„In die Mitte der Gesellschaft kommen“

Ein Gespräch mit der früheren Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John über Integration von Migranten, Kopftücher und moralische Showeffekte der Kirchen
Foto: Holger Gross
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zeitzeichen: Frau Prof. John, Deutschland ist ein Einwanderungsland, darüber wird auch in der Politik nicht mehr gestritten. Aber das Stichwort „Integration“ reizt immer zu heftigen Diskussionen. Warum?

BARBARA JOHN: Integration ist der Leitbegriff in der gesamten Einwanderungsdebatte, denn erst durch Integration wird Einwanderung fruchtbar, so die Vorstellung. Schade nur, dass der Begriff unklar, vage und irreführend ist. Er wird so verstanden, als wäre man am Ende des Prozesses der „Integrierte“, der das „Anderssein“ völlig aufgegeben hat. Das kann nicht das Ziel sein.

Was ist denn das Ziel? Wann ist Integration gelungen?

BARBARA JOHN: Wenn einem Mensch Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern und Werten gegeben wird. Wenn er nicht am Rand der Gesellschaft steht, sondern mittendrin. Und das erreicht er durch Arbeit und Bildung. Ich bin ein großer Anhänger des Grundsatzes „Work first“ in Verbindung mit Sprachtraining. Deshalb haben wir ja auch hier im Paritätischen Wohlfahrtsverband eine Vermittlungsagentur gegründet, wo wir Flüchtlinge und Vertreter der Wirtschaft zusammenbringen. Denn wenn ein Mensch aus dem Ausland hier einen Arbeitsplatz findet und aus- oder weitergebildet wird, erweitert das seinen Lebenshorizont über die eigene Sprach- und Kulturgemeinschaft heraus. Er bleibt nicht gefangen in der Herkunftsgesellschaft. Gleiche Rechte durch Einbürgerung ist ebenfalls ein Muss. Fehlt diese Gleichstellung, schafft man Bevölkerungsgruppen, die Bürger zweiter Klasse sind. Das abgeschwächte Modell des früheren Südafrika.

Wenn das Ziel so klar ist, wie Sie es beschreiben - warum tun wir uns trotz jahrzehntelanger Erfahrung mit dem Thema Integration so schwer?

BARBARA JOHN: Weil es nicht auf Knopfdruck geht, und es geht auch nicht nur um Geld. Es muss gewollt werden von den Einwanderern und von den Aufnehmenden. Jede Veränderung durch Einwanderung stellt vertraute Gewissheiten wie Kultur, Sprache, Verhaltensweisen in Frage. Außerdem hat jede Generation Angst um den erarbeiteten Wohlstand. Dann gibt es in Deutschland einen dicht geknüpften Wohlfahrtsstaat, den nur die Steuer- und Beitragszahler aufrechterhalten, wissend, dass Flüchtlinge für längere Zeit diese Unterstützung brauchen, ohne selbst einzuzahlen. Es gibt viele internationale Studien, die zeigen, dass die notwendige Solidarität dann rapide sinkt, wenn die Transfers für Einwanderer höher sind als die positiven Arbeitsmarkteffekte der Neuen. Unter den OECD-Staaten hat Deutschland sehr niedrige Wohlfahrtsgewinne für alle durch Einwanderung. Das liegt an der geringen beruflichen Qualifikation der Einwanderer. In Kanada und Irland ist das anders. Es kommt also auch auf die berufliche Qualifikation der Einwanderer an und vor allem auf die Zahlen. Wie viel Einwanderung in welchem Zeitraum kann ein Land verkraften, wirtschaftlich politisch, kulturell? Das sind nur einige Variablen, die es zu bedenken gilt. Einwanderungsprozesse so zu steuern, dass eine breite Bevölkerungsmehrheit dahinter steht, ist eine der schwierigsten politischen Aufgaben. Obwohl wir uns erst seit kurzem als Einwanderungsland verstehen, haben wir in den vergangenen Jahren weit mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle klassischen Einwanderungsländer zusammen. Keiner dieser Staaten hätte seiner Bevölkerung eine Politik offener Grenzen für Asylbewerber zugemutet. Wir als Neulinge schon. Wir haben uns auf einen steinigen Weg begeben und müssen mit unerwünschten, beispiellosen Folgen rechnen. Einige erleben wir gerade.

Sie verweisen damit auf den Erfolg der AfD. Ist er ein Beleg für Fehler in der Einwanderungs- und Integrationspolitik?

BARBARA JOHN: Nur eine der befürchteten Nebenwirkungen. Eine andere ist das Auseinanderdriften der Bevölkerung in dieser Frage, hervorgerufen durch die Taubheit der Regierung, kritische Stimmen hören zu wollen. So entsteht empörtes Schweigen in der Mitte und explosive Radikalisierung an den Rändern.

2015 kamen ja auch sehr viele Muslime nach Deutschland. Viele Deutsche haben nun Angst vor einer Islamisierung unserer Gesellschaft. Sind Muslime tatsächlich schwerer zu integrieren?

BARBARA JOHN: Wir haben uns ja nicht einmal verständigt, ob Deutschland sie wirklich als muslimische Einwanderer integrieren will und nicht nur als Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge. Die ablehnende Haltung gegenüber Muslimen hat eine lange Tradition in Deutschland. Dass die Türken 1529 und 1683 Wien erobern wollten, scheint im kollektiven Gedächtnis gespeichert zu sein und bis heute zu wirken. Anders als in London oder Paris hat Berlin keine einzige repräsentative Moschee, sichtbar und im Zentrum. Die Erteilung von muslimischem Religionsunterrichts war mehr als 40 Jahre lang nicht gewollt. Das ändert sich gerade mit der Ausbildung von islamischen Religionslehrern an der Humboldt Universität. Zwar wurde Integration in den Arbeitsmarkt gewünscht und gefördert, aber im öffentlichen Raum sollte der Islam in Deutschland möglichst unsichtbar bleiben. In den Achtzigerjahren wurden noch Anträge auf Einbürgerung abgelehnt, weil Nachbarn aussagten, dass die betreffende Person regelmäßig in die Moschee geht und wenig Kontakte zu Deutschen habe. Dabei kamen die damaligen Muslime unter den „Gastarbeitern“ aus einem laizistischen Staat, den Kemal Atatürk geprägt hatte. Wenige Kopftuchträgerinnen waren zu sehen. Dass es heute mehr sind, ist Ausdruck einer vom Grundgesetz vorgegebenen offenen, pluralen Gesellschaft, auf die viele Zeitgenossen allerdings gern verzichten würden. Noch ein Stein auf dem Integrationsweg.

Aber 9/11 und die Terroranschläge in Paris, Nizza, Brüssel und Berlin haben doch gezeigt, dass es eine reale Bedrohungslage gibt, die zumindest religiös begründet wird.

BARBARA JOHN: Die mörderischen Anschläge haben Ängste, Vorbehalte und Feindbilder verstärkt. Die Attentäter wissen, wie Hass gesät wird. Es stimmt, was der Schriftsteller und Philiosoph Manes Sperber gesagt hat, dass jeder Gewalttäter in einer Minute mit einem Messer kaputt machen kann, was in Jahren aufgebaut wurde. Es kann auch nicht beruhigen, dass Muslime ebenfalls und in vielen Ländern in erster Linie Opfer von IS-Anschlägen waren und sind. Was helfen kann, sind institutionalisierte und spontane Begegnungen und Gespräche mit Muslimen, wo immer es passt, im Alltag, bei der Arbeit, in der Nachbarschaft, in der Schule, in der Uni, in religiösen Gemeinschaften.

Dennoch bleibt doch der Generalverdacht, dass einem gläubigen Muslim im Zweifel seine religiösen Gebote wichtiger sind als das Grundgesetz.

BARBARA JOHN: Woher wollen Sie das wissen? Wieder so eine selbstverständliche Gleichsetzung, Muslimsein kann nicht vereinbar mit Demokrat sein. So gesehen könnten Sie auch alle gläubigen Christen unter diesen Generalverdacht stellen mit dem Satz: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Aber es hilft ja nicht, sich Zitate aus dem Koran und der Bibel um die Ohren zu hauen. Wichtig scheint mir, dass Religionen in säkularen Staaten eng zusammenarbeiten und gemeinsam für Toleranz werben. Und zwar nicht nur für sich, sondern gerade auch für gesellschaftliche Minderheiten wie Homosexuelle und gleichgeschlechtliche Partner. Religiöse Gruppen brauchen in säkularen Gesellschaften Akzeptanz und Wertschätzung. Wer Toleranz braucht, muss sie auch anderen gewähren.

Die Frage ist, wo die Toleranz enden muss. Was ist verhandelbar, was nicht?

BARBARA JOHN: Die Grenzen der Toleranz kennen wir genau, die ziehen Recht und Gesetz. Da dürfen keine Rabatte wegen kultureller oder religiöser Prägung gewährt werden, wie es hier und da geschieht. Aber es gibt ja den großen Raum nicht kodierten Verhaltens in der Gesellschaft. Etwa bei der Kleidung oder der Frage, ob man sich zur Begrüßung die Hände schüttelt oder sich verbeugt, oder im Umgang der Geschlechter miteinander und vieles mehr. Auch hier wollen wir am liebsten feste Regeln erlassen und deren Einhaltung streng kontrollieren. Eine deutsche Besonderheit, möglicherweise eine Frucht unserer „Untertanenvergangenheit“ , einschließlich der beiden deutschen Diktaturen mit ihren Normierungen. Wir schätzen die Ausländer am meisten, denen man nicht ansieht, dass sie aus einer anderen Kultur kommen. Schon gar nicht, wenn sie auch noch darauf bestehen und uns mit dem Grundgesetz kommen.

Also Kopftuch ist okay?

BARBARA JOHN: Selbstverständlich, es ist doch nicht wesentlich, ob ein Mensch Kopftuch, Turban oder ein Basecap trägt. Jeder kleidet sich, um damit auch zu zeigen wer er ist und wie er sich in dieser Welt positioniert. Das Kopftuch ist auch ein solches Identitätsmerkmal. Aber viele setzen es autoritär gleich mit Islamismus und erzwungener Herrschaft des Mannes über die Frau. Warum sprechen sie den Frauen grundsätzlich ab, dass sie es aus eigenem Willen tragen? Gründet diese Einstellung nicht in einem Dominanzstreben? Wird nicht damit genau das bewirkt, was zu verhindern ist? Drängen wir die Kopftuchträgerinnen nicht zurück in die inneren, islamischen und manchmal islamistischen Kreise?

Und was ist, wenn eine muslimische Frau mit Kopftuch Lehrerin werden will?

BARBARA JOHN: Grundsätzlich ja, das hat auch das zweite Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Das oberste Gericht hatte ja in einem ersten Urteil 2003 anders entschieden und forderte für ein Verbot Landesgesetze. Berlin schuf das heute rechtlich überholte Neutralitätsgesetz. 2015 hat das Bundesverfassungsgericht dann deutlich gemacht, dass Verbote nur dann gerechtfertigt sind, wenn durch das Tragen eine „hinreichend konkrete Gefahr“ für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität ausgehe. Eine abstrakte Gefahr reicht nicht aus. Endlich wurde klargestellt, dass Kopftuchträgerinnen auch Grundrechtsträgerinnen sind. Das geht vielen gegen den Strich. Sie ziehen die Grenzen von Toleranz nach ihren eigenen Maßstäben, nicht in Respekt vor der Freiheit ihres Mitmenschen. In einer Einwanderungsgesellschaft kann eigentlich nur ein Satz gelten: Es ist nicht wichtig, wer die wahre Lebensweise hat, sondern wie wir trotz unserer Unterschiede friedlich zusammenleben können. Toleranz zu lernen ist für alle wie einen steilen Berg zu besteigen. Nur oben geht es gemeinsam weiter, unten liegt der Abgrund.

Sie waren in den achtziger Jahren Ausländerbeauftragte in Berlin und sind damit eine Pionierin der Integrationspolitik. Was war damals anders im Vergleich zu heute?

BARBARA JOHN: Auf konservativer Seite wurde nicht akzeptiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war und nun seine Gesetze, die Infrastruktur und die Einstellungen verändern muss. Lieber zurückschicken, Familiennachzug erschweren und für Nachzügler keine Arbeitserlaubnisse erteilen. Das war nicht förderlich für einen langsam wachsenden Zusammenhalt von Einheimischen und Einwanderern. Aber auch die Linken waren nicht hilfreich.

Was war das Problem?

BARBARA JOHN: Es herrschte die Vorstellung, dass Integration in Deutschland automatisch Identitätsverlust für Ausländer bedeutete. Alles, was als „deutsch“ galt, war historisch belastet und naziverdächtig. „Deutscher“ zu werden durch Einbürgerung war gleichbedeutend mit kultureller Hinrichtung. Selbst verpflichtende Sprachkurse waren geächtet, widersprachen dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft. Das hatte Folgen, die heute beklagt werden. Türkische Einwanderer, besonders Jugendliche wurden zurückgewiesen, wenn sie bei Events buchstäblich Flagge zeigen wollten. Noch krasser wurde die Ablehnung, als sie begannen, Fabrikräume in Gebetsstätten umzubauen. Das hat dann dazu geführt, dass sie bewusster ihre eigene nationale Kultur betonten und sich stärker ans Herkunftsland anlehnten. Zum Anlehnen gab es hier wenig.

Sie sind die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin. Welche Rolle spielen Wohlfahrtsverbände und Kirchen bei der Integration?

BARBARA JOHN: Wohlfahrtsverbände und Kirchen sind zuverlässige und innovative Unterstützer der Integration. Als Träger zahlreicher Integrationsmaßnahmen, die der Staat an die Wohlfahrtsverbände und die kirchlichen Werke delegiert hat, können sie unbürokratisch arbeitende, moderne Eingliederungsarbeit leisten und profitieren von vielen Ehrenamtlichen. Allerdings gibt es auch hier Brüche. Einen Konflikt werde ich nie vergessen.

Worum ging es da?

BARBARA JOHN: Anfang der Neunzigerjahre wurde das Kirchenasyl schon einmal sehr kontrovers diskutiert. Der frühere bayerische Innenminister Günther Beckstein (csu) und auch der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily (spd) hatten vorgeschlagen, dass der Staat den Kirchen eine Quote von Asylbewerbern zuteilt, für deren Betreuung und Integration sie auch finanziell einstehen sollten. Die Reaktion? Um Gottes Willen! Das ist eine staatliche Aufgabe. Von der anfänglich hohen Moral mit Showeffekt blieb nicht viel übrig, als volle Verantwortungsübernahme gefragt war.

Haben Sie die Kirchen auch in den vergangenen Jahren als übermoralisch wahrgenommen?

BARBARA JOHN: Ich wünsche mir heute noch, dass es, wie in Kanada, das Angebot von Patenschaften gibt. So könnten Kirchen, aber auch andere Gruppen für eine längere Zeit Verantwortung für die Integration ausgewählter Einwanderer übernehmen. Der Staat könnte helfend zur Seite stehen und möglicherweise auch einen Teil der Sozialkosten tragen. Das würde zu verantwortlichem Realismus führen und gleichzeitig das Potenzial der Kirchen voll ausschöpfen. Sie leisten viel, wenn es um Anwaltschaft geht. Moralische Forderungen an die Politik bekämen so auch eine höhere Glaubwürdigkeit. Und es könnte auch ein wichtiges Signal an alle Bürger sein, sich verantwortungsvoll an gelingender Teilhabe für alle in unserer Gesellschaft zu beteiligen.

Das Gespräch führten Stephan Kosch und Reinhard Mawick am 27. August in Berlin.

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Interview: Stephan Kosch und Reinhard Mawick

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