Überzeugend

Eine Akademie in der DDR
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Diese sorgfältige Untersuchung gibt tiefe Einblicke in die doch nicht ganz so geschlossene DDR-Gesellschaft.

Konnte in der staatsideologisch gesteuerten Öffentlichkeit der DDR innerhalb des kirchlichen Schutzbereichs einflussreich mitagiert werden? Die Berliner Evangelische Akademie wollte „an der geistigen und räumlichen Nahtstelle zwischen West und Ost ein ‚Gesprächs- und Zeugnisforum’“ sein. Das konnte sie auch nach dem Mauerbau durch enge Kontakte zur Westberliner Schwesterakademie fortsetzen. Sie wurde ein „‚gesamtdeutscher’ Ort für Literaturvermittlung“ im Format ihrer Lesebühne und in den „deutsch-deutschen literarischen Tagungen 1955 bis Ende der 1970er Jahre“.

Namhafte westdeutsche Autorinnen und Autoren machten ihre in der DDR noch unveröffentlichten Werken durch solche „De-facto-Legalisierungen“ bekannt. Aber „mehr als 600 Besucher bei der Lesung Heinrich Bölls erzeugten bei den staatlichen Organen Furcht vor weiteren Massenveranstaltungen und einer auf diese Weise unübersehbaren Mitöffentlichkeit der Akademie“. Der Druck wurde existenzbedrohlich. Schwarz urteilt zunächst vorsichtig: „Das zeitliche Zusammenfallen von Bedrohungsszenario und dem Wegfall dieses (literarischen) Teil der Tagungsarbeit fällt auf.“ Fortan wurden eher weltpolitische Themen aufgegriffen „zu Fragen zum gegenwärtigen Rassismus, und auch häufiger zum Thema Afrika“. Das führte „1979 sogar zu einer lobenden Erwähnung im Neuen Deutschland“.

Ein anderer Schwerpunkt galt der Vergangenheitsbewältigung im christlich-jüdischen Dialog. Der Autor Peter Paul Schwarz resümiert hier den protestantischen Schuld-Diskurs, der die Shoa zunächst nur zögerlich einbezogen hat und erst Mitte der Siebzigerjahre kirchlich institutionalisiert wurde. Diese Debatte war „sowohl durch die parallelen Ost-West-Strukturen innerhalb der Kirche selbst als auch durch die deutsche Zweistaatlichkeit hochpolitisch, brisant und durch die Diskurse des Kalten Krieges aufgeladen“. Besonders die Israel-Tagungen gewannen angesichts der DDR-Politik den Charakter einer Gegenöffentlichkeit.

Die beziehungsgeschichtliche Untersuchung deutsch-deutscher Tagungsarbeit beschreibt gut die Spezifik der Ostberliner Akademie, die „nicht aus einer ‚Anti-Position’ heraus“, sondern in „kritischer Solidarität“ einer „Kirche im Sozialismus“ ernst genommen sein wollte. Die linke „Hoffnung verlor allerdings zunehmend ihre Substanz“. Und zählte man in Berlin „vor den Maßnahmen von 1969 noch 100 bis 300 Besucher je Tagung, waren es nun 20 bis 80 Teilnehmer“.

Die Staatsorgane gaben den Holzhammer nicht aus der Hand: „Die politische Tätigkeit der Evangelischen Akademien in der DDR entspricht dem Antikommunismus des westdeutschen Imperialismus.“ Die Darstellung berücksichtigt freilich kaum die recht unterschiedliche Ausrichtung im Akademiespektrum, die Entscheidungsvarianten und lokale Milieuunterschiede erkennbar werden ließe.

Peter Paul Schwarz hat den eigenständigen Impuls der Berliner Akademie zur deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung überzeugend als „Bewusstsein der Unabschließbarkeit von Schuld“ herausgearbeitet. „Innerhalb dieses hochpolitischen und herrschaftslegitimierenden Bereichs wurde die Akademie für die staatliche Geschichtspolitik in der DDR-Diktatur eine große Herausforderung“. Seine sorgfältige Untersuchung – material- und quellenreich gegründet – gibt tiefe Einblicke in die doch nicht ganz so geschlossene DDR-Gesellschaft. Akademieliebhaber entdecken konkrete Belege erfahrener geistiger Kultur unter diktaturstaatlichen Zwängen. Außenstehende finden systematische historische und politologische Einordnungen in den übersichtlichen Kapitelüberschriften, die weder kontinuierliches Lesen noch Stöbern langweilig werden lassen.

Aribert Rothe

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