Fremde, ehrwürdige Relikte

Über vergangene Bildwelten des Protestantismus und ihre Bedeutung
Zwei Engel schmieden ein zur Glut gebrachtes Herz auf einem Amboss (Holztafel aus der Kirche zu Mellentin auf Usedom). © Prof. Dr. Johann Anselm Steiger, Hamburg
Zwei Engel schmieden ein zur Glut gebrachtes Herz auf einem Amboss (Holztafel aus der Kirche zu Mellentin auf Usedom). © Prof. Dr. Johann Anselm Steiger, Hamburg
Kunstwerke zur Reformation haben in diesem Jubiläumsjahr Konjunktur. Anlässlich des Erscheinens zweier opulenter Bildbände über Gedächtnisorte der Reformation in Norddeutschland stellt der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen in Frage, ob uns die religiöse Volkskunst aus dem alten Luthertum noch Wesentliches zu sagen hat.

Es gibt unausrottbare Klischees. Eines lautet: Der Protestantismus ist eine bilderfeindliche Konfession. Natürlich hat die Reformation in ihrem Gegensatz zur Papstkirche die alttestamentliche Bilderkritik mit neuem Leben erfüllt. Aber mit Kunsthass oder Anti-Ästhetizismus hatte dies nichts zu tun. Vielmehr ging es um eine Form von Ritual- und Herrschaftskritik, um einen Protest gegen eine bestimmte Frömmigkeit sowie gegen Machtsymbole, also um einen Befreiungsakt. Denn die religiösen Bildwerke des Mittelalters waren keine Kunstwerke im heutigen Sinne, sondern Ritualinstrumente sowie Insignien klerikaler Macht. Deshalb konnte die Reformation gar nicht anders, als sich gegen diese Bilder zur Wehr zu setzen.

Beim reformierten Protestantismus kam das Schicksal hinzu, Minderheiten- beziehungsweise Flüchtlingskonfession zu sein. Wer sich von einer bilderfrommen Mehrheitskultur abgrenzen will, wer aus seiner Heimat fliehen muss und nur das Nötigste retten kann, der hat kaum den Sinn und Raum für prächtige Bildwerke. Beim lutherischen Protestantismus war dies anders. Wo er sich durchsetzte, wurde er die heimatliche Staatsreligion und übernahm die vorhandenen Kirchbauten mitsamt ihren Inneneinrichtungen und Kostbarkeiten. Er konnte entspannter mit den überkommenen Bildern umgehen, musste bloß Missverständnisse und Missbrauch verhüten, ließ ansonsten aber erstaunlich vieles einfach dort stehen, wo es immer stand. Eine Gefahr ging von diesen Bildern für ihn nicht mehr aus.

Gefährlich erschienen ihm nur die anfangs aufflackernden Bilderstürme radikalisierter Neugläubiger. Doch nach dem Bauernkrieg war deren Einfluss dahin. Schon bald aber stellte sich dem Protestantismus die Frage, ob er eigentlich ein eigenes Bildverständnis hat und zu spezifischen Kunstanstrengungen in der Lage ist. In der Tat hat das alte Luthertum eine große und eigenständige Bildwelt geschaffen.

Wie ein Lexikon

Davon ist heute leider kaum noch etwas bekannt – sieht man von den Massenprodukten der Cranach-Werkstatt ab. Der Hamburger Kirchenhistoriker Johann Anselm Steiger hat es nun auf sich genommen, für Norddeutschland und angrenzende Nachbarländer zu zeigen, was für einen Bilder-Reichtum das Luthertum hervorgebracht hat. In zwei Bänden mit fast 1?200 Abbildungen stellt er etwa 280 Stücke altprotestantischer Sakralkunst vor: Altarbilder, Grabplatten, Kanzelreliefs, Orgeln, Beichtstühle. Steiger hat sie nach ihren Orten alphabethisch angeordnet und jedes Stück mit einer kurzen Sacherklärung versehen. Das gibt dem Ganzen den Charakter einer lexikonartigen Dokumentation. Blättert man durch beide Bände, staunt man über die Fülle der Funde aus kleinen, mittleren und großen Kirchen, aus Metropolen und abgelegenen Dörfern: von Altenbruch über Breklum, Greifenberg, Königsberg, Mölln, Tallinn bis nach Züssow.

Man ist beeindruckt von den unterschiedlichsten Versuchen, die lutherische Lehre und Frömmigkeit ins Bild zu setzen. Man fühlt sich intellektuell herausgefordert von der eigentümlichen Verbindung von Zeichen und Schrift, die für diese Sakralkunst bezeichnend ist. Zugleich stellt man sich Fragen. Was war der Sinn dieser Bilder, und wie war es um ihre Freiheit bestellt? Konnten sie einem ästhetischen Impuls folgen oder hatten sie einen Dienst zu verrichten – nun nicht mehr einen rituellen, wohl aber einen pädagogischen? Gingen sie darin auf, eine vorformulierte Lehre abzubilden, oder konnten sie so etwas wie ein freies Spiel beginnen? Oder lag so etwas jenseits des Horizonts ihrer Epoche? Dazu einige, zufällig ausgewählte Bild-Beispiele.

In der Flensburger St. Marien-Kirche finden sich zwei Öltafelgemälde von Jan von Enum aus dem Jahr 1598. Das erste zeigt Christus, wie er mit der rechten Hand auf ein Lamm weist, das am Boden zu seinen Füßen liegt – ein Hinweis auf sich selbst als „Lamm Gottes“. In der linken Hand hält er ein großes aufgeklapptes Herz, das ihn als „guten Hirten“ vorstellt. Vor ihm sitzt eine Frau, die gute Seele, die an der Staffelei dieses Christus-Bild nachmalt. So seltsam dieses Bild zunächst anmutet – genauso hatte Luther den Vollzug des Glaubens beschrieben: ein von außen kommendes Bild von Gott wird seelisch nachgebildet.

Ein zweites Gemälde zeigt Christus mit Kreuz und eiserner Schlange als Arzt (Seite 46, rechts). Er trägt die umgehängte Bestecktasche der damaligen Mediziner und hält zu Diagnosezwecken ein herzförmiges Urin-Glas in die Höhe. Darin sieht er ein Schwein, einen Geldbeutel und eine Kröte. Diese Harn-Schau des menschlichen Herzens zeigt ihm lauter Sünde. Aber als Arzt bringt er nötige Medizin: Aus seiner Seitenwunde ergießt sich ein Strahl Blut in den Kelch, den eine am Boden liegende Sünderin emporreckt, sein Sühne-Blut.Noch krasser findet sich dieses Motiv auf einem Öltafelbild aus einem Grabdenkmal in der St. Nicolai-Kirche von Altenbruch aus dem Jahr 1697 (Seite 47, links). Zu sehen ist Christus mit Kreuz und Siegesfahne in der Kelter. Gebückt steht er da, denn der Zorn Gottes, die Kelter des Jüngsten Gerichts, presst aus ihm das Blut heraus, das sich auf die sündige Menschheit ergießen soll. Für welch eine Theologie und Frömmigkeit steht solch ein Bild: für eine befreiende oder für eine niederdrückende?

Oder ein Bild aus einem Zyklus an der Patronatsempore der Kirche zu Steinhagen – etwa aus dem Jahr 1660 (Seite 47, rechts). Es bildet einen Vers aus dem Hohelied ab: „Ziehe mich dir nach“. Christus als Kinder-Bräutigam zieht seine Seelenbraut an einem Gängelwagen zur Stadt auf dem Berg – wie ein Kleinkind, dem man das Gehen beibringt. Spricht sich hier der Glaube eines erwachsenen, freien Christenmenschen aus?

Oder ein Stück aus einer Bilderserie auf der Orgelempore der Kirche zu Mellentin auf Usedom (Seite 48): Zwei Engel schmieden ein zur Glut gebrachtes Herz auf einem Ambos – „Der Hammer ist wohl schwer, / Doch er bringt Zier und Ehr“. Durch harte und geduldig ertragene Schläge erweicht das Wort Gottes die Härte des menschlichen Herzens.

Wie bewertet man solche Werke? Wie ist ihr ästhetischer Wert zu bemessen? Vieles ist offenkundig Volkskunst – wenn man so will: die Bauernmalerei des alten Luthertums. Für die jeweilige Kirchengemeinde ein kostbarer Schatz, aber darüber hinaus? Sind die künstlerischen Voraussetzungen nicht doch allzu provinziell, ist die theologische Funktionalisierung nicht zu massiv? Vieles wirkt ungelenk, schematisch, maskenhaft und serienmäßig. Kunstfeindlich war das alte Luthertum sicherlich nicht, doch war es kunstfähig? Der Qualitätsunterschied zur Ikonographie der italienischen oder spanischen Gegenreformation jedenfalls ist erheblich.

Symbolische Orte

Und wie steht es um die heutige Wirkung dieser Werke? Der Titel der beiden Bände verspricht, „Gedächtnisorte“ der Reformation vorzustellen. Da klingt das Wort „Erinnerungsort“ an. Dies steht für ein anspruchsvolles, kreatives Konzept der Geschichts- und Gegenwartsdeutung. „Erinnerungsorte“ sind wirkliche, vor allem aber symbolische Orte, an denen sich das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe kristallisiert. Hier wird das, was für eine Gemeinschaft als prägende Herkunftsgeschichte gelten soll, dargestellt, bearbeitet und in die Zukunft getragen.

Für das Christentum sind „Jerusalem“, „Rom“ und „Wittenberg“, aber auch „Bibel“, „Kanzel“ oder „Weihnachten“ solche Erinnerungsorte. Doch welches frühneuzeitliche Altarbild aus einer Holsteiner oder Mecklenburgischen Dorfkirche kann heute als ein „Ort“ gelten, an dem das Gedächtnis der Reformation für die Identität des Gemeinwesens fruchtbar gemacht wird? Und welches wird noch im engeren Sinn religiös genutzt, welches kann einen Zeitgenossen in die Andacht führen? Oder sind die meisten der hier aufgelisteten Sakralartefakte nicht doch ehrwürdige Relikte einer vergangenen Epoche, die kaum mehr Impulse für die Bildung einer eigenen religiösen Identität geben? Die vorliegenden Bände beantworten diese Frage nicht, stellen sie eigentlich auch nicht, regen aber die Leser dazu an, selbst darüber nachzudenken.

Johann Anselm Steiger: Gedächtnisorte der Reformation. Sakrale Kunst im Norden (16.–18. Jahrhundert), Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2016, zwei Bände, 936 Seiten, Euro 69,–.

Johann Hinrich Claussen

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