Schwimmen unter der Kirche

100 Jahre Bauhaus (I): Das Diakonissen-Mutterhaus in Elbingerode im Harz
Das Schwimmbad unter der Kirche erfrischt den Körper. Foto: Ralf Klöden
Das Schwimmbad unter der Kirche erfrischt den Körper. Foto: Ralf Klöden
Das Bauhaus feiert sein 100-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass beleuchtet zeitzeichen in den kommenden Monaten Bauwerke, Baumeister und Künstler, die sakrale Werke im Sinne des Bauhauses schufen. Zum Auftakt bescheibt der Kunsthistoriker Klaus-Martin Bresgott das Diakonissen-Mutterhaus in Elbingerode, das zwischen 1932 und 1934 nach den Plänen von Godehard Schwethelm entstand.

Ich erinnere mich meiner ersten Besuche in Elbingerode als Kind: Alljährlich, spätestens zur Adventszeit, machte sich die Gemeinde mit einem Bus von der Teufelsmauer aus auf den Weg hoch hinauf in den Harz zu den Neuvandsburger Diakonissen nach Elbingerode. Wie cool war das dort: ein Wohn-Krankenhaus wie ein Schiff mit richtiger Kommandobrücke für den Kapitän. Und noch cooler: eine Kirche wie ein Kino und mit Essensdüften, die pünktlich auf halber Strecke die Wände entlang krochen und das Ende leidlich langer Gottesdienste in Aussicht stellten. Aber am allercoolsten: ein Schwimmbad. Ein richtiges Schwimmbad! Direkt unter der Kirche! Wo geht denn so was? Und wo gibt’s so was? Nur hier: im Diakonissen-Mutterhaus Neuvandsburg in Elbingerode. Oben im Harz, unweit des Brockens. In den Siebzigerjahren bedenklich nahe am Westen. Im Winter immer mit viel Schnee. Dann dampfte das Hallenbad wie eine heiße Quelle.

Viele Jahre, eine Wiedervereinigung und ein großes Architekturjubiläum später, erkenne ich alles wieder - und welches Wunder: Die Kinderwelt ist nicht kleiner und überschaubarer geworden, nichts hat sich relativiert, nichts gehört auf den Kompost der Zeit und der Ernüchterung. Im Gegenteil: Vor mir steht ein ideenreicher und jung gebliebener Bau voller Raffinesse und fantasievoller Kühnheit. Das betrifft das Haupthaus mit seiner hervorlugenden Kommandobrücke ebenso wie die hirschgleich auf ihren Läufen ruhend daliegende Kirche und diesen doppelten Quell des Lebens unter ihr: das Schwimmbad. Ein erfrischendes Wasser. Es ist noch immer unglaublich und begeisternd: Eine Kirche mit Schwimmbad. Nicht zufällig neben-, sondern gezielt übereinander. Stockwerkweise Sport und Gebet. Ein Ort der Konzentration für Körper und Seele. Ein ganzheitlicher Organismus.

Wann wurde je so frei gedacht und gebaut? Und wer denkt und baut so? Die Jahre der Weimarer Republik sind eine aus der „Welt von gestern“ erwachsende Zeit voller Neuanfänge - vor allem in der Kunst ist es eine Zeit dringlich ersehnter und konsequent genutzter Freiheit. Schon seit den 1890-er Jahren waren die Kunstakademien als tot und verstaubt empfunden worden und mit den vielerorts gegründeten Secessionen konfrontiert. Die Dadaisten öffnen das brodelnde Fass kompromisslos und endgültig. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Im Bereich der Malerei ist die Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“ mit Karl Schmidt-Rottluff und Emil Nolde Wegbereiter des Expressionismus, der sich in der Münchner Vereinigung „Der Blaue Reiter“ mit Wassily Kandinsky und Franz Marc kraftvoll Bahn bricht. Die „Kölner Progressiven“ und die „Novembergruppen“ vereinigen neben Malern und Grafikern wie Otto Dix, Otto Freundlich und Heinrich Hoerle auch Designer wie Marcel Breuer, Komponisten wie Hanns Eisler, Schriftsteller wie Joachim Ringelnatz und Architekten wie Bruno Taut. Sie alle stehen nach der Auflösung der epochal gebundenen Form für eine neue Gestalt und zeichnen in ihrer individuell höchst unterschiedlichen, gleichwohl gemeinsam drängenden Herangehensweise das Bild einer Epoche, deren Explosivität mit Händen zu greifen ist. Gerade die Bildenden Künste offenbaren eine nach dem Ersten Weltkrieg bis ins Innerste verletzte und verlorene, dadurch aber auch radikal offene, die nationalen Grenzen endgültig sprengende und zu Veränderungen bereite Generation auf der Suche nach einer neuen Wesentlichkeit.

In der Architektur ist es die Zeit der Gründung des „Deutschen Werkbundes“, des Architektenbundes „De Stijl“ und des legendären Bauhauses. Von der Sowjetunion her bricht sich der Konstruktivismus Bahn und findet international große Beachtung. Auch der Expressionismus drängt sich selbstbewusst in das Erscheinungsbild der Städte. Architektenvereinigungen wie „Der Ring“ mit Hans Scharoun treten aktiv für neues Bauen ein. Erich Mendelsohns Einsteinturm in Potsdam, Walter Gropius’ Bauhausgebäude für das interdisziplinäre, von akademischer Tradition losgelöste künstlerische Miteinander in Dessau, Fritz Högers Chilehaus in Hamburg, Ludwig Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon für die Weltausstellung 1929 und Rudolf Bartnings Auferstehungskirche in Essen erregen Aufsehen und schreiben Architekturgeschichte.

Funktionale Schlichtheit

Die Entwicklung, die diese Bauten kennzeichnet, bezeugt deren Pioniergeist und den Wunsch nach befreiender Sachlichkeit. „Form Follows Function“ steht über der Forderung nach funktionaler Schlichtheit, die einer der ersten Hochhausarchitekten, Louis Sullivan, schon 1896 vertritt. 1910 erregt Adolf Loos mit seinem Vortrag „Ornament und Verbrechen“ großes Aufsehen und gibt dem Jugendstil und seinem kunsthandwerklichen Schmuckbedürfnis den Todesstoß. Mit „Weniger ist mehr“ - „Less Is More“ verlangt schließlich Mies van der Rohe nachdrücklich eine Reduktion auf das Wesentliche. Hier haben endlich die Platz, denen die unbedingte Konsequenz Bedürfnis ist - sei es Rudolf Schwarz in seiner radikalen Reduktion, Otto Bartning, der mit seiner futuristisch-technischen Eleganz langfristig zum erfolgreichsten Kirchenbauer des Protestantismus nach Friedrich Schinkel wird, oder auch Godehard Schwethelm mit seiner komplexen Funktionalität, die er in Elbingerode unter Beweis stellt.

Er vertritt das Neue Bauen, den unbedingten Willen zur Funktionalität und Nüchternheit. Das ist nicht nur mit industriell anmutenden Konstruktionsschemata gleichzusetzen, auch kann man nicht einfach das Etikett Bauhaus darauf kleben, das mit seinem ausgewogenen Verhältnis kubischer Bauformen, kontrastierenden Rundungen, horizontalen Fensterbändern und Flachdach nur eine Facette des Neuen Bauens abbildet. Neues Bauen hat neben dem Bauhaus genauso die Gesichter des Neuen Frankfurt und der Neuen Sachlichkeit, deren erste Bauten bereits mit der Gründung des „Werkbundes“ einhergehen. Hier werden zum ersten Mal in Deutschland die gläsernen, vom Tragwerk des Baus losgelösten Vorhangfassaden genutzt, deren berühmteste 2019 das Bauhausgebäude in Dessau trägt. Der Stil dringt stark in den öffentlichen Bau vor. Viele Büro- und Industriebauten entstehen. Die junge sozialdemokratisch geführte Weimarer Republik investiert wie nie eine Regierung zuvor in den modernen sozialen Wohnungsbau und ermöglicht richtungsweisende Großsiedlungen wie das Jacobsenviertel in Erfurt oder kommunale Sport- und Gemeinschaftshallen wie die Halle „Land und Stadt“ in Magdeburg. Verschiedenste Bauten - ob Fabrikhalle, Elektrizitätswerk, Flugzeughalle oder Wohnhaus - entstehen gleichzeitig in funktional ausgerichteter Ähnlichkeit.

Das beflügelt auch den Kirchenbau und gibt den neuen Ideen und dem Ruf nach einem neuen Pathos Auftrieb. Beispielhaft für die verschiedenartigsten Umsetzungen stehen hier Architekten wie Hans Voigt, Rudolf Schwarz, Bruno Brüdern, Hans Hertlein, Otto Bartning und eben Godehard Schwethelm. Sie alle bauen funktional gestaltete Räume, die sich an den neuen Bedürfnissen orientieren. Ihre Bauten öffnen sich dem Licht und stellen richtungweisende Möglichkeiten vor, das „Pathos der Profanität“, wie es sich Paul Tillich wünscht, gegenwärtig sein zu lassen. Klare, meist kubische Raumformen, der Wechsel ruhiger, geschlossener Wandflächen mit Lichtbändern, die neben dem Tageslicht auch eine transparente Verbindung mit der Umgebung herstellen, sind entscheidende Merkmale dafür. Sie schaffen jenen sakralsäkularen Charakter, den eine neue Gemeindekirche ausmachen und sie als ein funktional nüchternes Gebäude des alltäglichen Lebens überzeugend in dessen Mitte stellen soll.

Dynamische Formen

Wie setzt Godehard Schwethelm diese Inspirationen seiner Zeit um? Das Haupthaus lässt er als einen fünfgeschossigen Stahlskelettbau mit Spaltklinkerverblendung erstehen. Der Eingangsbereich mit dem rund ausschwingenden, kanzelartigen Segment im ersten Stock - der Kommandobrücke, das Treppenhaus und der Säulengang im rückwärtigen Erdgeschoss - sind durch dynamische Formen und farbige Klinker hervorgehoben. Dieser Farb- und Materialwechsel zwischen den hervorgehobenen Bauteilen samt der Verkleidung der Säulen mit Klinkern in klassisch roten Brandfarben markiert einen ausdrucksstarken Gegensatz zu der beige-marmorierten Farbigkeit des Hauptgebäudes. Er zeichnet ein stimmig-wirkungsvolles Bild der handwerklichen und ästhetischen Ansprüche dieser architektonischen Richtung. In Verbindung mit der auf das Wesentliche reduzierten, funktionalen Formensprache hat man einen exemplarischen und gleichermaßen individuellen Bau dieser Epoche vor Augen. Einen Bau, der deutlich macht, dass es keine Reinform eines Stils mehr gibt und sich statt dessen der Personalstil mit individuellen Ausprägungen durchsetzt, der Anleihen nimmt, Überzeugungen baut, sich aber nie stilistischer Einseitigkeit unterordnet.

An das Hauptgebäude mit klassischem Flachdach schließt L-förmig der spannendste Gebäudeteil an - der zweigeschossige Seitenflügel, die Kirche. Mit ihr bezieht Schwethelm auch bewegte expressionistische Charakteristika mit ein. Sie mündet in einer halbrunden Apsis, der auf erster Geschosshöhe links und rechts zwei schräg ansetzende Rundbauten mit farbigen Fensterbändern angegliedert sind. Die horizontal ruhende Gelassenheit dieser konchalen Rundbauten erdet auch den Chorraum zwischen beiden, der durch das steil aufragende Fenster eigentlich stark vertikal orientiert ist. Der gesamte Abschluss dieses Gebäudes wirkt in seiner harmonischen Staffelung ideenreich expressiv, dabei sachlich selbstbewusst und repräsentativ.

Zwischen den beiden vorgesetzten Rundbauten öffnet sich in Verlängerung des Chorraums ein Balkon, unter dem eine Treppe in das Untergeschoss führt. Die Freitreppe links und rechts neben ihm führt von außen hinauf in den Kirchensaal. Der mit seinen beidseitig eingeschossigen Anbauten basilikal anmutende Kirchenraum ist lichtdurchflutet und durch die Bestuhlung, die es bereits seit der Erbauungszeit gibt, flexibel nutzbar. Seinen sakralen Charakter erhält der Saal durch die Fensterbänder in den Obergaden, die in dezent expressiver Formensprache und auf blauer Grundfarbe basierend von Elisabeth Coester (1900-1941) gestaltet worden sind. Es ist eine wirkungsvolle, von Engeln durchwirkte Arbeit, die dem ganzen Raum spirituelle Leichtigkeit und Flügel verleiht. Das Werk der in Wuppertal ausgebildeten Glaskünstlerin und Paramentikerin findet sich in teilweise wesentlich expressiverer Formensprache unter anderem in den Glasfenstern der St. Nicolai-Kirche in Dortmund, der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg-Harvestehude und der Johanneskirche im westfälischen Hamm.

Das Rundmotiv von außen ist in Variationen auch für den gesamten, stufig ansteigenden Altarbereich und die Kanzel übernommen. Hier dominieren warme, einhegende Holztöne, die den Innen- mit dem waldigen Außenraum verbinden. Da der Bereich als Bühne konzipiert ist, kann die Kanzel, die wie ein Zitat der Kommandobrücke wirkt, weggeräumt werden. Seit der Erbauungszeit gibt es hier auch eine per Bowdenzug einsetzbare Leinwand für Filmvorführungen. Besonders schließlich ist die unter dem Kirchensaal liegende und bis heute aktiv genutzte Schwimmhalle, die den funktional und auch materialiter in allen Details durchdachten Gesamtbau einmalig macht.

In die Zukunft weisend

Godehard Schwethelm zeigt sich mit diesem Bau nicht nur mit den stilistischen Aufbrüchen seiner Zeit vertraut, sondern auch selbstbewusst genug, sich einer konsequenten Bindung an eine Richtung zu entziehen. Er folgt der kühnen Strenge des Neuen Bauens und des Bauhauses, er nutzt die lebendigen Formen und Farben des Expressionismus. Vor allem aber baut er eine eigene, auf das Lebensprojekt der Diakonissen abgestimmte und in der sakralsäkularen Ausrichtung in die Zukunft weisende Idee. Nur eins vermissen die Diakonissen bis heute, was der kleine Junge damals schon gern gehabt hätte: Einen Knopf für eine Klappe am Boden der Kanzel, mit dem man Predigern bei gar zu ausschweifendem Parlieren zu einem frischen Bad im Untergeschoss verhelfen kann.

Literatur

Im April 2019 erscheint bei Parkbooks, dem Schweizer Verlag für europäische Architektur: Klaus-Martin Bresgott: Neue Räume der Spiritualität - 100 Kirchen der klassischen Moderne. Ein Bildband mit weiterführenden Beiträgen von Klaus-Martin Bresgott, Andreas Hillger und Johann Hinrich Claussen.

Bereits erschienen und zu empfehlen: Andreas Hillger: Gläserne Zeit. Ein Bauhaus-Roman. Osburg-Verlag, Hamburg, 2013, 238 Seiten, Euro 14,-.

Klaus-Martin Bresgott

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