemeinden in Gwangju, einer Stadt mit 1,4 Millionen Einwohnern im Südwesten Südkoreas. Die acht Hessen erlebten ein spannendes, aber auch zerrissenes Land: Mitten in der Hektik der Großstadt gibt es buddhistische Klöster, und die Mönche wirken wie aus der Zeit gefallen. Nichts ist dort wichtiger als die genau gezählten Anschläge der großen Glocke an jedem Morgen und jeden Abend - und ein vegetarisches Abendessen ohne die verschiedenen Luft-, Land- und Wassertiere, die Koreaner so gern verzehren.

Die hessischen und die koreanischen Protestanten gewinnen durch diese Partnerschaft. Denn beide stehen vor ähnlichen Problemen: Die koreanische Gesellschaft altert noch schneller als die deutsche. Und auch dort verlieren die traditionellen Kirchen Mitglieder. Bislang war das Christentum, zu dem sich fast ein Drittel der südkoreanischen Bevölkerung bekennt, die Religion des Volkes: Viele Missionare und Gemeinden, besonders der presbyterianischen Kirche (PROK), haben sich gegen die japanische Besatzung und für die Demokratiebewegung eingesetzt. Doch was zählt die Vergangenheit in der Bilderflut der Medien und Unterhaltungsindustrie? Auch in Südkorea, wo es auffallend viele Kirchtürme gibt, fällt es Kirchen immer schwerer, die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten.

Buddha im Seonamsa-Tempel im Jogyesan- Provinzpark, einem der bekanntesten Tempel in Südkorea.
Buddha im Seonamsa-Tempel im Jogyesan- Provinzpark, einem der bekanntesten Tempel in Südkorea.

Die Gesellschaft des Landes, das in den Sechziger- und Siebzigerjahren rasant vom verarmten Agrarstaat zu einer führenden Industrienation aufgestiegen ist, wirkt oft atemlos: Die sauber gehaltenen Städte werden überragt von Hochhäusern und monotonen Wohnblocks, die schnell hochgezogen wurden. In die anmutige Hügellandschaft mit ihren Reisfeldern und buddhistischen Tempelanlagen trauen sich Stadtbewohner nur mit Funktionskleidung und Smartphone, um ja keine Zeit zu verlieren. Bei aller Gastfreundschaft, die oft durch perfekte Organisation überrascht, wird auch der enorme Konkurrenzdruck spürbar, den die Gesellschaft erzeugt. Von 100.000 Einwohnern nehmen sich jährlich 40 das Leben (in Deutschland sind es 19). Die hohe Jugendarbeitslosigkeit zwingt Schüler und Studierende zum Büffeln. Und auch auf dem Heiratsmarkt herrscht scharfe Konkurrenz. Mädchen wird oft schon mit 15 die erste Schönheitsoperation geschenkt. Ältere und Flüchtlinge können mit dem hohen Tempo nicht Schritt halten: Immer wieder sind am Straßenrand Müll- und Lumpensammler zu sehen.

Besonders schwer haben es Flüchtlinge aus Nordkorea, eine Arbeit zu finden und anerkannt zu werden. Rund 600 von ihnen kommen jährlich nach Gwangju. Im Hana-Center erhalten sie einen zehntägigen Integrationskurs. Dann beginnen Schule oder Arbeitssuche. Für fünf Jahre übernimmt der Staat ihre Krankenversicherung. Da die Flucht über den Han-Fluss oft tödlich endet, kommen die meisten der jährlich rund 2.000 nordkoreanischen Flüchtlinge über China und das Meer. Um in China untertauchen zu können und dann eine Überfahrt zu finden, geben viele rund 10.000 Euro aus. Wer erwischt wird, den schicken die chinesischen Behörden zurück. In Südkorea sind sie zwar sicher, stehen aber unter dem Verdacht, Spionage zu betreiben, wie ein 65-Jähriger erzählt.

Zum Erstaunen der Hessen kann man fast alles mit Stäbchen essen, sogar Piroggen: In kleinen Seitenstraßen treffen sie auf russische Lokale, betrieben von Einwanderern aus Usbekistan. 500.000 dieser „Korjo-Saram“ haben ihre Staatsangehörigkeit verloren, nachdem Usbekistan, nach dem Zerfall der Sowjetunion, selbtstständig geworden war. Die einen zogen in die Gegend von Wladiwostok, wo ihre Großeltern lebten, andere suchten ihre Wurzeln in Südkorea.

Multikulturelle Gesellschaft

Im 19. Jahrhundert waren ihre Vorfahren vor dem Hunger, der in Korea herrschte, nach Russland geflohen und wegen verwandtschaftlicher Verbindungen nach Japan. Aus Angst vor Spionage ließ sie Stalin nach Usbekistan verschleppen. Das neue Land war trocken und abweisend: Fast 40.000 der an Reisanbau und Fischfang gewöhnten Koreaner sollen kurz nach der Deportation umgekommen sein. Und heute gelten sie der südkoreanischen Regierung nicht mehr als Koreaner: Nur fünf Jahre dürfen sie offiziell im Land bleiben.

Gut durchgerührt wird Bibimbap, die koreanische Variante des Eintopfs.
Gut durchgerührt wird Bibimbap, die koreanische Variante des Eintopfs.

Trotz dieser ablehnenden Haltung ist Südkorea ein Einwanderungsland und auf dem Weg zur multikulturellen Gesellschaft: Das Multicultural Families Support Center in Gwangju wird zu 70 Prozent vom Frauen- und Familienministerium finanziert. Weitere Anteile kommen von der Stadt Gwangju und den Sponsorengeldern großer Firmen. Vor allem durch Mütter-Kind-Kurse engagiert sich der Staat bei der Integration von Einwanderern, nachdem ein Ehemann 2006 seine ausländische Frau ermordet hat. Kommerzielle Agenturen vermitteln ausländische Frauen, besonders für Männer auf dem Land. Entgegen der noch unter General Park propagierten Ideologie des „ethnischen Zusammenhalts“ heiratet heute jeder zehnte Koreaner eine Ausländerin. Angefangen hat dies Ende der Achtzigerjahre mit den Massenhochzeiten der Moon-Sekte. Doch viele der Frauen aus Nepal, Kambodscha, Vietnam, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und der Mongolei, die Südkorea für das gelobte Land halten, werden diskriminiert. Das gilt besonders für die mit anderer Hautfarbe. Deren Integration gelingt nur schwer: 40 Prozent der multikulturellen Ehen werden wieder geschieden.

So wurde früher in Korea die Wäsche geglättet.
So wurde früher in Korea die Wäsche geglättet.

Immer wieder fragen Koreaner, wie Deutschland bis heute so wirtschaftsstark sein kann, nachdem es den verarmten Osten integriert habe. Da schwingt die Angst vor einer Wiedervereinigung mit dem abgeschotteten und hungernden Norden mit. Haben Deutsche nach 1989 wirklich von einem Ende der Ost-West-Konfrontation geträumt? In Südkorea ist der Kalte Krieg jedenfalls nie zu Ende gegangen. Es gibt keinen Friedensvertrag und keine durchlässige Grenze mit Nordkorea.

Und die Militärdiktatur von 1961 bis 1987 ist in Südkorea längst noch nicht aufgearbeitet. Christinnen und Christen warnen davor, dass ihr Land wieder autoritärer wird. Während Präsidentin Park Geun-Hye die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit aus den Schulbüchern streichen lässt, erinnert in Gwangju vieles an die blutige Niederschlagung der Proteste im Mai 1980, dem Jahr, als die Kirchenpartnerschaft von PROK und EKHN begann. Auf dem zentralen Freiheitsplatz erinnern Bungalows an Verhöre und Folter hunderter protestierender Studierender, Bürgerinnen und Bürger. Vermutlich über 2.000 Demonstranten, die vom 18. bis 27.Mai 1980 getötet wurden, wurden in schlichten Gräbern im Norden Gwangjus beigesetzt. Anfangs hatten rund 600 Studierende, denen später bis zu 200.000 Bürgerinnen und Bürger folgten, die Freilassung des Oppositionsführers Kim Dae Jung und die Abschaffung des Kriegsrechts gefordert. Im alten Stadtzentrum Gwangjus, wo presbyterianische Missionare ab 1900 Kirchen, Schulen, Waisen- und Krankenhäuser aufgebaut hatten, spendeten Menschen trotz der Feiertage Blut, und Ärzte behandelten Verletzte. In den zehn Tagen dauernden Protesten organisierten die Bürger sogar eine Kommission, die Verhandlungen mit der Regierung aufnahm. Doch schon während der Gespräche mit den Offizieren am 26. Mai 1980 war die Stadt umstellt. Diese forderten bedingungslose Unterwerfung. In den Morgenstunden des 27. Mai stürmten 20.000 Soldaten, Fallschirmspringer und Panzer die Stadt. Und so endeten die Proteste im Blutbad.

Besonders stark wurden die Demonstrationen für mehr Demokratie 1987, vor den Olympischen Spielen, die im Frühjahr 1988 in der Hauptstadt Seoul stattfanden. Sie führten zur Amnestie Kim Dae Jungs und einer gemeinsam von Regierung und Opposition ausgearbeiteten Verfassung. Trotz der Zersplitterung der Opposition wurde Kim Dae Jung 1997 sogar zum Präsidenten gewählt. Und einige der Verantwortlichen des Gwangju-Massakers wurden verurteilt. In Gwangjus Schulen und Kirchen wird die Geschichte der Proteste erzählt. Aber außerhalb der jährlichen Gedächtnisfeiern im Mai meidet nicht nur Präsidentin Park Geun-Hye den nationalen Märtyrer-Friedhof in Gwangju. „Bis heute glauben viele, die Aufstände seien vom kommunistischen Norden gegen die südkoreanische Regierung inszeniert worden“, erklärt Pfarrer Junn. Im fernen Deutschland nahm Präsidentin Park im März 2014 die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden entgegen: für die Zusammenarbeit von Südkorea und Sachsen - oder für das Verschweigen der südkoreanischen Vergangenheit?

Jeden Montag protestieren Atomkraftgegner gegen die Reaktoren von Hanbit.
Jeden Montag protestieren Atomkraftgegner gegen die Reaktoren von Hanbit.

Die Gemeinden der presbyterianischen Kirche (PROK) engagieren sich in unterschiedlichen sozialen Feldern: für Flüchtlinge, Migrantinnen, Erinnerungsarbeit und die Opfer der japanischen Besatzung. Es hängt vom jeweiligen Pfarrer, seltener einer Pfarrerin, und seinem Schwerpunkt ab. Denn in Südkorea sucht sich ein Pfarrer seine Gemeinde, die ihn über ihre Spenden auch bezahlt. Einer nimmt die Frauen und Männer aus Hessen mit zu den Montagsdemonstrationen, die seit fast drei Jahren wöchentlich in Gwangju stattfinden: „Für das Leben und die Schließung des nahegelegenen Atomkraftwerks Hanbit“, das bis zur Reaktorkatastrophe von Fukushima Yeonggwang hieß. Die bunte Gruppe aus Aktivistinnen des Frauennotrufs und atheistischen, christlichen und buddhistischen Atomkraftgegnern, die die 22 Kilometer zu den Reaktorblöcken immer zu Fuß zurücklegt, berichtet von regelmäßigen Zwischenfällen: Zwei Kuppeln des AKW mussten schon repariert werden; Überprüfungen ergaben über 600 Mängel und falsch eingebaute Teile. Letztes Jahr hätten über 3.000 Menschen für die Abschaltung der Atomkraftwerke demonstriert - das Vorbild ist der Atomausstieg Deutschlands. Doch derzeit kommen rund 30 Prozent des südkoreanischen Stroms aus den 21 AKW. Die Regierung rechnet mit einem steigenden Strombedarf und setzt auf den Ausbau der Atomkraft. Konzepte für Energieeinsparungen gibt es nicht.

Buddhistische Klosteranlage bei Gwangju.
Buddhistische Klosteranlage bei Gwangju.
Im Wattenmeer an der Suncheon Bay überwintert eine Vielzahl von Zugvögeln wie Mönchskraniche oder Schwäne.
Im Wattenmeer an der Suncheon Bay überwintert eine Vielzahl von Zugvögeln wie Mönchskraniche oder Schwäne.

Martin Franke (Text und Fotos)

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