Suche nach dem Kern

Warum uns historisch gewachsene Lügenkonzepte nicht das Denken und Urteilen abnehmen
Augustinus im 5. Jahrhundert n.Chr.: Auch wenn es niemandem schadet, soll man nicht lügen. Foto: akg-Images
Augustinus im 5. Jahrhundert n.Chr.: Auch wenn es niemandem schadet, soll man nicht lügen. Foto: akg-Images
Wer nach einem definitorischen Kern oder gar einem Wesen der Lüge sucht, wird in der westlichen Philosophietradition nicht fündig. Es gibt allenfalls Ähnlichkeiten in den Konzepten, wie die Bochumer Philosophieprofessorin Maria-Sibylla Lotter erläutert.

Seit je haben Philosophen versucht, das moralische Wesen der Lüge auf den Begriff zu bringen. Betrachtet man jedoch genauer, was in der Geschichte Europas bis heute als Lüge diskutiert wird, dann stellt man fest, dass unser Denken durch drei inkompatible Lügenkonzepte geprägt ist, die teils bis in die griechische Antike, teils in das fünfte Jahrhundert und das achtzehnte Jahrhundert zurückreichen. Diese Divergenzen wirken sich auch noch auf unseren heutigen Umgang mit Lügen aus, wie der folgende Disput zwischen zwei Personen zeigt, die beide „typisch westlich“ argumentieren, aber von unterschiedlichen Lügenkonzepten ausgehen.

Max: Warum hast Du Deinem Vater gesagt, wir könnten nicht mit ihm in die Ski-Ferien fahren, weil wir schon eine Einladung von Freunden an die Nordsee angenommen hätten? Das stimmt doch gar nicht.

Tanja: Nein, aber ich kann ihm nicht sagen, dass ich das Risiko nicht eingehen will, dass er mit diesen neuen schnellen Ski bei der Abfahrt stürzt - er überschätzt sich nun einmal, er will sein Alter nicht wahrhaben, und wenn ich versuchen würde, ihm seine wirkliche Verfassung klarzumachen, würde er mir das schwer übel nehmen.

Max: Aber Du kannst ihn doch nicht einfach anlügen!

Tanja: Nun übertreib nicht. Für mich ist das keine Lüge, sondern eine Ausrede, um ihn vor sich selbst zu schützen.

Max: Du behauptest etwas, was nicht stimmt. Für mich ist das eine Lüge.

Tanja: Für mich ist eine Lüge mehr als eine Ausrede. Findest Du es vernünftig, das Risiko einzugehen, dass er stürzt, so gebrechlich wie er ist? Wenn er jetzt mit 78 mit einem Bruch Wochen im Krankenhaus verbringen würde, würde er vermutlich gar nicht mehr auf die Beine kommen.

Max: Nein, aber ich finde, wir sollten ihm reinen Wein einschenken. Es geht schließlich um Respekt.

Tanja: Ich respektiere ihn durchaus, nämlich so wie er ist - und dazu gehört nun einmal sein Starrsinn und die Schwäche, dass er sich sein Alter nicht eingestehen kann und sich ständig beweisen muss, dass er noch jung ist. Deshalb hätte es auch keinen Sinn, ihm gut zuzureden, eine leichtere Piste zu nehmen, er würde es sich und uns unbedingt beweisen wollen.

Max: Mich beunruhigt die Vorstellung, dass Du mir auch so nett und freundlich ins Gesicht lügen könntest, ohne mit der Wimper zu zucken - weil Du denkst, ich vertrage irgendeine Wahrheit nicht. Ich finde, jeder Mensch hat ein Recht auf die Wahrheit, auch wenn sie mal unbequem ist.

Tanja: Aber Du bist doch ganz anders. Ich kenne Dich als jemand, der auch mit unerfreulichen Wahrheiten vernünftig und tapfer umgehen kann - das schätze ich ja so an Dir. Aber das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich verstehe auch Papas Bedürfnis, sich ewig jung zu fühlen. Wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde, gäbe es einen furchtbaren Krach, er würde es nicht glauben, sondern als Ausrede empfinden, weil wir ihn nicht mitnehmen wollen, und wäre zutiefst verletzt. Niemand hat ein Recht auf eine Wahrheit, die ihm und anderen nur schadet, finde ich.

Brechen wir das Gespräch an dieser Stelle ab. Das Erstaunliche ist, dass wir sowohl die Position von Max als auch die von Tanja nachvollziehen und gute Gründe für sie anführen können, obgleich sie einander widersprechen und sich auf unterschiedliche Lügenkonzepte und Werte stützen. Diese gehen auf drei dominante Traditionen im Denken der Lüge zurück, die von unterschiedlichen Definitionen und Bewertungsgrundlagen der Lüge ausgehen: Erstens eine Tradition von Augustinus bis Immanuel Kant, der Max’ Intuition entspricht, dass man auch dann nicht lügen sollte, wenn niemandem dadurch ein Schaden, aber durchaus ein Nutzen entsteht. Für ihn liegt die Verwerflichkeit der Lüge allein schon darin, dass mit Vorsatz gegenüber einer anderen Person etwas als wahr behauptet wird, was die Sprecherin nicht für wahr hält, unabhängig davon, ob der Adressat die Wahrheit vorziehen würde oder ein Anrecht darauf hat, sie zu hören. Diesen Gedanken der Lüge als einer Sprachhandlung, die allein aufgrund ihrer Form, unabhängig von den mit ihr verbundenen Absichten und Auswirkungen, schlecht ist, scheint erst Augustinus im frühen fünften Jahrhundert entwickelt zu haben; in der Antike war er unbekannt. Notwendig für das Vorliegen einer Lüge ist nach Augustinus das „doppelte Herz“, das heißt, der Widerspruch zwischen dem, was einer für wahr hält, und dem, was er zum Ausdruck bringt. Da das Unrecht der Lüge in diesem theologischen Kontext nicht in ihrer Abweichung von der Wahrheit, sondern in der gewollten missbräuchlichen Verwendung der von Gott geschenkten Sprache liegt, steht eine jede Lüge für eine tiefgehende Verkehrtheit in der Lebenseinstellung zu Gott. Daher ist es auch nicht möglich, Notlügen oder altruistische Nutzlügen mit ihren Zwecken zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen.

Für Tanja hingegen kann eine solche Falschrede bei Personen vom Schlag ihres hochempfindlichen Vaters, der nicht realistisch genug ist, um die Risiken des Ski-Fahrens für sich einschätzen zu können, schützend und heilsam sein. Sie kann sich dabei auf ein zweites, viel älteres paternalistisches Konzept der heilsamen Lüge stützen, das schon bei Platon diskutiert wird. Als exemplarisches Beispiel gilt der Arzt, der den Todkranken über seine Krankheit belügt, um ihm noch eine unbelastete letzte Lebensphase zu ermöglichen, aber auch die berühmte politische Lüge der Philosophenherrscher im utopischen idealen Staat, die dem Volk, das nicht über ihre Einsicht verfügt, eine Sage erzählen, in der die soziale Aufteilung nach Kasten mit verschiedenen Fähigkeiten und Funktionen als naturgegeben dargestellt wird.

Wenn von dem Recht auf Wahrheit die Rede ist, beziehen sich unsere Diskutanten hingegen auf eine dritte neuzeitliche Tradition, die mit den modernen Naturrechtstheorien des siebzehnten Jahrhunderts beginnt. Nach Grotius und Pufendorf ist die vorsätzliche Falschrede nur dann eine verwerfliche Lüge, wenn durch sie Rechte verletzt werden. Das Unrecht der Lüge besteht im Kontext dieser Naturrechtstheorien zunächst darin, dass sie einen stillschweigenden Vertrag zwischen den Sprachverwendern verletzt, die eine Gemeinschaft bilden. Der Sprecher ist verpflichtet, die Sprache nicht so zu verwenden, dass die Worte in einem anderen Sinn verstanden werden müssen als dem, den er selbst im Sinne hat; der Hörer verfügt über ein entsprechendes Recht, das seine Freiheit des Urteils schützt. Wird der Vertrag verletzt oder ausgesetzt, etwa zu Zeiten eines Krieges oder bei einem räuberischen Überfall, dann ist eine vorsätzliche Falschaussage aber kein Unrecht. Als weiterer Maßstab, ob ein Recht verletzt ist, dient das Schadenskriterium. So gilt es auch im Rahmen der Naturrechtstheorien als erlaubt, die Unwahrheit zu sagen, wenn sie niemandem schadet oder gar jemandem hilft, wie dem Verfolgten, um ihn zu schützen. Gegen die Annahme, das Unrecht der Lüge liege darin, dass sie ein Recht auf Wahrheit verletzt und einzelne Menschen (die direkten Adressaten) schädigt, hat Immanuel Kant in seinen späten moral- und rechtsphilosophischen Schriften allerdings eine ganze Reihe von Einwänden geltend gemacht. Unter anderem weist er darauf hin, dass die Lüge nicht nur die Verletzung der Rechte anderer Personen betrifft, sondern auch Pflichten sich selbst gegenüber. Kantisch gedacht, gründet die Selbstachtung auf dem Selbstverständnis des Menschen als freiem Vernunftwesen. Ein freies Vernunftwesen kann der einzelne nicht ohne Rücksicht auf die anderen sein - sich selbst zu achten ist nicht möglich, ohne die anderen Menschen ebenfalls als Vernunftwesen anzuerkennen und mit ihnen in einen vernünftigen Austausch zu treten, der Täuschungsmanöver ausschließt.

Fazit: Was unter den Begriff Lüge fällt und wie es bewertet wird, ist auch innerhalb der westlichen Tradition so verschieden, dass man nicht von einem gemeinsamen definitorischen Kern, einem Wesen der Lüge ausgehen kann, sondern nur von einer Familienähnlichkeit im Sinne des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951). Darunter ist eine Ähnlichkeit von Konzepten zu verstehen, die in einer Überlappung von Elementen besteht, so wie Familienmitglieder daran erkennbar sind, dass einige ähnliche Nasen, andere eine ähnliche Haarfarbe oder Mundform aufweisen, ohne dass es das eine Merkmal gäbe, das allen gemeinsam wäre. Ist das schlimm? Wer glaubt, dass moralische Normen konsistent, kohärent und für jeden gleichermaßen gültig sein müssen, wird die Inkompatibilität von historisch gewachsenen moralischen Vorstellungen für ein Problem halten. Aber wenn es eins ist, dann haben wir uns längst daran gewöhnt. Moralische Vorstellungen, so zeigen die historisch gewachsenen Lügenkonzepte, nehmen uns nicht das Denken und Urteilen ab; wie Max und Tanja werden wir uns entscheiden müssen, welchen wir folgen wollen, sollten uns dabei aber nach Möglichkeit die Konsequenzen klar machen.

Literatur

Maria-Sibylla Lotter: Die Lüge. Reclam Verlag, Stuttgart 2017, 408 Seiten, Euro 14,80.

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Maria-Sibylla Lotter

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