Öfter eine Extrameile

In einem Leipziger Hotel betreuen Behinderte und Nichtbehinderte die Gäste
Idyllisch gelegen am Karl-Heine-Kanal in Leipzig ist das Gebäudeensemble der Philippuskirche.
Idyllisch gelegen am Karl-Heine-Kanal in Leipzig ist das Gebäudeensemble der Philippuskirche.
Im ehemaligen Pfarrhaus der Philippuskirche in Leipzig hat das erste Integrationshotel der Stadt eröffnet - ein barrierefreier Begegnungsort für Gäste und Gastgeber gleichermaßen.

Zwölf Jahre lang blieb das Licht in der Philippuskirche aus. Die Türen waren geschlossen, die letzten Klänge der Orgel verhallt. Nur die Lage des denkmalgeschützten Gebäudeensembles mitten im Künstlerviertel Plagwitz-Lindenau war damals wie heute malerisch. Leise fließt der Karl-Heine-Kanal am hundert Jahre alten Pfarrhaus samt Gemeindesaal vorbei. Über allem erhebt sich der Kirchturm.

Als Marlene Schweiger vor fast zehn Jahren nach Leipzig kam, spazierte sie zufällig an dem Grundstück vorbei und blickte in den verwilderten Garten. „Eigentlich müsste man hier einen gastronomischen Betrieb aufmachen, dachte ich damals, aber als Privatfrau war das natürlich utopisch.“ Dass sie heute das im Mai 2018 eröffnete Integrationshotel Philippus leitet - manchmal kann sie es selbst kaum fassen.

Inklusion als Prinzip im Philippus-Hotel: Nicht nur durch die Detailgestaltung der Zimmer, sondern auch beim Personal sollen Behinderungen kein unüberwindbares Hindernis sein.
Inklusion als Prinzip im Philippus-Hotel: Nicht nur durch die Detailgestaltung der Zimmer, sondern auch beim Personal sollen Behinderungen kein unüberwindbares Hindernis sein.

Denn der Weg bis zur Eröffnung war lang. 2012 übernahm das Berufsbildungswerk Leipzig (BBW) das Gebäudeensemble von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen. Kein einfacher Prozess, schließlich war die Philippuskirche nach wie vor ein Gotteshaus. „Mit dem Konzept aus Beherbergung, Bewirtung und Botschaft konnte das BBW die Kirche jedoch überzeugen“, sagt die 37-jährige Hotelchefin. „Die Philippuskirche ist der ideale Ort für Hochzeiten, im Gemeindesaal lässt es sich schön feiern, und schlafen kann man hier auch gleich noch.“

Strahlkraft behalten

Trotzdem wolle man die Kirche als Ort keineswegs kommerzialisieren. „Sie soll ihre Strahlkraft behalten, ein Begegnungsort bleiben.“ Die Kirche selbst wird überwiegend aus Fördergeldern renoviert. Der Umbau des Pfarrhauses kostete rund 4,5 Millionen Euro. Neben einem Zuschuss der Aktion Mensch übernahm vor allem das BBW einen Großteil der Kosten.

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Entstanden ist ein Ort, an dem Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. „Es war nicht leicht, qualifiziertes Personal zu finden, alle suchen händeringend nach Fachkräften“, sagt Marlene Schweiger, wobei das Problem oft nicht auf Seiten der integrativen Mitarbeiter gelegen habe. „Sie haben offen über ihre Stärken und Schwächen geredet und waren allesamt hochmotiviert.“ Gerade diesen Enthusiasmus habe sie bei den anderen Bewerbern oft vermisst. „Vielleicht gab es auch Berührungsängste, mit Menschen mit Behinderung zusammenzuarbeiten.“ Von denen, die sich auf einen integrativen Arbeitsplatz beworben haben, hatten viele bereits wahre Bewerbungsmarathons hinter sich, wurden aber allzu oft wegen ihrer Behinderung abgelehnt. „Diesen Stein haben wir nicht, wir wollen ja genau diese Menschen“, sagt Marlene Schweiger. Trotzdem musste auch sie Absagen verteilen. „Am Ende sind wir ein Betrieb, der laufen muss.“ Zu große Einschränkungen und ein zu hoher Betreuungsaufwand wären für alle über kurz oder lang schwierig geworden. „Das ist schade, vor allem, wenn das Potenzial da war und die Motivation stimmte.“

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In dem Integrationsbetrieb haben sieben der fünfzehn Mitarbeiter eine Beeinträchtigung, also eine psychische Erkrankung, Sinnesbeeinträchtigungen, körperliche oder kognitive Einschränkungen. „Sie glauben gar nicht, wie oft es vorkommt, dass Gäste an der Rezeption stehen, die gar nicht verstehen, warum wir ein Integrationshotel sind. Schließlich wäre ihnen noch kein Menschen mit Behinderung begegnet.“ Marlene Schweiger lacht. „Dann sage ich oft, diese junge Dame vor Ihnen, die sieht Sie gar nicht. Ich mag diesen Überraschungseffekt.“ Rezeptionistin Eileen Wiedemann hat ein Restsehvermögen von drei Prozent und kann die Gäste nur schemenhaft erkennen. Ihr Arbeitsplatz ist auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Auf dem Computerbildschirm braucht sie eine Vergrößerung von 300 Prozent, die Tastatur hat extragroße Buchstaben, die von unten beleuchtet werden. Dokumente liest sie mithilfe eines Lesegeräts. Und ihre mobile Lupe, die aussieht wie ein Tablet, kann sie immer bei sich tragen. „Wir gehen oft eine Extrameile, weil wir gute Gastgeber sein wollen und weil es für unser Team das schönste Lob ist, wenn ein Gast zufrieden ist“, sagt die Hotelchefin.

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Aufgaben unerledigt zu lassen ist für Felix Matthé, 29, ein Graus. Schwungvoll wischt er den Boden im hundert Jahre alten Treppenhaus, arbeitet sich zügig vom vierten Stock bis ins Untergeschoss vor. „Da bleibe ich lieber mal etwas länger und mache alles fertig“, sagt der ehemalige Bundeswehrsoldat, der offiziell als Gebäudereiniger im Hotel angestellt ist, aber überall einspringt, wo Hilfe benötigt wird. Felix Matthé hat jahrelang nach einem Job gesucht. „Meist kam ich aufgrund meines Krankheitsbilds und meiner Beeinträchtigungen nicht infrage.“ 2012 haben die Ärzte einen Tumor im Kopf des jungen Mannes entdeckt und ihn operativ entfernt. „Direkt nach der OP hatte ich einen Schlaganfall und bin erst Wochen später wieder aufgewacht. Am Anfang lag ich nur im Bett, konnte mich nicht bewegen, nahm 20 Kilo ab.“ Sein motorisches Zentrum war beschädigt, eine linksseitige Lähmung die Folge. Er musste das Laufen neu lernen und kämpft noch heute mit den Folgeschäden. Seine Feinmotorik ist nach wie vor eingeschränkt, zudem werfen ihn epileptische Anfälle immer wieder aus der Bahn. So wie am letzten Wochenende. „Mein linkes Bein fühlte sich noch Stunden danach an wie Wackelpudding.“ Trotzdem kam er tags drauf zur Arbeit. „Meinen Kollegen kann ich offen sagen, dass es mir nicht gut geht. Manchmal brauche ich dann Distanz oder jemanden, der mir unter die Arme greift.“ Aber Hilfe anzunehmen fällt ihm nicht leicht, „daran muss ich noch arbeiten.“ Auch seine Konzentrationsfähigkeit ist eingeschränkt, sagt er, daher braucht er klare Instruktionen und Anweisungen.

Ein Balanceakt

Konzentrationsschwierigkeiten seien immer wieder ein Thema, sagt Marlene Schweiger und betritt den Frühstücksraum. Bereits nach zwei Sekunden zeigt die Hotelbetriebswirtin auf ein Messer und eine Gabel. „Das hier ist so ein Klassiker“, sagt sie und dreht das Messer um, „die Schneideseite lag auf der falschen Seite. An vier Tischen klappt es gut und am fünften dann nicht mehr.“ Ihre langjährige Erfahrung in der Hotelbranche hat ihren Blick für Details geschärft. „Das macht es meinen Mitarbeitern auch oft schwer mit mir“, sagt sie. „Aber es gilt ja, die Anforderungen der Gäste zu erfüllen.“ Und die seien nicht anders als in jedem anderen Haus.

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„Manchmal ist es ein Balanceakt, die richtige Spanne zwischen fordern und fördern zu finden, ohne zu überfordern.“ Das Wichtigste in der Zusammenarbeit sei die offene Kommunikation, vor allem wenn es Probleme gibt. „Mittlerweile schreiben wir alles auf, machen Listen.“ Aber nicht jede Liste funktioniert für jeden. Oft seien es Kleinigkeiten, wie das Licht ausmachen oder den Müll rausbringen, an die sie ihre Mitarbeiter täglich erinnern muss. „Das ist auch für mich manchmal frustrierend“, sagt sie. „Aber das ist ja wie in jedem anderen Betrieb auch, nur hast du dort oft Leute, die können es, aber wollen nicht oder sind einfach nicht motiviert.“ Fehlende Motivation sei in ihrem Team kein Problem. „Und trotz der täglichen Herausforderungen darf ich so viel Schönes, Zwischenmenschliches erleben“, sagt sie. „Aber es geht eben viel über den Arbeitsprozess hinaus, damit du den eigentlichen Arbeitsprozess sichern kannst.“ Daher müsse sie sich individuell auf jeden Mitarbeiter einstellen.

Weites Netz

Und auf die Gäste. „Wir tun alles Machbare“, sagt Marlene Schweiger. „Letztens hatten wir eine Rollstuhlfahrerin im Haus, als der Fahrstuhl plötzlich ausfiel. Zwei Jungs vom Pflegedienst der Diakonie haben die Dame dann morgens zum Frühstück getragen.“ Später konnte das Team einen Treppenlift organisieren, den ein Sanitätshaus zur Verfügung gestellt hat. Das Hotel hat ein weitreichendes Netzwerk an Kooperationspartnern, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Berufsbildungswerkes, das auch beim Um- und Ausbau des Hotels zum Einsatz kam. „Diesen Schrank hier hat beispielsweise die Werkstatt für behinderte Menschen der Diakonie am Thonberg für uns angefertigt.“ Er ist unterfahrbar, hat Schiebetüren sowie einen Schranklift und ist damit bestens auf die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern zugeschnitten.

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Es sind diese vielen Details, die das Integrationshotel zu einem barrierefreien Wohlfühlort für Menschen mit Behinderung machen: Ob Sprachansagen im Fahrstuhl, Blitzlichtsignalanlage auf den Zimmern oder Notfallklingeln im Bad. „Wir können sogar Pflegebetten in die Zimmer stellen und haben einen ambulanten Pflegedienst als Backup.“

Auf dem Hotelflur trifft Felix Matthé mit seinem Reinigungswagen auf Anne Kratzin, 27. „Bei dir alles in Ordnung?“, fragt er. „Ja, alles gut“, sagt sie und trägt frische Bettlaken in ein Gästezimmer. Die junge Frau ist seit ihrer Geburt gehörlos. Seit 2002 trägt sie ein Implantat, „wenn ich das Gerät ausmache, höre ich gar nichts“, sagt sie. „Anne arbeitet als Aushilfe bei uns, weil momentan viel Betrieb ist“, sagt Marlene Schweiger. Heute stehen acht Abreisen und drei Bleiben auf ihrem Putzplan. In anderen Hotels musste sie sich in der gleichen Zeit um bis zu 20 Zimmer kümmern. „Hier ist der Zeitdruck nicht so groß. Das Zimmer ist fertig, wenn es fertig ist.“ Hauptsache, alles sei topsauber. „Das ist Anne“, sagt die Hotelchefin und zeigt auf ordentlich arrangierte Kaffee- und Teetütchen. „Sie hat einen besonderen Blick für Details.“

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Eine Bibel sucht man in den Zimmern allerdings vergeblich. „Wir wollen hier niemanden missionieren, sondern offen sein für die Begegnung, der Austausch ist uns wichtig.“ Manchmal komme es vor, dass sich Gäste einen Reisesegen für die Rückfahrt wünschen. Dann ruft Marlene Schweiger kurzerhand bei Pfarrer Dr. Volker Klein an, der in einem provisorischen Büro im Nachbargebäude sitzt. Er arbeitet als Theologe im BBW und ist der Philippuskirche zugeteilt. Noch arbeiten die Handwerker in der Kirche. Baustaub liegt über den Kirchbänken. Anfang Mai soll die große Einweihung stattfinden. Bereits jetzt finden in den alten Gemäuern aber regelmäßig Veranstaltungen statt. Alles durch Ehrenamtliche organisiert und auf Spendenbasis. „Die Kirche ist kein kommerzielles Mietobjekt“, sagt der Theologe, „sondern soll ein barrierefreier und inklusiver Ort sein. Unsere Türen stehen allen offen.“

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Volker Klein (rechts) ist Pfarrer in der benachbarten Kirche, die im Mai wieder eröffnet werden soll.
Volker Klein (rechts) ist Pfarrer in der benachbarten Kirche, die im Mai wieder eröffnet werden soll.

Weitere Informationen

Integrationshotel Philippus Leipzig, Aurelienstr. 54, 04177 Leipzig, Tel. 0341 / 42 06 69-0. EZ ab 69 Euro, DZ ab 79 Euro.

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Text: Kristin Kasten / Fotos: Katharina Behling

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