Aufgehobener Schmerz

Klartext
Foto: privat
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Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Katharina Wiefel-Jenner. Sie ist Pfarrerin in Berlin.

Liebevolle Kritik

7. Sonntag nach Trinitatis, 15. Juli

Macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid. (Philipper 2,2)

Paulus ist im Gefängnis. Er empfängt Besucher. Er plant seine Verteidigung. Und der Apostel schreibt Briefe. In ihnen findet er kritische Worte für die, deren Weg vom Glauben an Christus wegführt und schreibt zugleich herzliche Briefe voller Fürsorge für die, denen er im Glauben an Jesus Christus innig verbunden ist. An die christliche Gemeinde im mazedonischen Philippi denkt er dabei mit besonderer Liebe. Fast könnte man ihr den Titel „Lieblingsgemeinde des Apostels“ verleihen.

Weil er seine Mitchristen in Philippi besonders schätzt, erwartet Paulus von ihnen auch Besonderes. „Ihr könnt es noch besser“, schreibt er ihnen, „Ihr könnt euch noch tiefer im Glauben verwurzeln.“ Er bescheinigt den Philippern, dass sie auf dem richtigen Weg und in ihrem Glauben schon fast vollkommen sind. Es fehle nur noch das letzte Prozent: Die Philipper achten aufeinander, sie sind füreinander da. Sie sind gastfreundlich und kümmern sich um die, denen es am Nötigsten fehlt. Sie teilen das, was sie haben, mit denen, die Hilfe benötigen. Und wenn es ernst wird, ermahnen sie einander. Sie scheuen sich nicht, von den Werten des Glaubens zu sprechen und öffentlich an Christus zu erinnern. Was für eine großartige, was für eine attraktive Gemeinde! Wer wollte nicht zu ihr gehören?

Trotzdem ist Paulus unzufrieden. Die herzliche Liebe seiner Freunde in Philippi, und ihre Fürbitte genügen ihm nicht. Er erinnert sie vielmehr daran, dass es für eine christliche Gemeinde nicht genügt, attraktiv zu sein. Vielmehr soll sie wahrhaftig und echt sein. Dazu muss die Gemeinde den Streit in ihren eigenen Reihen ausräumen. Die gegenseitige Konkurrenz der Gemeindeleiterinnen muss aufhören, und Besserwisserei und Hochmut müssen enden. Wie soll die Gemeinde Christus denn glaubwürdig bekennen, wenn sie in den eigenen Reihen keinen Frieden hält, wenn jedem und jeder der eigene Vorteil wichtiger ist als das Glück der ganzen Gemeinde und wenn aus unterschiedlichen Meinungen zu Tagesfragen ein grundsätzlicher Richtungsstreit wird?

Zum Glück kritisiert Paulus die Gemeinde nicht nur. Dafür mag er sie viel zu sehr. Damit die Philipper das letzte Prozent im Glauben erreichen, zeigt er ihnen das Bild von Christus. Ihm sollen sie gleich werden. Er widmet ihnen ein eigenes Lied über den Weg Christi. So demütig wie Christus möchte Paulus die Freundinnen und Freunde sehen. So voller Hingabe füreinander wie Christus, so uneigennützig wie Christus soll die Gemeinde sein.

Ob die Gemeinde in Philippi die Kritik des Paulus beherzigt hat, wissen wir nicht. Aber wir können uns mit unserer Gemeinde ja immer noch um den Titel „Lieblingsgemeinde des Apostels“ bewerben.

Mehr als Gedanken

8. Sonntag nach Trinitatis, 22. juli

Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? (1.Korinther 6,15)

Wodurch unterscheidet sich ein Tempel von einem gewöhnlichen Gebäude? Ein Tempel ist in der Regel schön. Und dafür wird er bewundert und gepriesen. Seine Mauern und seine Innenaustattung sind kostbarer als die der normalen Häuser. Für Festzeiten wird er gereinigt und besonders geschmückt. Im Innern des Tempels suchen die Gläubigen den Kontakt zum Heiligen. Im ganzen Gebäude erklingen die Worte Gottes und Lieder zu Gottes Lob.

Mit einem Tempel vergleicht Paulus unseren Leib, nicht mit einem normalen Haus. Schön und kostbar ist unser Leib. Er ist es wert, gepflegt zu werden, denn der Leib des Menschen ist ein Ort, in dem sich die Gemeinschaft mit Christus verwirklicht. So haben wir in der Taufe leiblich erfahren, dass wir zu Christus gehören. Auch wenn wir als Säugling getauft wurden und keine bewussten Erinnerungen an den Ritus haben, unser Leib bewahrt auf seine besondere Weise im Gedächtnis, dass wir auf Christus getauft wurden. Wir sind mit Christus verbunden. Und diese Verbindung entsteht nicht allein durch Gedanken oder Gebete oder durch die Hoffnung, die wir hegen. Die Verbindung mit uns hat Christus selbst gesucht und durch den Heiligen Geist verwirklicht und leibhaftig fest gefügt. Durch unseren Leib gehören wir zu Christus, unsere Leiber sind für ihn genauso kostbar wie die schönsten Tempel der Welt. Um unserer Verbindung mit Christus willen sollen wir unsere Leiber wie einen Tempel hüten und bewahren. So wie Gewalt in einem Tempel keinen Platz hat, so sollen wir auch unseren Leib von Missbrauch und Hass fernhalten. Wie Tempel zu den Festen geschmückt werden, sollen wir an den Fest- und Hochzeiten des Lebens unsere Leiber schmücken. Mit Freude sollen wir jubeln, singen und tanzen. Christus liebt es, dass wir einander ansehen und zueinander sagen: „Schön bist du, wie wunderbar hat Gott dich gemacht.“ Christus liebt unsere Leiber, und wir dürfen das auch, denn wir gehören wirklich und leibhaftig Christus.

Anders als Andere

9. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juli

Ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der Herr sprach aber zu mir: Sage nicht: „Ich bin zu jung“, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende. (Jeremia 1,6-7)

Ach, Herr, Herr“, antwortet Jeremia. Und in diesem „Ach“ klingt an, was schon geschehen ist, was gerade im Werden ist und was noch kommen wird. Gott überschüttet Jeremia, den Propheten, mit Zumutungen. „Ach, Herr“, sagt Jeremia und hofft, dass der Kelch an ihm vorüber geht. Und trotzdem ist das, was Gott ihm zumutet, unvermeidlich. Gott beruft Jeremia dazu, das Gewissen der Nation zu sein. Schweigen ist von jetzt an keine Option mehr. Gottes Wort muss vielmehr ausgesprochen werden. Und Jeremia geht dem Schmerz entgegen, der sein Auftrag mit sich bringen wird.

Die Klage des Propheten wird durch die Jahrhunderte hallen. Kein „Ach“ und keine Zusage Gottes werden die Klage abwenden. „Ach, Herr“ sagt Jeremia, „ich kann es nicht.“ Aber Gott will die Qual zusammen mit ihm ertragen. Gott antwortet auf Jeremias „Ach, Herr“ mit seinem Versprechen. So wird Jeremia die Last tragen können, anders zu sein als die anderen: Er wird unbestechlich sein. Er wird mit kühlem Blick die Weltlage analysieren und mit heißem Herzen reden. Er wird die Gefahren, die von den Großmächten drohen, die seinem Volk im Nacken sitzen, ernster nehmen als diejenigen, die die Entwicklung von Berufs wegen beobachten und entsprechende Warnungen aussprechen müssten. Jeremia wird die falschen Hoffnungen der einfachen Leute zerstören und die Ignoranz der Mächtigen anprangern. Doch seine harten Worte werden Gottes Barmherzigkeit und Gnade in sich bergen, so wie die Knospe die Mandelblüte in sich trägt. Denn Gottes Wort ist in Jeremias Mund. Durch ihn spricht Gott zu denen, die zwar längst erwählt sind, aber nicht danach leben. Auch die Nachbarvölker der Israeliten werden es hören und sich wundern.

„Ach, Herr“, rief Jeremia, nachdem Josia seit 13 Jahren als König von Juda regiert hatte, und die Großmächte in Kriegsstimmung waren. Für den König endete es schlecht. Und Jeremias Spur wird sich in Ägypten verlieren. Aber seine Schüler haben für uns sein „Ach, Herr“ festgehalten und überliefert. Jeremia, das Gewissen der Nation, hatte Freunde. Der Mund Gottes hatte Schülerinnen und Schüler. Und die bewahren bis heute Gottes Wort. Sie halten bis heute Ausschau danach, wie weit die Knospen des Mandelzweigs sind. Sie fürchten sich immer noch vor der Kriegslust der Großmächte. Sie erinnern sich an Jeremias „Ach, Herr“ und rechnen fest damit, dass Gottes Wort schafft, was es sagt.

Wein und Glück

10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), 5. August

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! (Jesaja 62,6-7)

Jerusalem, du hochgebaute Stadt, mein sehnend Herz hält nach deinen Wächtern Ausschau. Wenn ich sie doch entdecken könnte. Noch sind sie nicht zu sehen. Laufen sie noch durch Zions Gassen und Straßen? Sammeln sie sich schon vor dem Heiligtum? Ach, Jerusalem ist noch nicht bereit. Zion wartet noch immer auf den Frieden. Ganz Israel wartet auf gute Nachrichten aus Jerusalem. Wie lange noch, Jerusalem? Wann wirst du so weit sein? Die Wächter auf der Zinne lassen sich Zeit.

Die Nachrichten gleichen sich seit Jahrhunderten. Noch immer herrscht kein Frieden. Die Wächter sollen sich endlich auf ihren Posten begeben. Sie sollen sich mühen, damit endlich Frieden wird. Sie sollen Gott in den Ohren liegen, damit Jerusalem endlich wird, was es ist, die Stadt des Friedens, die Stadt der Gerechtigkeit, die Stadt mit den zwölf Perlen an ihren Toren. Jerusalem, Stadt der Sehnsucht, für die, die in die Ferne verschleppt wurden und ihre Harfen in die Weiden hängten. Ihr Wächter, hört nicht auf, von Gott Frieden für Jerusalem einzufordern, für die Stadt der Träumenden und Erlösten. Ihr Wächter, bedrängt Gott, dass die Verheißung endlich wahr wird: Brot und Frieden, Wein und Glück für Jerusalem. Ihr Wächter, macht es dringend bei Gott. Dann wird die ganze Welt Brot und Frieden haben. Wenn Gott endlich die Verheißung wahr macht, dann feiert die ganze Menschheit mit Wein und freut sich am Glück Jerusalems. Niemand wird dann noch der Stadt das Glück neiden, niemand wird noch Hass für die Töchter Zions empfinden. Die Waffen werden zerbrochen sein und - Zion ist frei.

Mein sehnend Herz hält es Gott vor, dass um Jerusalem noch immer mit Tränen gesät wird. Mein sehnend Herz will mit den Töchtern Zions lachen aus vollem Mund. Mein sehnend Herz will Gott rühmen und singen, weil es Jerusalem gut geht. Als unsere Mütter und unsere Väter über den ganzen Erdkreis zerstreut wurden, haben sie Jerusalem nicht vergessen. Sie haben gebetet und gehofft, dass es Jerusalem gut geht. Heute will ich beten und hoffen, dass es Jerusalem gut geht.

Heute und morgen will ich es mit den Töchtern Zions zusammen tun. Mein sehnend Herz wartet auf gute Nachricht aus Jerusalem, und bis sie kommt, will ich mit den Wächtern an Gottes Toren rütteln.

Katharina Wiefel-Jenner

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