Dem Wandel nicht gewachsen

Wo Wettbewerb und Markt ausgeschaltet wurden, ging es den Menschen schlechter
Der „real existierende Sozialismus“ hat den schon von Marx analysierten Mängeln nicht abhelfen können. Der mit dem Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft agierende Liberalismus schon, sagt Wolfgang Gerhardt (FDP), Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Man könnte es sich einfach machen mit der Bewertung, ob Marx „recht hatte“: Die Ideen von Kommunismus und klassenloser Gesellschaft haben sich in der Geschichte nicht verwirklicht, den Wettbewerb der Systeme mit dem Kapitalismus hat der Sozialismus verloren. Und zwar nicht wegen der schlechten Ausführung, wie viele es auch noch immer so sehen mögen. Sie war zwar schlimm genug und kostete vielen Menschen das Leben, statt sie zu erlösen. Mit seiner Lehre folgte Marx durchaus erkennbar einem humanitären Impuls. „Man kann Marx nicht gerecht werden, ohne seine Aufrichtigkeit zuzugestehen“ schreibt der Philosoph Karl Popper in seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Die Annahme, dass der Kapitalismus immer schärfere Krisen produziere und daher unvermeidlich, aus seiner eigenen Logik heraus kollabieren werde und die Revolution der Arbeiterschaft unausweichlich sei, hat sich aber erkennbar nicht bewahrheitet. Dem Wandel der modernen Arbeitsgesellschaft zeigte sich der Marxismus nicht gewachsen. Nicht, dass es in den vergangenen 150 Jahren keine Krisen gegeben hätte. Aber die Situationsanalyse der Gesellschaft bei Marx ist eben in der Mitte des 19. Jahrhunderts verhaftet, und der von ihr zwingend ausgehende Prozess, die wachsende Verelendung der Arbeiterschaft im Kapitalismus, hat so schlichtweg nicht stattgefunden.

Der Soziologe Ralf Dahrendorf schreibt knapp: „Kennen wir das Entwicklungsgesetz moderner Gesellschaften? Marx glaubte, es zu kennen; aber leider hat er sich geirrt.“ Und dadurch sei Marx zum „Autor einer ebenso brillanten wie irrigen Erklärung von Revolutionen“ geworden. In der Analyse, so beschreiben es auch Dahrendorf oder Popper, zum Teil brillant - in der Konsequenz aber unzureichend.

Die Gefahren des Kapitalismus, definiert als die ungezügelte Ausübung wirtschaftlicher Macht, werden auch von liberalen Denkern, seien sie Philosophen, Soziologen oder Ökonomen, gesehen und gebrandmarkt. Marx’ Ausführungen über die Produktionsbedingungen, die Situation der Arbeiter und ihrer Familien, werden zu Recht als scharfsinnig und präzise bezeichnet. Die von ihm aus der Sicht Mitte des 19. Jahrhunderts beschriebenen Fehlentwicklungen in der Funktionsweise der kapitalistischen Marktwirtschaft sind im globalen Rahmen auch heute noch zu beobachten. Ob Kinderarbeit im einen Teil der Welt, zu Hungerlöhnen beschäftigte Minenarbeiter in einem anderen oder Gesundheitsgefährdungen ausgesetzte Textilarbeiter in einem weiteren - der Weg zu einer gerechten Welt ist noch weit.

Der Kampf gegen menschenunwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen ist allerdings keine Domäne des linken politischen Spektrums. Der Philosoph Wolfgang Kersting schrieb: „Der Marxismus war ein Zwillingsbruder des Liberalismus, wie dieser dem Ethos der Autonomie verpflichtet, wie dieser an der Freiheitswachstumsgesellschaft interessiert. Nur über den Weg dorthin waren sich beide erheblich uneins.“ Der wo auch immer in der Welt bislang „real existierende Sozialismus“ hat den schon von Marx analysierten Mängeln nicht abhelfen können. Der mit dem Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft agierende Liberalismus schon.

Die geschichtlichen Schleifspuren der Alternativen zur Marktwirtschaft zeigen, dass es Menschen überall dort, wo Wettbewerb und Markt aus politischen Gründen ausgeschaltet worden sind, nicht besser, sondern schlechter gegangen ist. Das Ausschalten des Marktes hat zu unkontrollierter wirtschaftlicher und politischer Macht geführt. Der Versuch, eine soziale Freiheit gegen die persönliche Freiheit auszuspielen, hat am Ende überall dort, wo solche Beglückungsbanner entfaltet worden sind, die persönliche Freiheit zerstört. Die Hoffnung, dass der Marxismus nach seinem blutigen Ausflug in die Realität wieder in die britische Library zurückkehrt, ist trügerisch. In einem theoriesüchtigen intellektuellen Milieu bis hin in bürgerliche Feuilletons spukt er noch immer in Gestalt eines lebhaften Talkshow-Antikapitalismus herum.

Marktwirtschaft ist kein kaltes Projekt, sie ist nicht nur Ökonomie. Sie ist auch nicht nur Wachstum, und sie ist kulturell die Wirtschaftsordnung einer freiheitlichen Gesellschaft. Sie ist durch ihre Spielregeln, die im Übrigen die oft unter Inkaufnahme von Geschichtsklitterung bis im bürgerlichen Feuilletons hinein kritisierten Neoliberalen entworfen haben, ein einzigartiges Entmächtigungsprogramm gegen die Herausbildung unkontrollierter und intransparenter wirtschaftlicher wie politischer Macht. Sie ist eine wirtschaftliche Parallele zu dem, was Montesquieu als Gewaltenteilung für das gesamte Staatswesen entwickelt hat.

Gerade die Tatsache, dass trotz immer noch in der Welt vorhandener Ungerechtigkeiten, unfairer Produktions- und Arbeitsbedingungen, unmenschlicher Lebensverhältnisse und wirtschaftlicher Krisen der Klassenkampf noch nicht entbrannt, der Kapitalismus auch an diesen Orten noch nicht untergegangen und die klassenlose Gesellschaft noch nicht verwirklicht ist, zeigt doch: Die von Marx behauptete Zwangsläufigkeit gesellschaftlicher, wie wirtschaftlicher Entwicklung gibt es nicht.

Ob Marx recht hatte? Er scheint dafür Vorsorge getroffen zu haben, dass es so scheint - wie er in einem Brief an Engels ausführte: „Es ist möglich, dass ich mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik wieder zu helfen. Ich habe natürlich meine Aufstellungen so gehalten, dass ich im umgekehrten Fall auch noch Recht habe.“

Mit einem hatte Marx auf jeden Fall nicht recht: Ins Poesiealbum seiner Tochter Jenny schrieb er 1865 auf die Frage nach der jeweiligen Lieblingstugend für den Mann „Kraft“, für die Frau „Schwäche“.

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Pro und Contra: Hatte Marx recht?

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