Sand im Getriebe

Klartext
Foto: privat
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Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für Mai und Juni stammen von Jutta Schreur. Sie ist Pfarrerin in Berlin.

Gestörte Ruhe

KANTATE, 14. MAI

Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien und sagten: „Hosianna dem Sohn Davids!“, entrüsteten sie sich. (Matthäus 21,15)

Auch vor der Kirche, in der ich Gottesdienst halte, sitzen bettelnde Männer und Frauen, oft aus Südosteuropa. Meistens mit einem Pappbecher, in die die Gottesdienstbesucher Münzen werfen sollen. Ab und zu dringt eine oder einer nach dem Gottesdienst sogar in den Kirchraum vor und bedrängt die Besucher mit Geschichten vom kranken Kind oder dem Verweis auf eigene Gebrechen. Das führt leicht zu Misstönen, wenn die Pfarrerin oder die Gemeindekirchenräte, die Kirchdienst haben, die Lage nicht mit diplomatischen Worten entschärfen können. Misstöne gibt es auch, wenn Gottesdienstbesucher die Bekleidung derer, die den Kirchdienst versehen, als unangemessen empfinden. Oder wenn Kinder im Gottesdienst lebhaft und laut werden.

Ähnliches ist im Tempel passiert, erzählt Matthäus. Jesus hat sich an den Händlern und Geldwechslern gestört, am Klappern und Klimpern der Münzen, das die Gebete übertönt. Und er hat die Geschäftemacher aus dem Tempel geworfen. Die Bettler aber, Gelähmte und Blinde, die vor dem Tempel um Almosen baten und zu ihm kamen, hat er geheilt. Daran und an den Kindern, die darauf mit Jubelgeschrei reagierten, haben sich wiederum die Schriftgelehrten und Hohepriester gestört, wie am ganzen Auftreten Jesu.

Gottesdienst, Gotteslob und das wirkliche Leben scheinen mitunter schwer zusammenzupassen. Es wird eben nicht gern gesehen und gehört, was die Ruhe und Ordnung stört. Gerade das hat Jesus aber immer wieder getan – und ist dafür gekreuzigt worden. Er hat Sand ins Getriebe gestreut, wie bei der Tempelreinigung. Jesus hat die öffentliche Ordnung gestört mit Heilungen am Sabbat, seinen Reden und öffentlichen Auftritten. Gottesdienst und Alltag sollten gerade nicht länger zwei getrennte Bereiche sein, weil ein Gotteslob, das im Alltag keine Bedeutung hat, hohl ist.

Dies ist kein gefälliger Text für den Sonntag Kantate. Aber er macht Dissonanzen deutlich, die auch wir kennen. Der Beter übrigens, der sich im Psalm 27 nach „den schönen Gottesdiensten des Herrn“ sehnt, meint damit keine harmonischen und ungestörten feierlichen Veranstaltungen. Vielmehr wünscht er sich, in der Not die Freundlichkeit Gottes zu erleben.

Überwundene Scheu

ROGATE, 21. MAI

Bittet, so wird euch gegeben. (Lukas 11,9)

Ich habe den Spruch ausgewählt, weil er zeigt: Wenn man um etwas kämpft oder sich um etwas bemüht, kriegt man es auch. Darum sollte man nie aufhören, sich um etwas zu bemühen. Und man sollte keine Angst haben, um etwas zu bitten.“ So erklärte einer unserer Konfirmanden, warum er diesen Satz zur Einsegnung ausgesucht hat. Er versteht das Gebet als etwas, bei dem die Betenden selbst aktiv werden, damit ihr Anliegen in Erfüllung geht.

Zu einem aktiven Gebet ermutigt die Geschichte, die Jesus erzählt. Der bittende Freund tritt nicht leise und bescheiden auf, er ist vielmehr fordernd und macht sich laut bemerkbar. Beinahe unverschämt drängend bittet er um Brot, zu unchristlicher Zeit, mitten in der Nacht.

Brot steht für alles, was wir zum Leben brauchen, für das, was uns wirklich wichtig ist. Und die Mitternacht symbolisiert die Zeiten von Angst und Bedrohung. Die Nacht, das ist ja die Zeit, in der uns die Probleme einholen, die sich tagsüber noch verscheuchen lassen. Gut ist dann der dran, der eine Tür kennt, an die er oder sie klopfen kann, und die sich öffnet, zu welcher Zeit auch immer.

Gut ist es, um etwas bitten zu können. Letzteres fällt den meisten Menschen viel schwerer, als anderen Hilfe anzubieten. Die eigene Bedürftigkeit einzugestehen, sich selber oder anderen, fällt schwer. Kaum jemand wagt es, so aktiv und ohne Scheu zu bitten, wie der Freund im Gleichnis. Das erfordert Mut.

„Man sollte keine Angst haben, um etwas zu bitten“, hat jener Konfirmand gesagt und Jesus damit richtig verstanden. „Wenn man um etwas kämpft oder sich um etwas bemüht, kriegt man es auch. Darum sollte man nie aufhören, sich um etwas zu bemühen.“

Neue Wege

EXAUDI, 28. MAI

Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. (Johannes 7,38)

Das war sehr erfrischend“, sagt man, wenn jemand sich unkonventionell verhalten oder eine Rede gehalten hat, deren Form ungewöhnlich war und deren Inhalt überrascht hat. Oder wenn jemand neue Wege einschlägt, alte Muster aufbricht und andere Möglichkeiten aufzeigt. Oder wer in seinem Metier etwas Neues wagt und überkommene Traditionen und Rituale hinterfragt, Gedanken jenseits des Mainstreams äußert und neue Ausdrucksmöglichkeiten sucht, die andere inspirieren und begeistern. In Malerei, Musik und Literatur haben so Epochen begonnen, aber auch in Philosophie, Theologie, Naturwissenschaften und in der Politik.

Als einer, der so erfrischend anders, neu denkt und handelt und mit seiner Begeisterung andere ansteckt, begegnet uns Jesus in den Evangelien. Johannes stellt ihn uns ganz ausdrücklich so vor. Aber eben nicht nur Jesus, sondern auch diejenigen, die sein Vermächtnis weitertragen und von seinem Geist beseelt sind.

An diesem Sonntag endet der Kirchentag in Wittenberg. Von diesem kleinen Städtchen ist eine große Inspiration ausgegangen, weil ein Einzelner etwas riskierte und neu zu denken wagte.

Kirchentage bieten traditionell die Gelegenheit, Initiativen vorzustellen, die neue Wege gehen. Und zugleich haben sie, wie die gesamte Kirche der Reformation, längst ihre Routinen und Rituale entwickelt. Das droht ja jeder neuen Denkrichtung, Initiative, Bewegung – irgendwann wird sie unbeweglich, ist nicht mehr frisch und lebendig, sondern schal geworden wie abgestandenes Wasser.

Der Wittenberger Reformator wusste um diese Gefahren und sprach von einer Kirche, die sich ständig erneuern muss, auf Latein: ecclesia semper reformanda, um lebendig zu bleiben. Ob der Kirchentag zu seinen Ehren so erfrischend anders war, dass Neues in Fluss kommt? Die kommenden Monate und Jahre werden es zeigen.

Mut zum Aufbruch

PFINGSTSONNTAG, 4. JUNI

Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit. (Johannes 16,8)

Hier ist keine Rede von schwungvollem Aufbruch und pfingstlicher Begeisterung, der Ton ist vielmehr auf Moll gestimmt. Denn es geht um schwierige Zeiten und schwierige Themen. Mit der Abschiedsrede, die er Jesus in den Mund legt, spricht der Verfasser des Johannesevangeliums der Gemeinde, die bedroht ist und verfolgt wird, Mut zu. Und er tut das, ohne die Dinge zu beschönigen. Denn es sind unbequeme Wahrheiten, die der Heilige Geist aufdeckt, wenn er Menschen die Augen öffnet: Über sich selbst, über ihr Miteinander und die Machtverhältnisse in der Welt. Wie Jesus werden Christen auf Ablehnung stoßen, wenn sie - von seinem Geist geleitet – über das sprechen, was Menschen von einander und von Gott trennt, wenn sie Ungerechtigkeit beim Namen nennen.

Aber zugleich hat der Evangelist die Erfahrung gemacht, dass der Geist Jesu tröstet und ermutigt. Dieser Trost liegt in der Gewissheit, dass das letzte Wort in der Welt nicht die zerstörerischen, trennenden Kräfte haben werden, sondern diejenigen, die für das Miteinander, das Verbindende eintreten und die mit den Ohnmächtigen solidarisch sind. So, wie es Jesus vorgelebt hat und wie es die Jünger in seinem Geist weitertragen.

Das Pfingstereignis war ein solcher Punkt, an dem in Jerusalem „der Welt“, Menschen aus verschiedenen Ländern, die Augen und Ohren aufgetan wurden und sie die verbindende Kraft dieses Geistes erlebten, eine Verständigung über Grenzen von Sprache und Nation hinweg. Vielleicht haben in diesem Jahr Viele ihr Pfingstfest schon vor dem kalendarischen Termin erlebt, in der vorletzten Woche beim Kirchentag, und sie nehmen diese Erfahrung und die Kraft zu neuen Aufbrüchen mit in den Alltag – so wie es die Jünger getan haben.

Frei von Lasten

TRINITATIS, 11. JUNI

Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand... und rührte meinen Mund an. (Jesaja 6,6)

Vor einiger Zeit war es in Managerseminaren eine beliebte Übung, über glühende Kohlen zu laufen wie das Schneewittchens böse Stiefmutter tat. In seiner modernen Version ist dieser Kohlenlauf freilich nicht als Strafe gedacht, sondern als Mutprobe. In diesem archaisch anmutenden Ritual hat sich etwas von der reinigenden Kraft des Feuers erhalten: Wer die Mutprobe besteht, hat es geschafft, sich von Ängsten und alten Lasten zu befreien. Es geht um die Konzentration auf den einen Weg, auf den sich alle Aufmerksamkeit richten soll. Dafür wird der ganze Wille mobilisiert.

Die Bilder Jesajas wecken Assoziationen zu Bildern, die aus Hollywoodfilmen bekannt sind, etwa der Star-Wars-Serie. Auch dort eine ferne, fremde Welt voller seltsamer und großartiger Wesen, gespalten im Kampf zwischen Gut und Böse. Aber über allem waltet eine unfassbare, unsichtbare Macht.

Die Bilder des Jesaja sind Bilder der Seele, die seit jeher in den Menschen wirken und mit denen sie Antwort auf ihre Fragen suchen: Woher komme ich? Wer bin ich? Was ist mein Auftrag, was ist der Sinn meines Lebens hier?

Die Konfrontation mit diesen Fragen und die Begegnung mit dem Heiligen ist immer auch eine Begegnung mit mir selbst. Sie kann unheimlich sein und erschrecken. Denn ich erkenne mich selbst, meine Schwächen und Fehler, die ich sonst zu verstecken suche. Aber dann gibt es einen Punkt im Leben, an dem das nicht mehr geht. Es kann eine Krise sein, die mich aus der gewohnten Bahn wirft, eine besondere Begegnung, die mich an meine Grenzen führt. Bei Jesaja ist es die Krise seines Landes, die er mit und stellvertretend für die durchleidet, die nicht hören und sehen wollen. Aber Jesaja findet durch das Reinigungsritual die Konzentration für seinen Weg.

Jutta Schreur

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