Neue Spiritualität

Lebens- und Glaubensgestaltung
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Die wiederaufgebauten Dörfer aus seiner ehemaligen italienischen Lebenswelt sind für Habenicht Sinnbild für ein kultiviertes Nebeneinander verschiedener Religionen als verschiedene Übungsräume zur Transzendenz.

Womit können wir in der globalen Krise des 21. Jahrhunderts als Glaubende und Handelnde überleben? Wie kann der westliche Mensch der Spätmoderne den Lebensfallen von Beschleunigung und Technisierung entkommen? Wie kann schließlich christlicher Glaube zwischen und gemeinsam mit anderen Religionen seinen Weg finden? Mit einer Spiritualität, die minimalistisch wird, ist ein Weg möglich, so die programmatische und mutige These des Autors von "Leben mit leichtem Gepäck". Vielen mag er damit aus der Seele sprechen.

Der Autor versteht Spiritualität als eine „durch Übung vertiefte Sehnsucht nach Verwandlung durch das Transzendente“. In dieser Definition kommt bereits sein breiter Zugang zur Lebens- und Glaubensgestaltung als geistliche und körperliche Praxis zum Ausdruck. Das ist der Schlüssel zum großen Wurf. Bevor er aber seinen minimalistischen Übungsweg darlegt, analysiert der Autor erfrischend pointiert Kernprobleme der Gegenwart: „Grenzen des Wachstums“, „Armut und Ungerechtigkeit“, „Das erschöpfte und überforderte Individuum“, „Die Religionen und die Gewalt“, schließlich „Die Krise der traditionellen Kirchen in Europa und die Autonomie des Einzelnen“. All diesen Fragen könne nur eine Glaubenspraxis begegnen, welche beim übenden Individuum ansetzt.

Gibt es Beispiele für „übende Individuen“ im christlichen Abendland, unserer eigenen Tradition? Bei den Wüstenvätern, die im Umfeld der Verstaatlichung des Christentums ihre Berufung fanden und sozusagen als Gegenbewegung zur Expansion in die Wüste gingen, findet Habenicht Merkmale minimalistischer Spiritualität. Sie wurzelten in der Verkündigung und Lebenspraxis von Jesu selbst und bildeten die Grundlage für jede christlich-monastische Tradition. Autonomie, Selbstbegrenzung, Beschränkung auf das Essenzielle und Gemeinschaft werden hier als Grundelemente einer minimalistischen Spiritualität aufgezählt und tauchen im weiteren Verlauf des Buches wiederholt auf.

Als zweiten historischen Gewährsmann minimalistischer Spiritualität führt der Autor Martin Luther ein. Originell entwickelt Habenicht anhand von klassischen lutherischen Schriften, wie Luther sein monastisches Erbe in eine „Spiritualität für alle“ umwandelte. Das gute Werk könne nicht mehr als die übende „Arbeit“ am Gottvertrauen im Gebet sein, Gebet sei allerdings auch ein Handeln zugunsten des Nächsten. Lautes Memorieren von Katechismus, Bekenntnis und Gebet als eine beinah verschollene Praxis erscheint durch Habenichts Analysen plötzlich in einem neuen Licht.

Das fünfte Element minimalistischer Spiritualität, die Sensibilität für die Wunden der Gegenwart, zeigt der Autor an den übenden Betern Dietrich Bonhoeffer, Frère Roger und der Schriftstellerin Herta Müller auf, die zugleich in ihrer spirituellen Existenz mit einem Minimum an Tradition auskamen beziehungsweise sich neue, persönliche Zeichen minimalistischer Spiritualität erschufen.

In einer Methode der Korrelation, könnte man beinahe in Anlehnung an Paul Tillich sagen, tritt der Autor mit diesen Erkenntnissen in das Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk ein. Dessen Buch „Du musst dein Leben ändern“ hat den vorliegenden Essay deutlich inspiriert. Auch der populäre Soziologe Hartmut Rosa darf als Gesprächspartner des Minimalisten nicht fehlen, geht es ihm doch um das gemeinsame Anliegen, der Entfremdung des Humanums durch eine Kultur minimalistischer Wahrnehmung zu widerstehen. Denn minimalistische Wahrnehmung ermögliche erst wieder eine Resonanz zwischen den Menschen und Gott.

Im Bild des „Albergo diffuso“, der „zerstreuten Herberge“, formuliert Habenicht schließlich seine Vision. Dazu entlehnt der Pastor, der mittlerweile in der Schweiz arbeitet, aber viele Jahre Seelsorger in Italien war, die wiederaufgebauten Dörfer aus seiner ehemaligen italienischen Lebenswelt, in denen verschiedene Behausungen unterschiedlichen Baucharakters als Gaststätten nebeneinander und miteinander zu einer gastfreundlichen Herberge verwoben waren. Sie sind ihm Sinnbild für ein kultiviertes Nebeneinander verschiedener Religionen, als verschiedene Übungsräume zur Transzendenz. In ihnen werden verschiedene Übungswege beschritten, Fremde als autonome Individuen gastfreundlich empfangen und in der Gemeinschaft angenommen. Habenicht versteht damit Jesu Rede „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.“ (Johannes 14, 2) durchaus als Möglichkeit, verschiedene Religionen nebeneinander bestehen zu lassen. Minimalistische Spiritualität erfordere in letzter Konsequenz Selbstbeschränkung um Gottes Willen. „Wer bereit ist, ein Teil von etwas zu sein, verzichtet darauf, das Ganze sein zu wollen.“

Marcus A. Friedrich

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