Gemeinsam für die gute Sache

Die neue Nähe von Kirchen und Politik in Deutschland ist außergewöhnlich
Vor dem Festakt am 31. Oktober 2017 in Wittenberg: Kirche und Staat vor der Schlosskirche vereint. Foto: epd/ FHendrik Schmidt
Vor dem Festakt am 31. Oktober 2017 in Wittenberg: Kirche und Staat vor der Schlosskirche vereint. Foto: epd/ FHendrik Schmidt
Das Miteinander von Kirche und Staat in Deutschland definiert geradezu das Zentrum der politischen Kultur des Landes. Das hat Vorzüge für alle Seiten: für die Kirchen ebenso wie für die staatlichen Institutionen und für die Zivilgesellschaft, für die Religion und die liberale Demokratie. Aber eine solche Konstellation birgt auch Risiken, wie der Berliner Historiker Paul Nolte darlegt.

Es muss schon länger her sein, dass die christlichen Kirchen in Deutschland über ihren öffentlichen Bedeutungsverlust geklagt haben, über die mangelnde Beachtung ihrer Positionen in der Politik oder den fehlenden Zugang ihres Führungspersonals zu den politischen Eliten. Mögen die Mitgliederzahlen auch stetig schrumpfen, und mag ein Kraut gegen diesen Trend der institutionellen Entkirchlichung und sozialstrukturellen Säkularisierung nicht gewachsen sein - im Vordergrund steht ein anderer Eindruck: Evangelische und katholische Kirche sind, erst recht vor dem Hintergrund einer schwindenden gesellschaftlichen Basis und religiöser Bildungsverluste in der Bevölkerung, so machtvolle Spieler auf den öffentlichen Bühnen wie selten zuvor in der deutschen Geschichte.

Mehr noch: Es handelt sich dabei nicht um eine Einbahnstraße von Erwartungen oder Forderungen an die Politik. Die demokratischen Institutionen und die politischen Eliten der Bundesrepublik zeichnet eine Nähe zu den Kirchen und zum christlichen Glauben, ja überhaupt eine Religionsaffinität aus, die auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich ist. Bisweilen schießen sie dabei übers Ziel hinaus wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mit seinem Kreuzerlass für die Amtsstuben des Freistaats. Dann widersprechen die obersten Münchner Christenmenschen, die zugleich institutionelle und charismatische Führer der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland sind, und weisen auf den Unterschied zwischen Himmel und Erde hin: Das Kreuz sei ein christliches Symbol, nicht nationales Kulturerbe oder Legitimationsgrundlage des Staates. Ganz so säuberlich lassen sich die Welten freilich nicht trennen. Und eine christliche Färbung hat nicht nur die gerne etwas deftigere bayerisch-konservative Politik, gegenüber der es den Kirchen leicht fällt, auch mal ein Zeichen der Distanz zu setzen.

In nahezu allen demokratischen Parteien ist das „hohe C“, dessen sich die Unionsparteien gerne rühmen, als Grundton der Politik kraftvoll hörbar, im Süden wie im Norden der Republik, in katholischen Varianten und in evangelischen - in letzteren sogar noch stärker und einflussreicher, was angesichts der vermeintlich größeren Säkularität oder der protestantischen Neigung zu mehr privater Frömmigkeit durchaus überrascht. Von den Grünen zur CDU, von der SPD zur Linkspartei reicht das überparteiliche Bündnis; von Winfried Kretschmann und Katrin Göring-Eckardt bis zu Angela Merkel und ihren (katholischen) Nachfolgeanwärtern Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn; vom thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow über die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles bis zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Zumal das Amt des Bundespräsidenten hat in der Geschichte der Bundesrepublik eine immer markanter protestantische, ja darüber hinaus parareligiöse Färbung erhalten. Es genügt, Richard von Weizsäcker, Johannes Rau und Joachim Gauck zu nennen: die guten Hirten von Bellevue; protestantische Säkularbischöfe, denen sich die Deutschen gerne anvertrauen.

Ist diese Konstellation so ungewöhnlich? Christliche Politiker ebenso wie muslimische Staatsführer gibt es überall auf der Welt; selten zuvor hat sich die Politik, egal ob demokratischer oder autoritärer Natur, so gerne das Religionsmäntelchen umgehängt wie seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert, zweihundert Jahre nach der „Heiligen Allianz“. Die Ursachen dafür lassen auch Deutschland nicht unberührt, vor allem der Aufstieg von Religion als kulturell-politische Deutungsmacht und die neue Präsenz von „Public Religion“ (José Casanova) rund um den Globus. In vielen Regionen - und in islamischen ebenso wie in christlichen Varianten - artikuliert sich diese politische Religion der Moderne als Fundamentalismus wie bei den verfeindeten Brüdern USA und Iran. Das jedoch spielt hierzulande nur eine ganz marginale Rolle.

Kirchenaffinität der Eliten

Eine damit teilweise verwandte Spielart ist der kalkulierte Einsatz des Christentums als Legitimationsspender für autoritäre und neo-nationalistische Politik wie im Polen der PIS-Regierung und in Putins Russland; auch hier gibt es Parallelen in der arabisch-islamischen Welt oder in der Türkei Erdogans. In den westeuropäischen Demokratien dagegen ist die öffentliche Rolle der Religion und die Religions-, erst recht die Kirchenaffinität der politischen Eliten in der Regel deutlich schwächer ausgeprägt als in Deutschland. Ein französischer Staatspräsident muss jederzeit achtgeben, die Grenzen des Laizismus nicht zu überschreiten. Mindestens ebenso wichtig: Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen stehen anderswo in größerer Distanz zur Religion, was sich teilweise, insbesondere in den USA, als Reaktion auf den fundamentalistisch-religiösen Konservatismus in den vergangenen Jahrzehnten noch verstärkt hat, mit einem markanten „religion gap“ im Wahlverhalten.

In Deutschland dagegen verbinden sich Kirchen und Politik auf eine besondere Weise: nicht an den illiberalen und autoritären Rändern von Gesellschaft und Staat, sondern im demokratischen Zentrum von Verfassung und Kultur; nicht im Gegensatz von (religiös verbrämter) Staatsideologie und (säkularer) Zivilgesellschaft, sondern im Miteinander von Staat und Gesellschaft, von politischen Eliten und sozialer Bewegung - in einem Miteinander, das geradezu das Zentrum der politischen Kultur des Landes definiert. Blickt man auf die meisten der vorhin genannten Länder, wird man kaum umhin können, darin einen großen Gewinn zu sehen, mit Vorzügen für alle Seiten: für die Kirchen ebenso wie für die staatlichen Institutionen und für die Zivilgesellschaft; für die Religion ebenso wie für die liberale Demokratie. Aber eine solche Konstellation enthält auch Risiken, die aus einer Missachtung des Mindestabstandsgebots resultieren. Sie kann Konformismus produzieren, Kritik im Wohlgefühl der gemeinsamen Sache dämpfen oder eine Hybris der religiös-moralischen Normierung öffentlicher Angelegenheiten nähren.

Worin liegen die historischen Ursachen und die Bedingungsfaktoren dieser neuen Nähe von Kirchen und Politik in Deutschland? Darauf gibt es keine einfache Antwort, und die zahlreichen Aspekte können hier nur stichwortartig umrissen werden. Natürlich spielt Führungspersonal eine Rolle, das sich wieder ändern kann: Die Nachfolger von Heinrich Bedford-Strohm und Reinhard Marx mögen weniger charismatisch, weniger politik- und medienaffin sein; in der CDU zeichnet sich nach der protestantischen Ära Merkel eine gewisse Rekatholisierung ab. Kalendarische Zufälle wie das Reformationsjubiläum haben die „gemeinsame Sache“ zusätzlich befeuert. Aber solche Erklärungen genügen nicht. Vielmehr führt die Suche auf mächtige Traditionen und spezifische Dynamiken besonders des letzten halben Jahrhunderts zurück. Noch viel älter ist das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland, besonders die staatskirchliche Situation des Protestantismus in Preußen. Das institutionelle Erbe eines engen Staat-Kirche-Verhältnisses umgibt uns noch immer und geht mit dem bevorstehenden hundertsten Jahrestag der Weimarer Reichsverfassung in eine neue Debattenrunde. Möglicherweise hat der Bedeutungsgewinn des öffentlichen Protestantismus diese Traditionen in subtiler Weise auch kulturell, also jenseits von Verfassungsfragen nach der Kirchensteuer oder den Staatsleistungen, wieder verstärkt. Historisch jedenfalls ist die Protestantisierung politischer Eliten gegenüber der rheinisch-katholischen Bonner Republik zweifellos auch ein Ergebnis der Wiedervereinigung, des Hauptstadtumzugs und des Erbes der post-preußischen DDR. Mindestens in dieser Hinsicht ist die Geschichte der DDR und ihrer demokratischen Opposition nicht durch einen bloßen „Anschluss“ folgenlos getilgt worden. Gerade die kirchliche Opposition hat als demokratischer Legitimationsspender des vereinten Deutschlands gewirkt.

Aus Westdeutschland kamen seit den Sechzigerjahren andere, teils aber auch überlappende Impulse, die sich bis heute kulturprägend geltend machen. Gesellschaftlicher Protest und „neue soziale Bewegungen“ wurden - weniger 1968, aber dafür umso stärker ein Jahrzehnt später - von religiösen Impulsen und kirchlichen Basisbewegungen geformt. Zugleich beförderten sie die Transformation der Kirchen, der evangelischen mehr als der katholischen, von Amtsanstalten in zivilgesellschaftliche Akteure. Dass die christlichen Kirchen in der Bundesrepublik heute geradezu eine Führungsrolle im weiten zivilgesellschaftlichen Spektrum der Selbstorganisation, der Unterstützung Schwächerer und der moralischen Anwaltschaft einnehmen, ist (wie wiederum der internationale Vergleich zeigt) keineswegs selbstverständlich. Zugespitzt könnte man sagen, dass diese starke Position sich der teilweise durchaus virtuos gehandhabten Fähigkeit verdankt, die Tradition des Staat-Kirche-Verhältnisses mit der neuen zivilgesellschaftlichen und basisdemokratischen Funktion zu verbinden. Deren Wirksamkeit wiederum führt auf eine spezifische Ethisierung der Politik, welche die Bundesrepublik seit den Achtzigerjahren stärker als andere westliche Gesellschaften, die ebenfalls in die Richtung „postmaterieller“ Werte gingen, kennzeichnet.

Neue deutsche Moralpolitik

Der singuläre und seinerseits von religiösen Impulsen und kirchlichen Milieus geprägte Aufstieg der (Bündnis-)Grünen ist damit eng verknüpft. Die eigentliche historische Wurzel der neuen deutschen Moralpolitik, die immer wieder auch nach theologischer Vergewisserung ruft, aber ist der Nationalsozialismus, genauer gesagt: sind die Anläufe zu seiner Erinnerung, „Bewältigung“ und moralischen Kompensation, die nicht zufällig zeitlich parallel zum Aufstieg der Grünen verliefen.

Die besondere Nähe zu den politischen Eliten - oder in einem etwas weiteren Sinne: den „weltlichen“ politischen und gesellschaftlichen Führungsschichten - kann wiederum als Resultat einer doppelten Verbürgerlichung interpretiert werden. Erstens ist das die fortschreitende Verbürgerlichung von Religion und Kirchen, die erneut den Protestantismus stärker betrifft als die katholische Kirche. Eine Kirche bürgerlich-liberaler Mittelschichten, oder schärfer formuliert, der „Systemgewinner“ steht dem liberal-demokratischen Staat loyaler gegenüber als eine Kirche der Verlierer, der Schwachen, der Ausgegrenzten. Sie findet sich mit den Funktionsträgern des Staates geradezu auf einer Wellenlänge; man rekrutiert sich schließlich aus denselben sozialen Milieus. Das verbindet sich, zweitens, mit einer Verbürgerlichung von Protest und sozialer Bewegung. Was 1967 als marxistische Revolutionseuphorie gestartet ist und 1983 noch dem Parlamentarismus kritisch gegenüberstand, ist längst in der Mitte von Gesellschaft und Politik angekommen und engagiert sich, politisch ebenso wie kirchlich, für ein besseres Leben innerhalb der bestehenden Ordnung. Anders gesagt: In Deutschland konvergieren Kirchen und Politik in charakteristischer Weise in einem politisch-kulturell-ethischen Überlappungsraum von Ökologie und Energiewende, Migration und Menschenrechten, Demokratieförderung und Sozialpolitik.

Schließlich kam, in den vergangenen zehn Jahren, die populistische Herausforderung hinzu, der Aufstieg des Neo-Nationalismus, die Anziehungskraft illiberaler Ideen, die Skepsis, wenn nicht gar offene Feindschaft gegenüber den Institutionen und Prinzipien der liberalen Demokratie. In einer Arena wie der deutschen, deren Akteure ohnehin - und in vieler Hinsicht: zum Glück! - stärker einen Zug zur Mitte, zum Zentrismus hatten als zu der scharfen Polarisierung anderer Länder, zumal der usa, verstärkte diese Herausforderung in der Politik wie in den Kirchen die Neigung, die Reihen zu schließen und sich in der Mitte zu sammeln, die es nun zu verteidigen galt. Die Kirchen stützten, gerade auch seit dem Sommer 2015, die „Merkel-Koalition“ im Sinne der „Großen Koalition plus“, also insbesondere einschließlich der Grünen. Angesichts der Angriffe auf Erreichtes, auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten begann eine Zeit der Verteidigung. Für die Kirchen stellen sich damit ganz ähnliche Fragen wie für öffentliche Intellektuelle, die doch eigentlich Kritiker der Macht und der Mächtigen sein sollten. Werden sie zu affirmativen Intellektuellen, zu affirmativen Kirchen, die den Schulterschluss mit den politischen Eliten der Demokratie suchen, um gemeinsam den Aufstand eines selbsterklärten „Volkes“ und seines schäumenden Hasses auf das liberale Ordnungsmodell abzuwehren?

Genau dort stehen wir, stehen Kirchen und Politik in Deutschland heute. Damit ist aber auch klar: Das Problem ist weder eine vermeintlich unzulässige Politisierung der Kirchen auf Kosten einer Kernbotschaft der Verkündigung noch eine „Linksabweichung“ der Kirchen. Die Kirchen, insbesondere der deutsche Protestantismus, weichen insgesamt gar nicht nach links ab. Vielmehr repräsentieren sie einen Liberalprotestantismus der Mitte, des bildungsbürgerlichen Mainstreams, der die politische Kultur unseres Landes ziemlich exakt spiegelt. Es ist eine politische Kultur des liberalen Zentrismus mit einer Grundhaltung der politischen Eliten, die sich auf denselben konfessionspolitischen Begriff bringen lässt: parteienübergreifend liberalprotestantisch wie Steinmeier, Merkel und Göring-Eckardt. Und natürlich gemeinsam für die gute Sache.

Paul Nolte

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