Bitte nicht überreagieren

Das Konzept des Bildungspolitikers Kurt Edler für islamistische Jugendliche
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Deutschland erlebt seit einiger Zeit eine ungewöhnliche Polarisierung und zugleich eine eigentümliche Hilflosigkeit, mit ihr umzugehen. Wie begegnet man zum Beispiel islamistischen Jugendlichen in der Schule? Wie spricht man über sie? Der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, ist auf einen vielversprechenden Ansatz gestoßen.

Die Angst vor dem Islamismus ist der Verkaufsschlager der Rechtsextremen und Rechtspopulisten. Doch dem begegnet man nicht, indem man die Sachfrage kleinredet. Lauwarme Relativierungsversuche von Wohlmeinenden steigern eher die Polarisierung. Wie also findet man eine Mitte zwischen Diskriminierung und Verharmlosung, eine gesellschaftliche Mitte, die das Eigene und das Fremde in ein rechtes Verhältnis setzt?

Wertvolle Hinweise liefert ein ganz unscheinbar daherkommendes pädagogisches Fachbuch. Kurz und bündig, dabei konzeptionell durchdacht und von langer Lehrerlebenserfahrung durchtränkt, zugleich geistreich und elegant geschrieben, bietet es alles, was man zum Islamismus als pädagogischer und gesellschaftlicher Herausforderung wissen muss (Kurt Edler: Islamismus als pädagogische Herausforderung, W. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2015, 114 Seiten, 22,99 Euro). Deshalb ist es nicht nur ein Buch für Lehrer, sondern jedem Pastor, jeder Journalistin, allen Bürgern zu empfehlen. Geschrieben hat es Kurt Edler, der bis 2016 das Referat „Gesellschaft“ am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg geleitet hat. Er gehörte zu den Mitbegründern der Grünen der Hansestadt und ist derzeit Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik“.

Testfall für Schulkultur

Islamistische Radikalisierung bei Jugendlichen ist kein Massenphänomen, aber ein signifikantes Problem. Ohne eine islamistische Überwältigung zu beschreien, muss man sie als einen Testfall für die Schulkultur und für den Umgang der Gesellschaft mit Integrationsproblemen ernst nehmen. Dabei geht es noch gar nicht um terroristische Gefahren. Es genügt der alltägliche Kleinkrieg in manchen Schulen um Gebetszeiten und -räume, Feiertage und Speiseverbote, Kleidung für Mädchen, Sportunterricht und Klassenfahrten.

Edler bietet zunächst die nötigen Informationen. Dabei zeigt er, dass man über ein solch emotionsbeladendes Thema sehr wohl eine sachliche Debatte führen kann - und zwar so, dass man die nötige Differenzierung mit der ebenso nötigen eigenen Positionierung verbindet. Dabei beweist Edler, der sich im Gespräch als „nicht-materialistischen Atheisten“ beschreibt, ein nicht eben übliches Urteilsvermögen in Sachen Religion - das macht ihn zu einem anregenden Gesprächspartner für die evangelische Theologie und Kirche.

Man ist zunächst überrascht, welches Interesse an Theologie Edler an den Tag legt. Aber genau darin liegt ja das Hauptdefizit und -merkmal der Islamisten: Sie lehnen das theologische Nachdenken über den eigenen Glauben, die Sinngehalte ihrer heiligen Schriften, ihr Verhältnis zu den Traditionen ihrer Religion ab. Diese Reflexionsverweigerung ist ein zentrales Problem. Denn Religion kann nur dann positive Wirkungen entfalten, ihre Gewaltpotentiale können nur dann begrenzt werden, wenn man über sie je für sich und im Gespräch nachdenkt. Deshalb plädiert Edler dafür, „Religion als Bildungsgegenstand“ zu betrachten. Nicht zuletzt, um religiösen Fehlorientierungen zu begegnen, fordert Edler, „die Religion in die Schule zu holen“. Der französische Laizismus, so Edler, biete keine Lösung, denn er behandle die islamistische Radikalisierung von Schülern nur als polizeiliches Thema, ohne es pädagogisch-diskursiv in der Schule selbst zu bearbeiten. Das bundesrepublikanische Modell, das Staat und Kirche unterscheidet, um sie aufeinander zu beziehen, eröffne mehr Chancen. Dafür müsse man es aber stärker für die neue Pluralität öffnen. Auch hier müsse die Schule lernen, dass sie nicht allein auf der Welt sei und dass es besser wäre, die Grundfragen des Lebens und Lernens gemeinsam mit wichtigen gesellschaftlichen Kräften zu bearbeiten. Und dazu gehören nicht nur, aber auch die Kirchen. Ein Beispiel, wie es gelingen kann, sei der Hamburger „Religionsunterricht für alle“, der die Schüler gerade in diesem Fach zusammenführt. Verfassungsrechtlich ist er immer noch mit Problemen verbunden, pädagogisch aber erscheint der Abschied vom „monokulturellen Religionsunterricht“ als Gebot der Stunde.

Edler hat einen zu klaren Blick für die Jugendlichen in ihrer Lebenssituation, um den Fehler zu begehen, den juvenilen Religionsradikalismus nur als religiöses Phänomen zu betrachten. Dschihadismus ist eine Gestalt von Jugendkultur - damit verbinden sich verschiedene Aspekte. Zum einen die adoleszente Radikalität, denn „Identitätsbildung braucht negatorische Phasen“. Die Faszination des Bösen und die Lust an (männlicher) Gewalt können hinzutreten. Dies nimmt eine ungeheure Dynamik an, wenn sich ein fatales Wechselspiel zwischen Diskriminierung und Selbstisolierung einstellt. Schüler mit Migrationshintergrund erleben massiv und massenhaft „Kränkung durch Ausgrenzung“ und können darauf mit Integrationsverweigerung reagieren. Aber es sind nicht nur die Abgehängten, die zur Beute des Islamisten werden, sondern auch vermeintlich erfolgreich Integrierte. Denn es ist kein Widerspruch, sondern bittere Erfahrung, dass Ausgrenzungsempfindungen mit fortschreitender Integration zunehmen. Je mehr man dazugehört, umso schmerzlicher erfährt man, dass man doch nicht ganz dazugehört.

Damit verbindet sich, so Edler, dass der Islamismus immer auch ein Generationenkonflikt ist. Die Eltern und Großeltern, die nach Deutschland gekommen waren, hatten kaum Ansprüche, waren bescheiden. Aber ihre Kinder und Enkel kennen mehr und wollen mehr. Umso allergischer reagieren sie, wenn ihnen Teilhabe verweigert wird. Hinzu tritt eine religiöse Differenz. Radikalisierte Jugendliche kommen fast nie aus einem religiös aktiven und instruierten muslimischen Elternhaus. Am Beginn ihrer Konversion stünde oft die schockartige Einsicht: „Mein Vater ist gar kein richtiger Muslim“. Die adoleszente Verachtung der Alten richtet sich auch gegen die Imame, die alt sind, kein Deutsch können, in ihren Traditionen gebunden sind und keinen Zugang zu den jungen Leuten finden. Wenn man mit Edler hierüber spricht, merkt man schnell, dass er auch deshalb hierfür ein so sicheres Gespür für hat, weil er auf eine eigene Radikalitätsgeschichte zurückblickt (Abitur 1968).

Natürlich darf man den Links-extremismus damals und den Islamismus heute nicht gleichsetzen, aber es gibt einige Parallelen: Ganz so unerhört neu ist die heutige Radikalisierung von Jugendlichen nicht. Der große Unterschied ist, dass jetzt Religion einen entscheidenden Faktor darstellt. Mit nichts anderem können Schüler ja ihre Lehrer so provozieren und verunsichern. Denn die heutige Lehrergeneration hat kaum eigene religiöse Kenntnisse, Erfahrungen und Einstellungen.

Nachdenken über sich selbst

Was also soll man tun? Zum Glück stellt Edler kein Maßnahmenpaket zusammen. Stattdessen leitet er zu einer Besinnung der Lehrer über sich selbst an. Sie müssten an ihrer Haltung arbeiten, indem sie sich - gut protestantisch, wie man sagen könnte - die Grundfragen nach ihrem Berufsethos stellen: Warum bin ich Lehrer geworden? Was ist mein Bild einer guten Schule? Welchen Beitrag leistet meine pädagogische Arbeit über die Schule hinaus für die Gesellschaft? Was ist überhaupt mein Bild einer guten Gesellschaft? Was ist meine „innere Republik“? Diese Fragen, auf die jeder Lehrer eine Antwort haben müsste, um seine ganz normale Arbeit tun zu können, scheinen in letzter Zeit aus dem Blick geraten zu sein. Edler schreibt: „An einer Lehrergeneration von - sagen wir - heute vierzig Jahren sind mehrere Generationen von unpolitischen, konsumistischen und privatistischen Jugendlichen vorbeigezogen, die vielleicht lernunwillig waren, aber gewiss nicht aufmüpfig und schon gar nicht politisch unheimlich.“

Umso wichtiger ist es nun, dass Lehrer jetzt von neuem ihr Berufsethos klären. Dafür aber muss sich die Schule, in der sie arbeiten, wieder als Demokratie- und Sinn-Einrichtung verstehen. Die offiziell beförderte pisa-Schule, die keine offenen politischen Debatten will, sondern pedantisch Leistungen misst, die keinen Sinn für Sinnfragen hat, sondern nur an employability (Beschäftigungsfähigkeit) interessiert ist, taugt dazu nicht. Doch Edler ist nicht ohne Hoffnung. Die akuten Konflikte würden das Bewusstsein für die eigentlichen pädagogischen Aufgaben wecken. Die Auseinandersetzung mit dem Islamismus sei auch keine neue Aufgabe, die für die Schule noch hinzukäme, sondern nur eine besonders virulente Gestalt ihrer ureigenen Aufgabe: ethisch-religiöse Urteilsbildung befördern, Sinnfragen besprechen, Demokratie einüben. Edler fordert von Lehrern „Grundrechtsklarheit“. Jede pädagogische Fachkraft sollte in der Lage sein, die Grundsätze des demokratischen Verfassungsstaats zu erläutern und zu verteidigen (deshalb sollten sie regelmäßig die ersten Seiten des Grundgesetzes nachlesen). Und zwar nicht nur der Sozialkunde- und Religionslehrer, sondern auch die Sport- oder Chemielehrerin. Wachsam, entschlossen und konfliktbereit sollten sie nicht nur bei Autoritätsproblemen reagieren, sondern auch gegen „horizontale Menschenrechtsverletzungen“, wie das religiöse Mobbing von Mädchen, vorgehen. Dazu gehöre übrigens - wenn nötig - die Zusammenarbeit mit den Organen des Rechtsstaates.

Zugleich aber warnt Edler davor, den Streit nur autoritär-disziplinarisch zu bearbeiten. Die demokratische Schule müsse eine zugewandte Institution bleiben, die nicht mit Beschämung arbeite. Die Ärgernisse um Gesichtsverhüllungen und Gebetsräume ließen sich nicht wie Verwaltungsakte behandeln, sondern seien immer auch Anlässe, sich zu begegnen und notwendige Konflikte auszutragen. Dabei müssten Schulleitung und Lehrer die notwendigen Grenzen setzen und halten. Das ist nicht leicht. Nicht selten fehlt es an Rückendeckung durch Schulbehörde und Politik. Ein gewisser Nachteil mag auch darin liegen, dass man in den vergangenen Jahren sehr viel an Streitschlichtungstechniken eingeübt hat, vielleicht zu viel. Denn hier geht es nicht um Aushandlungspartnerschaft, sondern um die Verteidigung nicht verhandelbarer Grenzen, wie sie im Grundgesetz klassisch formuliert sind.

Doch bei aller Klarheit und Strenge dürfe man nie überreagieren. Auch im Konflikt mit jungen Islamisten gelten die Regeln für den Umgang mit Schutzbefohlenen: „Kontrolle der eigenen Gefühle, respektvoller Umgang, Analyse des Einzelfalles, taktvolle Motiv-Erkundung, Klärung einer möglichen Konfliktlage auf der Basis der Gesetze und der Hausordnung, angemessene Maßnahmen im Falle eines Regelverstoßes, aber bei allem das Intakthalten der pädagogischen Beziehung. Vor allem sollte auf Lehrerseite wahrnehmbar sein, was kein Gesetzgeber erzwingen kann: Freundlichkeit, Gelassenheit, Geduld und Humor.“

Das ist die schönste Pointe von Edlers Buch: die Hervorhebung des Humors. „Unser Thema ist verteufelt ernst. Ohne Humor lässt es sich gar nicht aushalten. Vergessen wir nicht, dass Humorlosigkeit ein sicheres Kennzeichen von politischem und religiösem Fundamentalismus ist. Prinzipienfestigkeit in der Auseinandersetzung mit diesem schließt nicht aus, dass wir selbst heiter und gelassen bleiben.“ Humor bricht Härten auf, führt neu in die Beziehung. Von der Bedeutung eines solchen Humors in der pädagogischen Integrationsarbeit hat man bisher viel zu selten gehört. Dabei ist er die beste Medizin gegen Fundamentalismus, Ausgrenzung und Selbstisolierung.

Bester Impfstoff

Klassische Lehrertugenden wie Geduld, Gerechtigkeit und Humor sind eine Voraussetzung dafür, dass Jugendliche einen Weg aus ihrer religiösen Radikalisierung finden können oder gar nicht erst hineingeraten. Denn sie eröffnen eine Beziehung, in der Kinder und Jugendliche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit machen können: Ich bin etwas wert, ich gehöre dazu, ich kann etwas verändern, die anderen stehen hinter mir. Solche Erfahrungen sind der beste Impfstoff gegen Radikalisierung. Er müsste eigentlich schon im Kindergarten und in der Schule ausgegeben werden.

Edlers Buch ist in der Lehrerschaft, der Politik, der Schulbehörde und bei kirchlichen Kooperationspartnern positiv aufgenommen worden. In eine falsche Ecke wurde der Autor nicht geschoben. Vielmehr hat er die Erfahrung gemacht, dass man über den Islamismus in Deutschland so sprechen kann: sachlich und engagiert, differenziert und mit „Grundrechtsklarheit“. Vielleicht sind wir in Deutschland ja doch nicht so hilflos angesichts vielfältiger Polarisierungen, wie wir gelegentlich meinen.

Literatur

Kurt Edler: Islamismus als pädagogische Herausforderung. W. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2015, 114 Seiten, 22.99 Euro.

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Johann Hinrich Claussen

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