Luthers origineller Vorläufer

Auf der Suche nach dem „österreichischen Übersetzer“ der Bibel
Kostbare Handschrift: Ausschnitt aus der Weihnachtsgeschichte (Lukas 2) der österreichischen Bibelübersetzung.  Foto: Schaffhausen, Stadtbibliothek, Gen. 8, f. 8v, www.e-codices.unifr.ch
Kostbare Handschrift: Ausschnitt aus der Weihnachtsgeschichte (Lukas 2) der österreichischen Bibelübersetzung. Foto: Schaffhausen, Stadtbibliothek, Gen. 8, f. 8v, www.e-codices.unifr.ch
Schon vor Martin Luther gab es deutsche Bibelübersetzungen. Seit einigen Jahren beschäftigen sich Germanisten in Augsburg und Berlin intensiv mit einem in zahlreichen Quellen überlieferten Text einer deutschen Bibel aus dem 14. Jahrhundert. Freimut Löser, der Autor unseres Beitrages, ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg und einer der Leiter des Projektes.

Es ist ein wahres Mammutprojekt: Voraussichtlich bis 2027 werden sich Mittelaltergermanisten mit einem umfangreichen Werk beschäftigen, das sich mehr und mehr als zentrale Etappe der deutschen Bibel vor Martin Luther im 14. Jahrhundert erweist, das Werk des so genannten österreichischen Übersetzers. Neben dem Hauptziel, der Edition des Werkes in Buchform und online, steht auch die akademische Nachwuchsförderung auf der Agenda, denn am Ende des Projektes soll es eine Reihe neuer Doktorinnen und Doktoren geben, die ihren Titel der Beschäftigung mit diesem Werk zu danken haben. Eines Werkes, das gerade manchen Akademikern kritisch gegenübersteht und in dieser Hinsicht Martin Luther gleicht. "Da gibt es doch Doctores jnn den hohen schulen, deren bestes aber war, dass sie die heilige schrifft verachten und unter der banck ligen liessen. 'Was, Biblia, Bliblia?', sprachen sie, 'Biblia ist ein ketzer buch.'" So setzte sich nämlich noch Martin Luther mit seinen Gegnern auseinander.

Rund zweihundert Jahre vor Luther musste sich ein Mann, der die Aufmerksamkeit der Forschung mehr und mehr erregt, mit Angriffen derartiger Doctores auseinandersetzen. Man bezeichnet ihn, weil er anonym geblieben ist, als „österreichischen Bibelübersetzer.“ Das ist ein Notname, der das Wenige, was man über ihn weiß, bündelt. Wenn man sich freilich detektivisch betätigt und seine Texte genau liest, wird aus dem Wenigen mehr. Als man in den Dreißigerjahren erste, noch vage Zusammenhänge eines großen und umfassenden deutschsprachigen Bibelwerkes entdeckt hatte, vermutete man, weil in einer sehr alten Handschrift ein ähnlich klingender Name genannt wurde, hinter dem Ganzen den bekannten Dichter Heinrich von Mügeln. Das hat sich aus chronologischen und inhaltlichen Gründen als unhaltbar erwiesen. Der Mann, den wir suchen, hat allem Anschein nach seinen Namen nicht genannt. Dahinter muss man nicht gleich vermuten, dass er sich vor der Inquisition verstecken wollte. Zu seiner Zeit, im 14. Jahrhundert, war es durchaus nicht unüblich, dass sich Menschen, die Teile der Heiligen Schrift übersetzen oder bearbeiten, nicht namentlich nannten, sondern gewissermaßen Gott selbst die Ehre ließen und sich selbst deshalb nicht in den Vordergrund drängten. Autographe, also Handschriften von der Hand des Verfassers selbst, sind ohnehin nicht erhalten. Freilich ist das Werk insgesamt breit überliefert. Und die meisten Handschriften, deren älteste aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhundert stammen, weisen von der Sprache her nach Österreich. Die Stadt Krems und der Fluss Enns, ein südlicher Nebenfluss der Donau, werden im Werk erwähnt.

Da die einzelnen Teile des Werkes zur Hauptsache vor 1350 entstanden, bezeichnet man den anonymen Verfasser als „österreichischen Bibelübersetzer der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts“. „Bibelübersetzer“ war der Anonymus, weil er große Teile der Heiligen Schrift übersetzte und auf deren Verbreitung zielte. Er hat aber im Blick auf sein Publikum ausgewählt, bearbeitet und ausgelegt; und er hat neben dem Bibelwerk auch einige kleinere Werke verfasst, Traktate gegen Ketzer, auch gegen Juden. Er hat sich zeit seines Lebens mit der Aufgabe der Bibelverdeutschung befasst, und er ließ davon, trotz aller Angriffe, nicht ab. So hat er als sein Lebenswerk ein umfangreiches Bibelwerk vorgelegt, in vielen Teilen, die auch getrennt überliefert sind.

Brillanter Laie

Der Verfasser war Laie, sei es nun in der Welt, sei es als Laienbruder in einem Kloster, sei es als Mitglied eines Drittordens, beispielsweise der Franziskaner. Er stellt sich selbst in seinen Schriften bewusst in die Reihe der "ungelert layn" und betont, er sei "nicht geweicht (geweiht) und geordent (ordiniert), das Gotswort ze predigen". Seine Übersetzung aber ist sprachlich brillant und an der Zielsprache orientiert; er folgt nicht sklavisch dem Latein und er hat, wie später Luther, scheinbar dem Volk auch schon „auf’s Maul geschaut“. Der „österreichische Bibelübersetzer“ verfügt über außerordentliche Kompetenz im Lateinischen und zeichnet sich durch theologischen Sachverstand aus, und dies obwohl er leichthin zugibt, er habe nicht in hochen schuelen studiert. Dabei offenbart sich ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein des scheinbar Ungelehrten: An Hohen Schulen lerne man ohnehin nur, die Heilige Schrift unbeachtet zu lassen und "die gugel maisterleich ze stellen" (den Doktorhut hoch zu tragen).

Ein Laie nimmt für sich also vehement das Recht in Anspruch, die Bibel in die Volkssprache zu übertragen und auszulegen, und dies zu Beginn des 14. Jahrhunderts! Das musste Widerspruch provozieren. Nun ist dieser Unbekannte nicht auf den Mund gefallen. Er versteht es, sich zu wehren. In Vorreden zu einzelnen biblischen Büchern verteidigt er sich, begründet sein Verhalten und erklärt, was er tut. Zum Glück auch für uns Forscher des Projekts, denn das meiste, was wir über ihn wissen, stammt aus diesen Vorreden; dort gibt er sich am besten zu erkennen.

Er kämpfte an zwei Fronten: Der Anonymus polemisiert zeittypisch auch gegen die Juden, die die Ankunft des Messias bestreiten würden, vor allem aber gegen die philosophy, die ihren ganzen Fleiß an die chunst der haydenischen puech (Kunst der heidnischen Bücher) legen, mehr noch aber gegen die Ketzer. Hinter denen sind wohl Katharer und Waldenser in seinem Gebiet zu vermuten. Gegen diese richtet sich sein Unternehmen, die Bibel in der Volkssprache zu verbreiten. Weil sie, sagt er, die Wahrheiten des christlichen Glaubens "in den schuelen nicht gelernt habent und die wahre Bedeutung der Bibel ohne Kenntnis der heiligen lerer schrift nicht wissen, habent sy den text valschlich aus gelegt".

Sein Bibelwerk ist also der Bekehrung und Belehrung gewidmet; und dazu gehört dann auch die wichtige und in den Augen des Verfassers richtige Auslegung. Im Buch Tobias beispielsweise bezeichnet er seine Übersetzungstätigkeit als "andacht, dy ich den ungelerten layn durch gotes lieb erzaigt han mit dem, das ich ettleich tail der heiligen schrift durch pesserung ainvoltiger (einfältiger) christen zu deutsch pracht hab". Und in einer der Vorreden zu seinem Psalmenkommentar, betont er, Gott wolle den Menschen den Weg zum Himmel zeigen; "deshalb eben hat got dem menschen di heilig geschrift (.) geöffent, und di ist von erst Ebraisch gewesen. Darnach pracht sy sand Jeronimus (der heilige Hieronymus) in die latein. Nu sind wenig leut latein gelert; davon ist not, das man der latein zu deutsch pring, und halt in ander zungen, das die layen damit ze andacht pracht werden."

Der Verfasser kennt also die Geschichte der Heiligen Schrift in den verschiedenen Sprachen, und er benutzt sie, um für ihre Verdeutschung zu werben. Gleichzeitig ist seine verteidigende Haltung zu erkennen, denn er stand unter Druck: Im Lauf seiner langen Tätigkeit gab es seinem eigenen Zeugnis zufolge mehrere Angriffe, die sich ähnelten. Zum ersten Mal scheinen sie während seiner Beschäftigung mit dem „Evangelienwerk“ aufgetaucht zu sein, denn dort heißt es in einer predigtartigen Auslegung: Die Pharisäer hätten noch heute Nachfolger, die mit Irrtum und Verleumdung alle diejenigen angriffen, die Gottes Wort und dessen rechte Bedeutung verbreiteten. Hinter diesen Angriffen stecke Ehrsucht, Hochmut, modern gesprochen eine Art Monopoldenken, die Todsünde des Geizes und letztlich Gewinnstreben. Einige hätten sogar öffentlich gesagt: „Wer geit (gibt) umb unser predigen nu icht (etwas), seit man die heilige schrift in der deutsch allenthalben hin und her list?“ Später, als er das Alte Testament übersetzt, treten erneut solche Gegner auf und werfen ihm nun vor, man lese die Heilige Schrift auf Burgen und in Stuben und in Häusern.

Demnach befindet er sich in einer Art Zweifrontenkampf zwischen allen Stühlen: Er kämpft gegen Ketzer und gegen Angriffe der Ultra-Konservativen gleichzeitig; er will den Laien die rechte Bedeutung der Schrift vermitteln und muss sich diese Bedeutung erarbeiten; er kämpft als Ungelehrter für die Ungelehrten und versichert sich gleichzeitig gelehrter Hilfe, etwa wenn er versichert, er habe "wol gelerter leut hilf und rat". Und tatsächlich benutzt er neben gängigen Quellen wie der weit verbreiteten Glossa ordinaria den zeitgenössischen lateinischen Psalmenkommentar des Franziskaners Nikolaus von Lyra noch während dessen Entstehung. Eine Forschungs-Hypothese rückt ihn unter anderem deshalb in die Nähe der Franziskaner. Manches könnte auf mächtige Unterstützer deuten. Aber auf wen? Auch hier bleibt für die Forschung noch viel zu tun.

Kostbare Handschriften dürften die Exemplare reicher, mächtiger und einflussreicher Gönner gewesen sein. Womöglich mit deren Hilfe konnte der Übersetzer erfolgreich gegen die Angriffe bestehen, die die Deutungshoheit der Heiligen Schrift für sich allein beanspruchten und das Recht der Laien auf die Bibel bestritten.

Relative Chronologie

Die lateinische Vulgata als solche komplett zu übertragen, hat unser Anonymus wohl kaum beabsichtigt. Sein Werk besteht aus unterschiedlichen Ansätzen, aus vielen Einzelteilen, aus Bibeltexten und Auslegungen gleichzeitig; Auslegungen, die aber immer erkennbar und philologisch sauber vom eigentlichen Bibeltext getrennt sind. Die relative Chronologie der Einzelwerke, die vor 1330 begonnen wurden, ist noch nicht endgültig gesichert. In der Reihenfolge der Vulgata sind dem Verfasser eine Reihe von Einzeltexten zuzuschreiben: das wohl relativ spät entstandene und sparsam ausgelegte sogenannte „Schlierbacher Alte Testament“ mit Exodus, Genesis, Tobias und Hiob und den Verteidigungs-Vorreden, der reich kommentierte „Psalmenkommentar“, die Salomonischen Schriften (ohne das Hohelied), eine Prophetenübersetzung, von der wir bisher nur Auszüge kennen, und das große „Klosterneuburger Evangelienwerk“, das nicht die vier Evangelien nebeneinander stellt, sondern etwa auch das apokryphe „Evangelium Nikodemi“ integriert und eine Harmonie vorlegt, die im Wesentlichen dem Leben Jesu folgt, aber auch in Einheiten gelesen werden kann, die sich dem liturgischen Kalender anpassen. Dazu kommen große Teile der Apokalypse.

Wo diese Werke entstanden, weiß man nicht; benannt sind sie nach dem Fundort der Handschriften, die der Forschung zuerst bekannt wurden. Von manchen Werken, wie dem Psalmenkommentar oder dem Evangelienwerk, gibt es verschiedene Fassungen, wahrscheinlich vom Verfasser selbst zu verschiedenen Zeiten und zu unterschiedlichen Gebrauchszwecken vorgelegt. Dazu kommen die genannten Verteidigungsschriften, auch eine lateinische, und verschiedene Traktate (vor allem gegen die Irrtümer der Juden und Ketzer), ein Buch über den Antichrist, ein sogenannter Fürstenspiegel und manch andere kleine Schrift mehr.

Keine Frage, ein unermüdlicher Autor des 14. Jahrhunderts wurde da entdeckt, der der Forschung viele Aufgaben stellt. Am Ende soll eine Ausgabe stehen, die den Benutzern den gesamten Text ebenso zwischen zwei Buchdeckeln präsentieren wird wie online am Bildschirm; so wird man wahlweise Digitalisate mittelalterlicher Handschriften mit deren für jeden lesbaren transkribierten Texten oder anderen Textversionen bis hin zur Ausgangsversion des Verfassers vergleichen können. Eine Reihe von Tagungen und öffentlichen Vorträgen wird die deutschsprachige Laienbibel des 14. Jahrhunderts in den europäischen Rahmen stellen, in den sie gehört. Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg zu gehen.

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Freimut Löser

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