Kämpferisch

Auf der Flucht
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Die Geschichte einer Olympionikin, die auf ihrer Flucht Leben rettete.

Die Kulturbühne in Berlins größter Buchhandlung in der Friedrichstraße ist überfüllt. Zwei Tage vor dem offiziellen Erscheinungstermin ihres Buches ist Yusra Mardini gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Sara gekommen, um von ihrer Flucht und ihrem Leben in Deutschland zu erzählen. Auf jedem Stuhl liegt eine Bademütze - ein Hinweis darauf, was die 20-jährige Yusra mit Leib und Seele ist: Schwimmerin. „Ich schwimme, noch ehe ich laufen kann“, verrät sie gleich zu Beginn des Buches. Ihr Vater ist Schwimmlehrer, ihre Schwester schwimmt.

Yusra erlebt vor dem Fernseher den US-Schwimmer Michael Phelps bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen und, „(.) von diesem Augenblick an bin ich Feuer und Flamme“. Wie ihr Vater ist sie extrem ehrgeizig, will es eines Tages auch zu Olympia schaffen. Sie wird es tatsächlich schaffen, doch das allein macht sie noch nicht berühmt, sondern erst die Kombination schlimmer und schöner Schicksalswendungen in ihrem Leben. Yusra kommt aus Syrien, sie wächst in einem Vorort von Damaskus auf. Ihre Familie ist muslimisch, doch praktiziert sie den Islam sehr liberal.

In ihrem Leben dreht sich alles um das Schwimmen, nicht um Religion. Selbstredend tragen Yusra und Sara weder Kopftücher noch Burkinis. Bereits vor dem Krieg nehmen sie für Syrien an internationalen Wettkämpfen teil. Anschaulich schildert das Buch, wie sich das Klima im Land verändert, wie es mit Beginn der Demonstrationen gegen das Assad-Regime immer gefährlicher wird, dort zu leben und zu trainieren.

Eines Tages fällt eine Bombe durch das Dach der Schwimmhalle in das Becken, in dem Yusra trainiert, und detoniert nicht. Überstürzt beschließen die Schwestern zu fliehen. Sie möchten nach Deutschland: „Ein guter Ort, um zu studieren. Ein guter Ort für eine Zukunft.“ Die detaillierte Schilderung der Flucht, das Ausgeliefertsein gegenüber den Schleusern, dem Meer, der Angst vor dem jederzeit möglichen Tod lässt den Leser erahnen, was die Flucht für zigtausende Menschen bedeutete, die im Sommer 2015 Syrien verließen. Ohne die Schwestern Yusra und Sara wäre das überfüllte Schlauchboot auf dem Mittelmeer gekentert. Weil der Motor versagte, gingen die beiden für Stunden ins Wasser und zogen das Boot Richtung Lesbos. Abenteuerlich ging es weiter, noch immer gefährlich, am Ende aber glücklich durch Ungarn, über Wien und München bis nach Berlin. Eine viele Wochen lange, sogar privilegierte Flucht, denn die Schwestern hatten mehr Geld als die meisten Flüchtlinge, und ihre Gruppe wurde von Journalisten, die sie unterwegs getroffen hatten, unterstützt. Von alldem erzählt Yusra, mal auf Deutsch, mal auf Englisch, souverän beantwortet sie die Fragen. Sie tritt auf wie ein Model, sympathisch, selbstbewusst, sichtlich daran gewöhnt, vor Publikum aufzutreten.

Seit ihrer Ankunft in Berlin trainiert sie beim Verein „Wasserfreunde Spandau“, wo sie auch ihre ersten deutschen Freunde findet. 2016 erfüllt sie sich ihren Traum: Sie nimmt in einem Team von Flüchtlingsathleten an der Olympiade in Rio de Janeiro teil. Das TIME-Magazin reiht sie 2016 unter die einflussreichsten Teenager weltweit ein. Sie trifft mit Präsident Obama und Papst Franziskus zusammen. Dieses Buch, das zugleich auf Englisch erscheint, wird sie noch bekannter machen, ihr Leben soll verfilmt werden. Am meisten aber interessiert Yusra die nächste Olympiade in Tokio. Denn sie definiert sich nicht primär als Geflüchtete, sondern als Schwimmerin. Wer neugierig ist auf unglaubliche, aber wahre Geschichten, wer überhaupt neugierig ist auf die Menschen, die zu uns geschwommen sind, ist bei diesem Buch, das auch tolle Fotos enthält, genau richtig.

Martin Bauschke

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