Reizvolle Rückblicke

Zur Geschichte des Kirchentages
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Bislang ist das große Protestantenfestival wenig präsent in der historischen Forschung. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bietet der nun vorliegende Band erhellende Darstellungen und Verknüpfungen.

Zur Schlussversammlung des Leipziger Kirchentages 1954 riss der Himmel plötzlich auf, nach einem ansonsten total verregneten Kirchentag. 650 000 Menschen feierten Gottesdienst im nun strahlenden Sonnenlicht – ein unvergessliches Gemeinschaftserlebnis. Denn bis zum Bau der Berliner Mauer konnten deutschlandweite Kirchentage in beiden Teilen des Landes stattfinden. Ihre Wirkung als eine „gesamtdeutsche Klammer“ beschreibt Harald Schroeter-Wittke eindrücklich in seinem Artikel „Die frühen Kirchentage als Events“.

War der Kirchentag etwas Neues in einer neuen Zeit? Unter dieser Leitfrage hat Ellen Ueberschär, die ehemalige Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT), eine Aufsatzsammlung zur Geschichte des Protestantentreffens herausgegeben. Denn bislang ist das große Protestantenfestival wenig präsent in der historischen Forschung. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bietet der nun vorliegende Band erhellende Darstellungen und Verknüpfungen. Wie ein Portal wirkt dabei der drastische Beitrag über die „Zusammenbruchsgesellschaft“ der Nachkriegszeit von Martin Greschat. Denn das Leben in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre war von Hunger, Flüchtlingen und elementaren Unsicherheiten geprägt. Vor dieser Hintergrundfolie entsteht in den folgenden Artikeln nach und nach das Bild des DEKT als eines Übungsraumes für die junge bundesdeutsche Demokratie mit geistlicher Basis. Dabei werden (auch) widerstreitende Akteure und Interessen beleuchtet, die im Kirchentag zusammenfanden.

Der aus Pommern geflohene Adlige Rudolf von Thadden-Trieglaff gilt als sein maßgeblicher Begründer. Der begabte Netzwerker vereinte in seiner Person pietistische Anliegen mit internationalökumenischer Weite. Seine lebenslange Siezfreundschaft mit Martin Niemöller wurde 1961 auf eine harte Probe gestellt, als Niemöller seine Teilnahme am Berliner Kirchentag absagte. Er sah ihn als Munition der westlichen Welt im Kalten Krieg missbraucht. Vielfach wird deutlich, wie sehr Fragen nach deutscher Einheit und Beheimatung der Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten die Kirchentage beherrschten. Einen Meilenstein setzte hier Klaus von Bismarck auf dem Leipziger DEKT von 1954, als er in einer bewegenden Rede mit ethischen Argumenten den Verzicht auf seinen Besitz östlich der Oder-Neiße-Linie begründete.

In welcher Weise soll und muss ein Kirchentag politisch sein? Diese Frage begleitet ihn mit der aktuellen Diskussion um die Teilnahme von AfD-Mitgliedern bis heute. Aus heutiger Perspektive wirkt es befremdlich, dass es beim ersten Protestantentreffen 1949 noch undenkbar war, SPD-Politiker einzuladen. Denn eine „links“ geprägte SPD stand einer ausgesprochen deutschnational geprägten protestantischen Szene gegenüber. Der Kirchentag wird jedoch eine schnell lernende Organisation, inhaltlich und strukturell. Seine Veranstaltungsformen entwickelten sich von Frontalvorträgen hin zu Arbeitsgruppen, in denen Diskussionen möglich waren.

Schon früh bildeten Eröffnungsgottesdienste, Bibelarbeiten ohne konkurrierendes Programm und ein großer Schlussgottesdienst die geistliche Lebensader des Kirchentages. Neben bekannten kirchlich-politischen Persönlichkeiten finden sich auch Biogramme zum Beispiel der Ökumenikerin Suzanne de Diétrich oder ein Beitrag zum Juristen Hans Dombois. Ein Anhang mit entsprechenden Kurzbiographien prägender Protagonisten schafft Übersicht. Wer alle Beiträge des Buches liest, bemerkt, dass sich manche Inhalte doppeln. Doch sie erscheinen in den einzelnen Artikeln jeweils in einem anderen Licht. Dies trägt zum speziellen Reiz dieses gut lesbaren Bandes bei. Ihm sind Nachfolger auch zu anderen Epochen des Kirchentages zu wünschen.

Gudrun Mawick

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