Subversives Potenzial

Die Religion im Leben des Karl Marx
Luther und Marx als Ware - das hätte beiden kaum gefallen. Foto: dpa/ Frank Rumpenhorst
Luther und Marx als Ware - das hätte beiden kaum gefallen. Foto: dpa/ Frank Rumpenhorst
Religion ist Opium des Volks - auf diese Formulierung wird die Religionskritik von Karl Marx oft reduziert. Doch das greife viel zu kurz, sagt der promovierte Theologe und ehemalige Dominikaner-Mönch Bruno Kern. Marx’ Philosophie lädt auch aufgeklärte Christen zum Dialog ein.

Vorweg sei es gesagt: Die radikale Marx’sche Religionskritik anhand seiner Biografie nachzuvollziehen darf keineswegs bedeuten, der argumentativen Auseinandersetzung auszuweichen. Allzu durchschaubar sind viele psychologisierende Versuche, die hauptsächlich den Zweck haben, dieser radikalen Infragestellung des eigenen gläubigen Selbstverständnisses zu entgehen. Die folgenden Hinweise wollen im Gegenteil eher zu einem ehrlichen, solidarischen Gespräch mit Karl Marx einladen.

Karl Marx ist nicht nur jüdischer Abstammung; sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits weist sein Stammbaum die Herkunft von altehrwürdigen Rabbinerfamilien aus. Bis ins 15. Jahrhundert lässt sich diese stolze Ahnenreihe zurückverfolgen, und noch sein Onkel Samuel ist Rabbiner der Kultusgemeinde in Trier. Erst Karl Marx’ Vater, Herschel Marx, bricht mit dieser Tradition. Er profitiert von der napoleonischen Besetzung des Rheinlandes und der Durchsetzung des napoleonischen Grundgesetzbuches Code civil, studiert in Koblenz Rechtswissenschaften und lässt sich schließlich in seiner Heimatstadt als freier Anwalt nieder. Nach der preußischen Besetzung des Rheinlands konvertiert Herschel Marx nach einigem Zögern zum Christentum, um die Ausübung seines Berufs nicht zu gefährden. Aus Herschel wird nun Heinrich, und auch der kleine Karl wird im Alter von sechs Jahren protestantisch getauft - zum Leidwesen der fromm-jüdischen Mutter. Heinrich Marx hat wenig inneren Bezug zur Religion seiner Vorfahren, im Gegenteil: Die archaischen Riten der jüdischen Religion wirken befremdlich auf ihn. Sein Sohn Karl übernimmt diese innere Abwehrreaktion. Als eine seiner Töchter sich später auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln intensiver mit dem Judentum zu beschäftigen beginnt, reagiert er mit Unverständnis und Befremden.

Dass Heinrich Marx sich im katholischen Trier - trotz der nicht gerade beliebten neuen preußischen Landesherren - protestantisch taufen lässt, hat seinen Grund darin, dass der Protestantismus seiner eigenen religiösen Einstellung näherkommt als der eher hinterwäldlerische Katholizismus. Heinrich Marx ist keineswegs Atheist. Seine religiöse Einstellung entspricht ganz und gar den Ideen der Aufklärung, einem Deismus, der Gott als abstrakte Idee eines höheren Wesens durchaus anerkennt, aber jede Form von geschichtlicher Offenbarung von sich weist. Genau mit diesem Geist der Aufklärung wird Karl Marx früh vertraut gemacht; er prägt seine Kindheit und Jugend. Noch in seiner Korrespondenz mit Karl während seiner Berliner Studienzeit bezieht sich Heinrich Marx auf die Gottesidee Kants, Newtons, Lockes und Leibniz’ und bezeichnet einen solcherart aufgeklärten Gottesglauben als wertvolle und notwendige Hilfe für einen sittlichen Lebenswandel.

Zu den ersten überlieferten Texten von Marx zählt auch sein Abituraufsatz aus dem Fach Religion über die johanneischen Abschiedsreden. Aufschlussreich daran ist, dass die Diktion des jungen Abiturienten klar erkennen lässt, dass er ein Bild vom Christentum hat, das durchaus anschlussfähig ist an die Ideen der Aufklärung - ein christlicher Glaube auf der Höhe der Zeit also.

Entscheidend für den Denkweg des Karl Marx ist - nach einem Jahr Jurastudium in Bonn - sein Wechsel nach Berlin. Hier entdeckt Marx sein Interesse für die Philosophie und wechselt schließlich mit Erlaubnis seines Vaters das Studienfach. Die alles dominierende Figur der philosophischen Szene ist der 1831 verstorbene Hegel, der in einer großartigen Synthese den Deutschen Idealismus zur Vollendung gebracht hatte. Marx kommt mit einem Kreis von Intellektuellen in Kontakt, die den Befreiungsschlag aus Hegels Interpretation der gesamten Wirklichkeit vom dialektischen Entwicklungsprozess des absoluten Geistes her suchten. Die im sogenannten „Doktorklub“ versammelten Denker stellten der offiziellen Hegel-Deutung ihre eigene revolutionäre Sichtweise entgegen: Der tiefe, verborgene Sinn der Hegel’schen Philosophie sei der Atheismus! Es gehe darum, den Menschen und die Gesellschaftsordnung von der Gefangenschaft der Religion zu befreien! Marx’ entscheidender Mentor in dieser Zeit ist der atheistische Theologe (!) Bruno Bauer. Hegel hatte die gesamte Wirklichkeit aus dem Prozess der Entäußerung des absoluten Geistes (also Gottes) heraus begriffen, der im menschlichen Selbstbewusstsein zu sich kommt. Es ist nun nicht schwer, dieses Wirklichkeitsverständnis atheistisch zu wenden und das endliche, menschliche Selbstbewusstsein zur entscheidenden Instanz zu machen, dem auch der Gottesgedanke entspringt.

Nichts als Tautologie

Zum ersten Mal wird hier der atheistische Standpunkt Marx’ greifbar. Wichtig festzuhalten ist die Tatsache, dass Marx diese atheistische Position entwickelt, noch lange bevor er zu seinen entscheidenden ökonomischen und politischen Einsichten findet.

Nachdem Bruno Bauer ihn gedrängt hatte, endlich das „lumpige Examen“ zu machen, wird Marx in Jena mit einer Arbeit über Demokrit und Epikur zum Doktor der Philosophie promoviert (1841). Im Anhang zu dieser Doktorarbeit formuliert er eine kaum bekannte, originelle und radikale Religionskritik: Religion ist - so erläutert er vor allem anhand des ontologischen Gottesbeweises von Anselm von Canterbury - nichts als Tautologie. Sie sagte nur das in mythologischer Form, was die Philosophie des menschlichen Selbstbewusstseins präziser und plausibler zum Ausdruck bringe. Damit fordert Marx die Theologie radikal heraus: Will sie dieser Religionskritik standhalten, dann muss sie den eigenständigen Sinn ihrer Gottrede aufzeigen können, dann muss sie plausibel machen, wie sich das Verhältnis zur Weltwirklichkeit unter dem Anspruch des Wortes Gottes verändert - und diese Weltwirklichkeit nicht einfach religiös affirmiert und „verdoppelt“!

Als Redakteur der Rheinischen Zeitung begegnet Marx in der Person des jüdischen Kaufmannssohns Moses Heß zum ersten Mal sozialistischem Gedankengut. Es liegt die Vermutung nahe, dass Heß mit seinen Gedanken zum Zusammenhang von ökonomischer und religiöser Entfremdung einen erheblichen Einfluss auf Marx hatte, der in den Pariser Manuskripten deutlich zutage tritt.

Nach seinem Ausscheiden aus der Rheinischen Zeitung fasst Marx zusammen mit Arnold Ruge den Plan der Herausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher in Paris. Das ehrgeizige Projekt scheitert. Es erscheint lediglich eine Doppelnummer. Diese enthält allerdings zwei überaus bedeutsame Aufsätze von Karl Marx: In seiner Schrift Zur Judenfrage entwickelt Marx vor allem seine grundlegende Unterscheidung zwischen politischer und allgemein-menschlicher Emanzipation. Er zeigt, wie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft der Mensch aufgespalten ist in die private Sphäre, in der er als bourgeois seine bornierten Einzelinteressen in der Konkurrenz aller gegen alle verfolgt, wohingegen er sein Gattungswesen außerhalb seiner konkreten materiellen Existenz abstrakt als citoyen im Staat verwirkliche. Die politische Emanzipation des Staates von der Religion bleibe auf halbem Wege stehen. Erst wenn die Trennung zwischen konkretem Individuum und Gattungswesen aufgehoben sei, wenn der Mensch seine sittliche Existenz als Gattungswesen in seiner materiellen Existenz und nicht im „Jenseits“ des Staates verwirkliche, sei die menschliche Emanzipation vollendet.

Genau diesen Dualismus, die Trennung zwischen dem materiellen Dasein des Menschen und seiner davon abgespaltenen Gattungsexistenz, charakterisiert Marx als ein religiöses Verhältnis! Religion ist hier bereits Synonym für die Aufspaltung, Entfremdung des Menschen. Die faktische Existenz und das Gedeihen von Religion seien bloß das Symptom dieser aufgespaltenen Existenzweise des Menschen!

Die zweite bedeutsame Schrift aus jener Zeit, „Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie“, ist jener Text, der die klassisch gewordene Passage zu seiner Religionskritik enthält. Ärgerlicherweise wird dieser großartig formulierte Text meist auf den populären Opium-Satz verkürzt, noch dazu oftmals falsch wiedergegeben als „Opium für das Volk“ anstatt „Opium des Volkes“, als ob Marx die reichlich banale These von Religion als bewusstem Betrug vertreten hätte. Marx geht zunächst von Ludwig Feuerbach aus, der Gott als die Projektion des Gattungswesens Mensch entlarven wollte. Im Gegensatz zu Feuerbach begnügt sich Marx aber nicht mit dieser Auskunft, sondern fragt nach dem Grund dieser Projektion, den er in den verkehrten gesellschaftlichen Verhältnissen selbst findet. Interessant ist, dass Marx in diesem Text die Religion zugleich als „Ausdruck“ des wirklichen Elends und als „Protestation“ dagegen bezeichnet. Das heißt: Er gesteht durchaus zu, dass die Religion ein subversives Potenzial enthält, wenn auch in unaufgeklärter Weise. Der Philosoph Ernst Bloch hat darauf aufmerksam gemacht, dass dies „den Gesprächsraum öffnen“ könnte zwischen undogmatischen Marxisten und aufgeklärten Christen. Entscheidend jedenfalls ist, dass Marx in diesem Stadium seines Denkens die Kritik der Religion „im Wesentlichen“ für beendet erklärt. Sein Interesse ist eben nicht die aktive Bekämpfung der Religion, sondern die theoretische und praktische Kritik der Zustände, für deren Symptom er sie hält. Kein militanter Atheismus kann sich deshalb auf Karl Marx berufen.

Maßstab gesetzt

In Zusammenarbeit mit Friedrich Engels entsteht im Jahr 1845 Die Deutsche Ideologie, in der die beiden in Auseinandersetzung mit den Junghegelianern zum ersten Mal ihren historischen Materialismus ausformulieren. Keineswegs handelt es sich dabei um einen „metaphysischen“ Materialismus, der die Materie als letztes Prinzip der Wirklichkeit begreifen möchte. An solchen metaphysischen Fragen nach der „letzten Wirklichkeit“ hatte Marx kein Interesse, und alle Versuche, unter Berufung auf ihn umfassende Weltdeutungen zu konstruieren fallen unter das Verdikt der Marx’schen Religionskritik selbst, sind sie doch sehr leicht als Mythifizierung einer totalitären gesellschaftlichen Praxis zu durchschauen. Dagegen ist der historische Materialismus, wie ihn Marx und Engels verstehen, ein methodischer Standpunkt für das Verständnis der menschlichen Geschichte. Das Bewusstsein der Menschen, die Sphäre des Geistigen, die entsprechenden gesellschaftlichen Institutionen usw. werden in Bezug gesetzt zum „wirk-lichen“ Menschen, das heißt darauf, wie die Menschen in Auseinandersetzung mit der Natur ihr Leben selbst produzieren und reproduzieren. Entsprechend wird ein „verkehrtes“ Bewusstsein konsequent ideologiekritisch auf ein „verkehrtes“ gesellschaftliches Sein selbst zurückgeführt.

Damit hat Marx einen erkenntnistheoretischen Maßstab gesetzt, hinter den man nicht zurückfallen darf: das heuristische Prinzip, alles Denken und alle Ausdrucksformen des Menschen „in letzter Instanz“ zurück zu beziehen auf deren Art und Weise, ihr materielles Leben zu organisieren. Marx erweist sich damit - wie in anderer Weise später Sigmund Freud - als einer der großen „Meister des Verdachts“. Allerdings bedeutet der historische Materialismus in diesem Sinne nicht automatisch das Todesurteil für die Religion. Es entbehrt jeder Plausibilität, dass alle anderen „Überbauphänomene“ zwar in ihrem konkreten Sosein aus den materiellen Verhältnissen erklärt und gedeutet werden, einzig und allein die Religion aber völlig ihre Daseinsberechtigung verlieren sollte. Dass die Religion über ihren ideologischen Charakter hinaus völlig gehaltlos sein sollte, ergibt sich eben nicht aus dem historischen Materialismus, sondern entspringt bereits einem vorgefassten, nun nicht mehr weiter begründeten Urteil von Karl Marx.

Marx ging es erklärtermaßen von Anfang an um die Entlarvung aller „himmlischen und irdischen Götter“, wie er bereits in seiner Dissertation erklärt. Das heißt, er hat der angeblichen Säkularisierung nicht über den Weg getraut. Die himmlischen Götter kehren in neuer Form wieder - als Mythifizierung des Kapitalismus selbst. Es ist kein Zufall, dass Marx zur Charakterisierung des Kapitalismus einen Begriff aus der Religionsgeschichte verwendet: den Fetisch. Das Wesen des Kapitalismus besteht für ihn darin, dass das, was aus den Händen und Köpfen der Menschen selbst hervorgeht, über sie Kontrolle gewinnt, dass sich das Verhältnis von Subjekt und Objekt im Kapitalismus umkehrt und die Menschen letztlich zu „Hilfsschrauben ihrer eigenen Werkzeuge“ werden. Es war die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, die die theologische Brisanz dieser Marx’schen Einsicht erkannt hat und sie in Verbindung mit der alttestamentlichen Götzenkritik gebracht hat. Diesem „Götzen Kapital“ theoretisch wie praktisch den Gott des Lebens entgegenzusetzen wäre die angemessene Antwort auf die Marx’sche Religionskritik. Das Bekenntnis zum biblischen Gott wird angesichts von Marx’ Kritik nur dann glaubwürdig sein können, wenn es sich als Sinnressource für die Bekämpfung jener gesellschaftlichen Zustände erweist, die unsere Zivilisation insgesamt in den Abgrund zu reißen drohen.

Literatur

Bruno Kern: „Es rettet uns kein höh’res Wesen“? Zur Religionskritik von Karl Marx - Ein solidarisches Streitgespräch, Grünewald-Verlag, Ostfildern 2016, 176 Seiten, Euro 18,-.

Ders.: Karl Marx: Ökonom - Redakteur - Philosoph. Weimarer Verlagsgesellschaft, Weimar 2017, 160 Seiten, Euro 16,90 ,-.

mehr zum Thema

Bruno Kern

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"