Heimatverlust

Ein Buch der Flucht
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Ein Buch, das von aktueller Relevanz ist ohne schlicht zu aktualisieren und politisieren.

Manchmal könnte sich der Eindruck aufdrängen, die Kirchen hätten in den vergangenen Jahren bereits alles zum Thema Flucht und Flüchtlinge gesagt, was man hierzu sagen kann - derart präsent sind die diesbezüglichen Fragen nicht nur im gesamtgesellschaftlichen, sondern gerade auch im theologischen und binnenkirchlichen Diskurs. Mit dem Buch der Flucht belehrt uns Johann Hinrich Claussen eines Besseren. Hierin gibt der Kulturbeauftragte des Rates der EKD seinen Lesern Anteil an seiner persönlichen Re-Lektüre der Heiligen Schrift, die er in den Jahren seit Beginn der Flüchtlingskrise vollzogen hat.

Anhand von vierzig exemplarischen Geschichten, Motiven und Themen erschließt der Autor die alt- und neutestamentliche Literatur als ein Zeugnis von anthropologischen Grunderfahrungen und deren Reflexion vor dem Hintergrund jüdischer und christlicher Glaubensvorstellungen - ja, mehr noch: Letztlich gelingt es ihm, zu plausibilisieren, in welchem Maße sich die Theologie selbst - von den Schöpfungs- und Erzelternerzählungen über die Prophetie und Evangelien bis hin zur paulinischen Briefliteratur - den Erfahrungen von Heimatverlust und Heimatlosigkeit verdankt. Dabei bringt Claussen die unterschiedlichen Stimmen der Bibel mit ihren individuellen Eigenheiten und in ihren jeweiligen historischen Kontexten zum Klingen. Hierzu befragt er einige Texte - im Sinne historisch-kritischer Exegese - auf ihre Entstehungsgeschichte hin, während er andere stärker hinsichtlich existenzieller Erfahrungen interpretiert und sich bei wiederum anderen mit einer Nacherzählung bescheidet.

Entstanden ist damit ein Buch, das einerseits von aktueller Relevanz ist, da es dazu befähigt, aus dem Wissen um die Tiefendimensionen des menschlichen Wesens heraus, die von den biblischen Erzählungen erschlossen werden, Gegenwartshermeneutik zu betreiben und in aktuellen Debatten eine eigenständige christlich verantwortete Position zu entwickeln. Andererseits erliegt Claussen nicht der Versuchung einer schlichten wie populären Aktualisierung und Politisierung: Während er in der Einleitung den Bezug seines Buches zur Gegenwartslage herausstellt und seine eigene - hiervon geprägte - Perspektive reflektiert, bleibt er in den vierzig Kapiteln, sowie drei „Zwischengedanken“, eng am biblischen Text und verzichtet auf Querverweise zu Tagespolitik und Zeitgeschehen. Dadurch kommen die tiefen und ewigen Wahrheiten der heiligen Schriften von Judentum und Christentum zur vollen Geltung.

Hierzu trägt auch die Illustration des Buches bei, die aus dem Bestand historischer Fotografien von Flüchtlingen, Vertriebenen, Deportierten und Exilanten von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts schöpft. Hierdurch wird eine dritte, mittlere Ebene gezogen, zwischen dem Text, der von historischen Erfahrungen aus dem altorientalischen Kulturraum spricht, und dem Leser, der mit seinem Denken und Fühlen in der Gegenwart verwurzelt ist. Zwischen beiden vermag die Bildebene zu vermitteln: Einerseits betonen die Bilder in ihrer Fremdheit die Distanz zu jeglichem historischen Ereignis - und bewahren damit vor einer Vereinnahmung der Vergangenheit durch die Gegenwart.

Andererseits ermöglichen es die Bilder dem Betrachter, in den Gesichtern der Heimatlosen eben jene Empfindungen wiederzuentdecken, von denen das Buch der Flucht spricht, und hierüber auf einer allgemeinmenschlichen Ebene Empathie und Solidarität zu entwickeln.

Tilman Asmus Fischer

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Foto: Andreas Helle

Tilman Asmus Fischer

Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft


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