Lärm entsteht im Kopf

Warum uns laute Geräusche quälen und verzücken können
Hans Georg Scholz (1890-1945): „Nächtlicher Lärm”, 1919. Öl auf Leinwand, 56,8 x 50,9 cm. Milwaukee, The Marvin and Janet Fishman Collection. Foto: akg-images
Hans Georg Scholz (1890-1945): „Nächtlicher Lärm”, 1919. Öl auf Leinwand, 56,8 x 50,9 cm. Milwaukee, The Marvin and Janet Fishman Collection. Foto: akg-images
Lärm ist kein neues Phänomen. Schon den Göttern der Sumerer war der Mensch zu laut, weshalb er in der Sintflut ertränkt wurde. Und im alten Rom beklagte Juvenal bereits den Lärm der Großstadt. Doch wann wird ein Geräusch zum Lärm? Die Journalistin und Autorin Sieglinde Geisel gibt einen Überblick.

Wasser kann tröpfeln, rauschen, tosen; der Wind pfeift, er versetzt Blätter und Bäume in Schwingungen. Tiere erzeugen ein riesiges Spektrum von Klängen - es reicht vom kaum hörbaren Piepsen einer Maus bis zum Gebrüll des Löwenmännchens, das mit dem Schall sein Revier markiert. Doch das alles ist kein Lärm. Die Natur kennt nur Geräusche, nicht einmal so laute Schallereignisse wie Donner oder Vulkanausbrüche kann man als Lärm bezeichnen. Denn zum Lärm wird ein Geräusch erst im Kopf eines Menschen. Lärm ist interpretiertes Geräusch. Bei der Frage nach dem schlimmsten Lärm ist zwar niemand um eine Antwort verlegen, doch selten nennen zwei Menschen das gleiche Geräusch. Denn in jedem Kopf wird etwas anderes zu Lärm.

Wer dem Phänomen des Lärms auf die Spur kommen will, muss deshalb beim Hörer anfangen. Ganz allgemein kann man sagen: Lärm ist Schall, der irgendjemanden stört, ängstigt, beunruhigt, ablenkt, aufregt oder nervös macht. Aufschluss bietet die Etymologie. Das deutsche Wort Lärm kommt von „Alarm“, dem alten italienischen Schlachtruf all’arme - „zu den Waffen!“ Die genaueste und knappste Definition lautet demnach: Lärm ist ein Geräusch, das irgendjemanden alarmiert. Die kriegerische Herkunft des Wortes kommt nicht von ungefähr. Gar nicht so selten greift tatsächlich jemand zur Waffe, weil er sich durch den Lärm des Nachbarn gestört fühlt. Und auch Lärm kann zur Waffe werden.

Dass wir durch Geräusche alarmiert werden, liegt daran, dass unser Ohr ein Alarm-Organ ist. Von ihm hängt in freier Wildbahn maßgeblich das Überleben ab, denn bevor ein Feind zu sehen ist, ist er in der Regel zu hören. Das ist auch der Grund dafür, dass wir die Ohren, anders als die Augen, nachts nicht schließen können, so gern wir das manchmal täten. Auch in der Nacht wird ein ungewohnter Laut augenblicklich dem Gehirn gemeldet. Noch bevor man überhaupt weiß, was man gehört hat, schießt einem das Blut in den Kopf, das Herz rast und man sitzt hellwach im Bett, bereit zu Kampf oder Flucht.

So hilfreich dieser Mechanismus in der Wildnis auch ist - im modernen Leben quält uns das Ohr ständig mit Fehlalarm. In der Regel kündigt der Lärm keine Feinde mehr an, stattdessen Flugzeuge, Pressluftbohrer oder Hunde. Allenfalls im Straßenverkehr vermag uns das Ohr noch vor Unheil zu bewahren, vorausgesetzt allerdings, wir bewegen uns ohne Kopfhörer durch die Stadt. Weil das vegetative Nervensystem auf Lärm jedoch immer noch nach dem Muster unserer Vorfahren reagiert, können uns aber selbst die harmlosesten Geräusche massiv unter Stress setzen, ganz so, als ginge es jedes Mal um Leben und Tod.

Lärm muss nicht laut sein, um uns zum Wahnsinn zu treiben. Ein tickender Wecker, das Tropfen eines Wasserhahns oder das gedämpfte Geräusch des Fernsehers aus der Nachbarwohnung genügen durchaus. Umgekehrt können laute Geräusche mitunter ein Gefühl der Ruhe vermitteln. So würde etwa kaum ein Wanderer das Rauschen eines Gebirgsbachs als Lärm bezeichnen, selbst wenn es in Dezibel gemessen so laut ist wie der Verkehr auf einer Autobahn. Der Kopf des Wanderers macht aus dem Rauschen des Gebirgsbachs etwas anderes als aus dem einer Autobahn. Bei der Frage, ob wir ein Geräusch als Lärm empfinden, spielt nämlich seine Ursache eine wichtige Rolle. Ein Geräusch, dessen Notwendigkeit wir einsehen, ertragen wir leichter als ein Geräusch, das wir für willkürlich halten. „Ich bin außerordentlich empfindlich gegen alles Getöse, allein es verliert ganz seinen widrigen Eindruck, sobald es mit einem vernünftigen Zweck verbunden ist“, schrieb schon der Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Ein Geräusch, das wir verstehen, verliert sein Alarmpotenzial, deshalb wird es vom Gehirn nicht mehr im gleichen Maß als Lärm klassifiziert.

Soziales Phänomen

Doch nicht die Ursache allein bestimmt, ob wir ein Geräusch als Lärm empfinden. Auch unsere innere Einstellung zur Quelle des Geräusches spielt eine Rolle. Lärm ist eine Beziehungsangelegenheit: „Geräusch anhören ist: an fremdem Leben teilnehmen“, stellte der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890-1935) fest. Können wir die Nachbarin nicht ausstehen, heult ihr Rasenmäher in unseren Ohren lauter, als wenn wir ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Und das Klavierüben des Nachbarn stört uns weniger, wenn wir wissen, dass unsere Bitte um Ruhe im Notfall erhört wird. Denn je weniger Kontrolle man über ein Geräusch hat, desto größer die Qual.

Lärm ist ein soziales Phänomen: Er kommt in der Regel von unten. Über die Geräusche von Bauarbeitern, Saufbrüdern, Straßenmusikern, Motorradfahrern und Halbstarken empören wir uns leicht. Weil sie in der sozialen Hierarchie unten stehen, müssen wir ihren Schall nicht hinnehmen. Die Geräusche der Mächtigen dagegen sind per definitionem kein Lärm. Da sie die herrschende Ordnung bestätigen, alarmieren sie niemanden. Sie haben den Anschein der Legitimität.

Diese Dynamik lässt sich schon in alten Mythen finden. Gegenüber den Göttern ist der Lärm der Menschen ein Sakrileg, sie haben kein Recht, die Ruhe der Götter zu stören. So wird etwa die Sintflut in einer mesopotamischen Überlieferung als Folge eines Lärmkonflikts zwischen Göttern und Menschen dargestellt. Der sumerische Mythos von Atrahasis geht auf die Zeit von 1800 vor Christus zurück. Während im Gilgamesch-Epos der einzige Überlebende der Flut Utnapishtim heißt, ist es hier der weise Atrahasis, der durch die Warnung eines Gottes der Flut entgeht - beide Figuren sind Vorläufer von Noah im Alten Testament. Nach dem Mythos von Atrahasis mussten die Götter ursprünglich alle harte Arbeit selbst verrichten. Sie erhoben sich gegen den Gott Ellil, der seinerseits die großen Götter anrief. Zur Lösung des Konflikts schuf die Muttergöttin Sterbliche, die von da an die mühseligen Arbeiten für die Götter verrichteten. Zu Beginn waren es je sieben Männer und Frauen, doch mit der Zeit wurde daraus ein großes Volk. Mit der Zahl der Menschen wuchs jedoch der Lärm, und Gott Ellil wurde es zu laut.

Sechshundert Jahre, weniger denn sechshundert vergingen,

Das Land wurde zu weitläufig, zu zahlreich das Volk.

Das Land lärmte wie ein schnaubender Stier.

Der Gott wurde ruhelos wegen des Getöses,

Ellil musste ihr Lärmen anhören.

Er wandte sich an die großen Götter:

„Das Lärmen der Menschheit ist zu groß geworden,

Ich verliere Schlaf über ihrem Getöse.“

Mit ihrem Lärmen hatten die Menschen ihre Kompetenzen gegenüber jener Macht überschritten, die sie erschaffen hatte, ähnlich wie beim Turmbau zu Babel. Ellil schickt den Menschen Seuchen, Dürren und Hungersnöte, doch damit mindert er nicht ihren Lärm, sondern nur ihre Arbeitskraft. Deshalb beschließt Ellil, alles in einer Sintflut zu ertränken. Wie der sumerische Sintflut-Mythos erzählt, geht es dabei nicht nur darum, die Menschen zu ertränken, sondern auch darum, sie zu übertönen:

Die Flut brüllte wie ein Stier,

Wie der Schrei des Wildesels war das Heulen der Stürme,

Dunkelheit war überall, es war keine Sonne.

Durch den Schall bezeugt Gott Ellil seine Macht: Lärm wird mit Lärm vergolten, und wer die anderen zum Schweigen bringt, herrscht über die Welt.

Hartnäckig hält sich der Glaube, die Welt sei noch nie so laut und lärmig gewesen wie heute. Doch wie laut es in früheren Zeiten war, können wir nicht wissen, denn Lärm hinterlässt keine archäologischen Spuren, und vieles deutet darauf hin, dass die Menschen schon immer unter dem Lärm ihrer Mitmenschen gelitten haben. Im alten Rom etwa muss ein unvorstellbarer Lärm geherrscht haben. Der Dichter Horaz (65-8 v. Chr.) hat uns davon in den Episteln ein beeindruckendes literarisches Zeugnis hinterlassen: „Da kommt mit brennendem Kopf ein Bauunternehmer daher gerannt mit seinen Maultieren und Lastträgern, Krane ziehen hier einen Steinblock, dort einen riesigen Balken in die Höhe, düstere Leichenzüge kämpfen mit schweren Lastfuhrwerken, hier läuft ein tollwütiger Hund, dort stürzt ein schmutziges Schwein heran. So, jetzt geh hin und sinne in deinem Inneren auf wohlklingende Verse!“ Die Dritte Satire von Juvenal (60-127 n. Chr.) handelt von den Übeln des Großstadtlebens, auch er berichtet vom Lärm. „Wagen biegen in scharfer Wendung um die Straßenecken, die Treiber schimpfen laut, wenn ihre Herde nicht weiter kann - all das würde einem Drusus oder einem Meerkalb den Schlaf rauben.“

Nicht zufällig spricht Juvenal vom Schlaf. In Rom waren die Nächte möglicherweise lauter als die Tage, denn weil die Straßen tagsüber hoffnungslos mit Menschen verstopft waren, wurden zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sämtliche Vehikel aus der Stadt verbannt, mit der Ausnahme von Baukarren und Leichenwagen. Der gesamte Reise- und Handelsverkehr fand in den Nachtstunden statt. „Hier sterben viele, weil Schlaflosigkeit sie krank gemacht hat (...), in welcher Mietwohnung kann man schlafen? Sehr reich muss man sein, um in Rom schlafen zu können.“ Nur die Reichen konnten sich eine Villa mit Garten und somit Abstand zum Straßentreiben leisten.

Die früheste Lärmtheorie stammt denn auch vom römischen Philosophen Seneca (1-65 n. Chr.). Um herauszufinden, ob der Lärm seine Denkfähigkeit tatsächlich beeinträchtigt, unternimmt er im römischen Badeort Baiae einen Selbstversuch, einem der lautesten Orte im Römischen Reich. Seneca zieht zwei Schlussfolgerungen: Erstens sei die menschliche Stimme schlimmer sei als jedes andere Geräusch, und zweitens seien Geräusche, deren Lautstärke wechselt, störender als gleichmäßige Klänge. Seneca wappnet sich, wie es sich für einen Stoiker gehört, gegen den Lärm seiner Umgebung durch Konzentration. Ein Mann von großem Geist könne zwar gegen den Lärm bestehen, so sein Befund, doch ziehe er es vor, sich an einen ruhigeren Ort zu begeben.

Jeder technische Fortschritt bringt neue Geräusche in die Welt. Doch gleichzeitig lässt er Geräusche verschwinden. Die Städte des Mittelalters waren voll von Klängen, die wir nicht mehr kennen: das Hämmern des Schmieds, das Klappern der Mühlen, das Poltern eisenbeschlagener Räder und Fässer auf den Pflastersteinen, das Blöken, Quieken und Bellen von Tieren, die frei auf der Straße herumliefen - und schließlich das Gebrüll der Marktschreier, die den ganzen Straßenlärm übertönen mussten, wenn sie ihre Ware verkaufen wollten.

Abgrenzen durch Schweigen

Ob sich die Stadtbewohner damals nach Stille sehnten? Wir wissen es nicht, denn über den Lärm früherer Epochen gibt es erstaunlich wenige Zeugnisse. Senecas Lärm-Theorie stammt aus dem Jahr 62 nach Christus, und es sollte fast 1800 Jahre dauern, bis sich wieder ein Philosoph des Themas Lärm annahm. Anders als Seneca redet Arthur Schopenhauer (1788-1860) Mitte des 19. Jahrhunderts der Lärmempfindlichkeit das Wort. Für das entstehende Bürgertum wurde das Schweigen zum Distinktionsmerkmal, man grenzte sich damit ab von den lauten Fuhrleuten und Handwerkern. In der Zeit der Industrialisierung begann der Kampf gegen den Lärm, der seither nicht mehr aufgehört hat. Dass man den Schall seit den Zwanzigerjahren akustisch messen kann, hat das Problem nicht gelöst, denn wirklich dingfest machen lässt sich der Lärm auch mit Lärmkarten und Grenzwerten nicht. Wie wir gesehen haben, gehören immer zwei dazu: ein Geräusch, und ein Bewusstsein, das sich von diesem Geräusch gestört fühlt. Welcher Lärm wen warum stört und wie sehr - das ist von vielen Faktoren abhängig, die sich nicht beherrschen lassen. Jede Gesellschaft muss bis zu einem gewissen Grad mit ihrem eigenen Lärm leben lernen. Immerhin hat der Komponist und Buddhist John Cage (1912-1992) für alle Lärmgeplagten einen Rat: „Wenn ein Lärm Sie stört, hören Sie ihm zu.“

Literatur

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille. Galiani-Verlag, Berlin 2010, 176 Seiten, Euro 16,99.

mehr zum Thema

Sieglinde Geisel

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"