Ein Bischof im Shitstorm

Der Anspruch eines „prophetischen Wächteramts“ der Kirche ist gefährlich
Bischof Martin Hein bei der Kundgebung nach einer Demonstration gegen rechte Gewalt 2011 in Kassel. Fotos: epd/ Andreas Fischer
Bischof Martin Hein bei der Kundgebung nach einer Demonstration gegen rechte Gewalt 2011 in Kassel. Fotos: epd/ Andreas Fischer
Die Politisierung der Religion ist eine Entwicklung, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat. Dazu kommt eine Radikalisierung, auch wegen neuer Medien. Wie soll man als Bischof dem begegnen? Das erörtert der Theologe Martin Hein, der seit dem Jahr 2000 Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck ist.

Am 21. November 2016 hielt ich meinen jährlichen Bischofsbericht vor der Landessynode. Das Thema lautete: „Barmherziger Gott“. Er widmete sich der Frage, ob Juden, Christen und Moslems an denselben Gott glauben. Konkret ging es um die Frage, welche Form gemeinsamen Betens theologisch verantwortbar ist. Ich vertrat die These, dass die drei sogenannten monotheistischen Religionen zu demselben Gott beten, wenn auch nicht auf dieselbe Weise und nicht mit derselben Intention, weil hinter ihren Gottesbildern je eigene Erfahrungen liegen. Ich konzentrierte mich auf die spezifisch theologische Fragestellung und knüpfte dafür an aktuelle wie historische Argumente an. Mir ging es um den Versuch der Klärung dringlicher praktischer und liturgischer Fragen etwa bei Schulgottesdiensten oder interreligiösen Trauerfeiern. Eine politische Intention lag mir fern.

Der noch am selben Tag über mich hereinbrechende Shitstorm (anders kann ich es nicht nennen) belehrte mich eines Besseren. Das theologische Thema war hochpolitisch. Offenkundig hatte ich in ein Wespennest gestochen. Die Aggressivität vieler Reaktionen überraschte mich ebenso wie die Tatsache, dass meine Ausführungen sofort als politische Äußerung interpretiert wurden. Die heftige Ablehnung meiner Überlegungen kam zum größten Teil aus einem religiösen und politischen Umfeld, das ich als zumindest konservativ, auf jeden Fall aber hoch erregt bezeichnen möchte. Manche E-Mails und Briefe zeigten ein deutlich fundamentalistisches und nationalistisches Profil. In dem im engeren Sinn theologischen Bereich war die Kritik zumeist sachlich gelagert: Das war es ja, was ich intendiert hatte. Dass aber selbst die aufgeflammte akademische Debatte gelegentlich ideologisch anmutende Züge von Verbissenheit einnahm, zeigte mir, dass man sich der politischen Dimension der Religion nicht entziehen kann.

Die Politisierung der Religion ist eine Entwicklung, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat. Die Gründe dafür sind komplex. Sich allein auf die Erfahrungen des Sommers 2015 mit der Öffnung der deutschen Grenzen für geflüchtete Menschen zu beziehen oder den islamistischen Terror in Europa anzuführen, ist eine fahrlässige Verkürzung dessen, was schon länger gesamtgesellschaftlich zu beobachten ist: Die Radikalisierung hat ganz wesentlich mit den erweiterten Resonanzräumen zu tun, die über die „sozialen Medien“ und ihre Wirkung auf den Journalismus neue Formen von Verbreitung, Kommentierung, Positionierung und Reichweitenverkürzung erzeugt haben. Es gibt eine Tendenz zur Skandalisierung, zur Vergröberung, zur demonstrativen Ignoranz gegenüber differenzierten Argumentationen, die einen das Fürchten lehrt. Ich sage das so pointiert, weil ich exakt die Aussage „Wir glauben an denselben Gott“ in meinem Bischofsbericht im Jahr 2010 schon einmal gemacht hatte. Sie blieb damals fast ohne Resonanz. In der Öffentlichkeit wurde sie überhaupt nicht rezipiert. Das zeigt: Der Kontext macht eine Aussage politisch. Plötzlich wird als politisches Votum, gar als politische Anmaßung aufgefasst, was vorher kaum zur Kenntnis genommen wurde.

Woran liegt das? Ich nehme eine - zugespitzt formuliert - „Politisierung“ des Politikbegriffs wahr. Der Begriff des „Politischen“ wird auf „parteipolitisch“ reduziert und somit ideologisiert. Dabei ist für ein demokratisches Gemeinwesen mit einer freiheitlichen Verfassung das „Politische“ viel umfassender zu verstehen: „Politisch“ sind auch bürgerschaftliches Engagement, zivilgesellschaftliche Teilhabe und individueller Einsatz für Aufgaben des Gemeinwohls.

Göttliche Mandate

Die evangelische Kirche hat lange gebraucht, das zu begreifen und zu bejahen: Jahrhundertelang war sie als Teil des Staates nicht gefordert, sich „politisch“ zu positionieren, solange sich die Obrigkeit als christliche verstand. Ein „politisches“ Christentum gab es im Grunde nur außerhalb der evangelischen Kirchen, wogegen der Katholizismus in der 1870 gegründeten Zentrumspartei von Anfang an eine parlamentarische politische Stimme besaß.

Insofern stellte für die evangelischen Kirchen das Jahr 1918 einen ungeheuren Einschnitt dar: Plötzlich waren sie auf sich allein gestellt und mussten sich im demokratischen Staat der Weimarer Republik - modern gesagt - gemeinwesenorientiert „politisch“ positionieren. Dass diese Frage nicht wirklich geklärt war und der Protestantismus in weiten Teilen der Demokratie ablehnend gegenüberstand, wurde spätestens mit der Macht-übernahme der Nationalsozialisten deutlich. Es war die „Bekennende Kirche“ (die einen sehr viel weniger einheitlichen Block darstellte, als der Begriff erheischt), die für die Verhältnisbestimmung von Politik, Staat und Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 einen sachgemäßen Ausdruck fand: Die Kirche wird in dem Augenblick unausweichlich politisch, wo sich der Staat seinerseits religiöse Attitüden aneignet oder einen Totalanspruch auf das Leben der Menschen erhebt. Dietrich Bonhoeffer formulierte damals die Lehre von den „göttlichen Mandaten“, die Christen in der Gesellschaft aufgegeben seien und die eben per se politisch sind: Arbeit, Familie, Staat und Kirche. Christliches Dasein, formulierte er, ist Da-Sein für andere. Die Kirche ist nicht mehr Teil der Obrigkeit und des Staates, aber Teil der Gesellschaft. Als solcher hat sie eine politische Stimme - wenn es sein muss, bis zum Widerstand.

Das ist freilich zu unterscheiden von einem gelegentlich reklamierten „prophetischen Wächteramt“ der Kirche. Hinter diesem Gedanken verbergen sich für mich nicht nur theologisch, sondern auch gesellschaftlich problematische Ansprüche darauf, von einer vermeintlich „höheren Warte“ aus und mit vorgeblich besserer Einsicht den Gang der Politik erkennen und bewerten zu können.

An Bonhoeffers Gedanken knüpfte die evangelische Kirche in den Nachkriegsjahren an und versuchte, bei parteipolitscher Neutralität in der Form ihrer „Denkschriften“ ihre Position zu gesellschaftspolitischen Fragen in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Man mag das Medium von „Denkschriften“ als typisch evangelisch belächeln, verkennt dann aber, dass deren politische Wirkung oft ausgesprochen nachhaltig war.

Die 1965 veröffentlichte Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ - später als „Ostdenkschrift“ bezeichnet - öffnete zweifelsohne der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt den Weg. Bis heute halte ich solche „Denkschriften“, die sich einem komplizierten Verfahren der Konsensbildung verdanken, für die entscheidende und überzeugendste Art und Weise, wie die Evangelische Kirche in Deutschland am politischen und öffentlichen Leben teilnimmt. Hier geht es nicht um unzulässige „Einmischung“ der Kirche. „Einmischung“ suggeriert, dass eine Grenze überschritten würde. Wir mischen uns keineswegs in ein fremdes Gebiet ein, wenn wir uns als Kirche vom Evangelium her ernstnehmen und uns begründet und reflektiert äußern. Weder als Vorwurf noch auch als Selbstbeschreibung halte ich „Einmischung“ für zutreffend.

Im Kontext der Kirchentage entstanden pointiert politische Bewegungen wie etwa das „Politische Nachtgebet“, das bis in die Liturgiegestaltung der Gegenwart hineinwirkt. Und für die evangelischen Kirchen in der DDR bleibt festzuhalten: Ihr deutliches politisches Engagement unter widrigsten Verhältnissen wurde im Westen gern gesehen - gerade auch von denen, die die evangelischen Kirchen heute als „politisiert“ meinen angreifen zu müssen.

Christinnen und Christen haben in einem demokratischen Gemeinwesen als Bürgerinnen und Bürger Anteil an der politischen Macht, die sich nicht im Vorgang des Wählens erschöpft. In einem freiheitlichen Gemeinwesen wird politische Macht auch durch den Diskurs ausgeübt. Und genau das ist unser Medium, unsere Ausdrucksform: „Nicht durch Gewalt, sondern durch Überzeugung!“, lautet zu Recht der Grundsatz der Reformation. Die Quelle dafür ist die Heilige Schrift, die wir auszulegen haben. Der theologische Begriff dafür lautet Hermeneutik, Übersetzungskunst: Sie ist der Kern einer modernen Theologie. Hier liegt mein wichtigstes Anliegen: Wir dürfen die Bibel nicht zum Steinbruch von Einzelsätzen machen, die letztlich nur der Durchsetzung von Interessen oder der Rechthaberei dienen. Wir müssen, je „politscher“ ein Thema ist, umso härter theologisch differenziert arbeiten und theologische Expertise auch einklagen. Wir müssen kritische Distanz zu uns selbst einüben - und zugleich kritische Solidarität mit Staat und Gesellschaft aus dem Evangelium heraus. Das genau ist in sich schon eine politische Forderung. Denn wie gehen wir damit um, wenn biblische Verse in einem vollständig säkularen Kontext plötzlich als handlungs- und entscheidungsleitend gelten sollen?

Es entsteht derzeit die paradoxe Situation, dass wir uns als Christen wie als Kirchen gegen eine politische Vereinnahmung des Religiösen wehren müssen und von unserer Seite her die Frage aufwerfen, wie „christlich“ denn die Politik sein darf! Stellen wir dies als eine theologische Frage, werden wir automatisch „politisch“, in manchen Fällen sogar parteipolitisch: dann nämlich, wenn durch eine Partei in Regierungsverantwortung eine ziemlich markante rote Linie bei der politischen Vereinnahmung der Religion überschritten wird, wie dies meines Erachtens beim dem „Kreuz-Erlass“ im Freistaat Bayern der Fall ist. Der säkulare Staat ist für christliche Kreuze nicht zuständig und besitzt auch keine Interpretationshoheit darüber, was sie denn darstellen.

Letztlich hängt es von der Stringenz und der Überzeugungskraft dessen ab, was wir als Kirchen sagen, ob wir einen wirklich tragenden Beitrag zu einem politisch umstrittenen Thema liefern. Da kann die Kanzel zu einem politischen Ort werden. Das war sie im „Dritten Reich“ und in der DDR immer wieder. Allerdings ist dann die Verpflichtung, intensiv theologisch zu arbeiten, genau auf die Heilige Schrift zu hören und jedes Wort abzuwägen, besonders hoch. Von der Kanzel kluge Ratschläge zu geben oder sich eine besondere politische Kenntnis anzumaßen, verbietet sich. Meistens ist die Sachlage komplexer, als es die fünfzehn bis zwanzig Minuten der Predigt hergeben. Aber die Predigt kann den Prozess, zu einer eigenen verantwortlichen Entscheidung zu kommen, unterstützen, indem sie die „Welt“ im Licht des Evangeliums zu sehen wagt. Wenn Menschen daraus im engeren Sinn politische Schlüsse ziehen, ist das nur zu begrüßen.

In einer politisierten Situation, wie wir sie bei uns erleben, können wir uns als Christin und Christ gar nicht nicht politisch äußern. Wir werden unmittelbar „politisch“, wenn wir das, was wir aus dem Wort Gottes als Richtschnur für unser Leben verstanden haben, öffentlich zum Ausdruck bringen. Das ist für mich eine bleibende Erfahrung nach den beschriebenen Reaktionen auf meinen Bischofsbericht.

Was hat das alles mit dem Bischofsamt zu tun? Es gibt im Protestantismus kein allgemein verbindliches und bindendes Lehramt. Wer das erwartet, hegt fehlgeleitete autoritäre Erwartungen, die allerdings im Moment en vogue sind. Als hätten Bischöfe gleich welcher Konfession bessere Einsichten als andere! Oder als würden Bischofsworte schon deshalb befolgt, weil es Bischofsworte sind. Das ist schlichter Irrtum. Nur weil ich dieses Amt innehabe, überzeuge ich nicht schon. Meine Aufgabe sehe ich eher darin, die Kirche, und das heißt doch: die Menschen, die sie bilden, dazu zu ermutigen und - hoffentlich! - beispielhaft anzuleiten, öffentlich für ihre aus dem Glauben gewonnene Einsicht einzustehen und mit guten Gründen die Auseinandersetzung zu suchen. Das verstehe ich unter öffentlicher Rechenschaft der Kirche.

Wer das schon als eine politische Handlungsoption ansieht, für den kann die Antwort in bester lutherischer Tradition nur lauten: Ein Bischof, beziehungsweise eine Bischöfin, soll jederzeit und überall politisch sein. Ein Bischof oder eine Bischöfin soll niemals und nirgends politisch sein. Diese Spannung auszuhalten und zugleich zu gestalten ist Ausdruck protestantischer Freiheit. Die aber müssen wir dem Staat und der Gesellschaft schon zumuten!

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Martin Hein

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