Das noch Verborgene sehen

Die Theologin Christel Weber hat zum Thema prophetisch Predigen promoviert
Foto: Christian Weische
Foto: Christian Weische
Die Bielefelder Pfarrerin Christel Weber entdeckte auf mehreren Fortbildungen in den usa das Thema „prophetic preaching“. Danach schrieb sie in nur zwei Jahren eine Dissertation, deren Erkenntnisse auch ihren Predigtalltag verändert haben.

Den Weg zu Kirche und Theologie habe ich ganz „klassisch“ über die Jugendarbeit in meiner Gemeinde in einem Dorf bei Bielefeld gefunden. Man hatte bei uns eigentlich nur die Wahl zwischen Kirche und Sportverein. Da der Pfarrer offen und spritzig war, wurde es bei mir die Kirche.

Die weite Ökumene hat mich immer angezogen; sie verhieß die Unruhe und Unaufgeräumtheit, nach der ich mich als Dorfkind irgendwann gesehnt habe. Nach dem Studium habe ich ein halbes Jahr in den USA beim catholic worker movement gearbeitet und mit Wohnungslosen in einem „Haus der Gastfreundschaft“ zusammengewohnt. Viele meiner festgefügten Bilder wurden dort auf den Kopf gestellt: Einer der feinsinnigsten und freundlichsten Gäste hatte jemandem umgebracht; und die katholische Nonne, mit der ich zusammenarbeitete, war die mit den radikalsten politischen Ansichten. Dass Sichtweisen ins Wanken geraten, ist mir in meiner Dissertation wieder begegnet.

Nach meinem Vikariat war ich viele Jahre Gemeindepfarrerin, zuerst in Bottrop, dann in Borchen bei Paderborn. In dieser Zeit haben mein Mann und ich auch unsere drei Kinder großgezogen. 2012 hörte ich von einem internationalen und interkonfessionellen Predigtprogramm in Chicago/USA. Ich war sofort begeistert und habe mich über unsere Partnerkirche, die United Church of Christ, beworben. Das Kontaktsemester, das westfälische Pfarrerinnen und Pfarrer alle zehn Jahre machen können, teilte ich dann auf die drei Programm-Sommer auf. Meine Landeskirche hat mir einen kleinen Zuschuss gegeben.

Für den Rest habe ich verwandt, was ich von meinen verstorbenen Eltern geerbt habe; sie hätten sich gefreut. Der letzte Sommer in Chicago war mit „preaching as social transformation“ überschrieben. Wow, dachte ich, Predigt als „soziale Transformation“ – so ein großes Wort würde man in Deutschland kaum verwenden! In diesem Kurs hat mich der Begriff „prophetic preaching“ gepackt. Ich ahnte schnell, dass prophetisches Predigen mehr sein kann als das, was man hier landläufig unter politischer Predigt versteht, aber ich merkte auch, dass jeder Professor etwas anderes darunter verstand: Für den einen war es die mutig-revolutionäre Predigt mit großer Autorität. Für die andere ging es einfach um „soziale Themen“. Und die dritte sprach von widerständiger Poesie. Das ließ mich nicht los. Den mündlichen Teil der Prüfung für meinen „Doctor of Ministry in Preaching“ habe ich übrigens von Deutschland aus per Skype gemacht – sehr aufregend!

Inzwischen hatte ich festgestellt, dass es bei uns in Deutschland kaum Arbeiten zum „prophetischen Predigen“ gibt. Insofern kam mir der Gedanke, selbst eine größere Arbeit zu diesem Thema zu schreiben. Ich nahm Kontakt zu Alexander Deeg, Professor in Leipzig, auf. Er hatte sofort Interesse und mich sehr ermutigt. Er ist ein fantastischer Mentor geworden und hat immer den für mich richtigen Weg zwischen „raten“ und „machen lassen“ gefunden.

Und dann hat mich wirklich die Leidenschaft für mein Thema erfasst. Ich ließ mich zwei Jahre aus meinem Pfarrdienst beurlauben und schrieb die Dissertation. Sie trägt den Titel „Sichtwechsel. Prophetisches Predigen – Eine interkulturelle Studie“ und wird bald als Buch erscheinen. Ich freue mich sehr, dass sie mit summa cum laude bewertet wurde.

In der Arbeit nähere ich mich dem prophetischen Predigen von verschiedenen Seiten: Ich beginne mit einem Predigtereignis, das ich 2009 auf dem Kirchentag in Bremen erlebt habe. Damals erzählte der US-Theologe Jim Wallis von einem Gottesdienst in Südafrika zu Zeiten der Apartheid: Während einer Predigt des damaligen Erzbischofs und Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu seien Sicherheitskräfte in die Kirche eingedrungen und hätten die versammelte Gemeinde bedroht. Darauf habe Tutu die bewaffneten Polizisten direkt angesprochen und gesagt: „Ihr seid sehr mächtig, aber Ihr seid nicht Gott. Und ich diene einem Gott, der sich nicht spotten lässt …“ Tutu habe dann auf seine typische Art gelächelt und sei fortgefahren: „…Sooo! Da Ihr sowieso schon verloren habt, laden wir Euch heute ein: Kommt auf die Gewinner-Seite!“

Die ausführliche Analyse dieser kurzen Predigt Desmond Tutus bildet den Auftakt meiner Arbeit, denn an ihr lässt sich meines Erachtens paradigmatisch eine prophetische Predigt aufzeigen: Sie „sieht“ etwas, was vielen noch verborgen ist, und durch dieses „Sehen“ oder auch Imaginieren wird die verborgene Realität sichtbar und erfahrbar: Nach der Predigt von Tutu jedenfalls ist die total verängstigte Gemeinde aufgesprungen und in den Toyi-toyi, einen südafrikanischen Befreiungstanz, ausgebrochen.

Tutus Worte haben tatsächlich eine „social transformation“ bewirkt! Im zweiten Anlauf schaue ich mir drei Begriffe der prophetischen Predigt an. Sie nehmen alle – auch zeitbedingt – einen anderen Aspekt der Prophetie heraus und sind der Grund dafür, dass zwei Menschen unter prophetischem Predigen etwas völlig Verschiedenes verstehen können.

Im dritten Kapitel frage ich, ob und wodurch prophetisches Predigen unter einer Diktatur anders aussieht als unter den Bedingungen einer säkularen Demokratie. Und im vierten Kapitel werte ich 25 Interviews aus, in denen mir Menschen von ihrer Meinung nach prophetischen Predigten erzählt haben. Dafür bin ich jeweils einige Wochen nach Südafrika und in die usa gefahren. Die Interviews sind teilweise an abenteuerlichen Stellen entstanden, im Zoo, in einer lauten Bar und sogar auf einer Straßenkreuzung.

In Deutschland hat erst ein Aufruf auf Facebook dazu geführt, dass ich Inter-viewpartner fand. Es sind berührende Predigterlebnisse darunter, von denen ich mich bis heute beschenkt fühle: Das gibt es tatsächlich, dass eine Predigt das Leben verändern kann! In allem habe ich gelernt, dass die prophetische Predigt sehr auf den Kontext achten muss. Das ist schon in der Bibel so, wo dieselben Propheten dieselben Dinge zu unterschiedlichen Zeiten völlig unterschiedlich „sehen“. Insofern will meine Arbeit vor allem Predigerinnen und Prediger anleiten, genau „hinzusehen“ und sich mit den Gemeinden die Augen für eine andere Realität öffnen zu lassen.

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

Zum Video von John Wallis über sein Erlebnis mit Desmond Tutu

Christel Weber

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