Schweigen vor der Asche der Synagoge

Der Historiker Kristian Geßner promoviert über das Thema „Rudolf Bultmann im ‚Dritten Reich‘“
Foto: Thorsten Richter
Foto: Thorsten Richter
Rudolf Bultmann gehört zu den wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Er war als ordentlicher Professor in Marburg Teil des NS-Staates. Gleichzeitig zeigte er Taten der Opposition und des Widerstands gegen die braune Diktatur. Kristian Geßner geht dieser ambivalenten Geschichte nach.

A us einer religiösen Familie komme ich nicht. Ich bin 1991 in Gera in Thüringen geboren und in der Nähe, in Greiz, aufgewachsen. Über ein paar Umwege bin ich zur Kirche gekommen und habe mich mit 19 entschieden, mich evangelisch taufen zu lassen. Dann kam ich nach Marburg. Hier kann man zu meinem Hauptfach Geschichte gut Theologie als Nebenfach studieren. Eine Kombination, die sich als vorteilhaft erwiesen hat.

Zu meinem Promotionsthema „Rudolf Bultmann im ‚Dritten Reich‘“ gibt es bisher kaum Literatur. Bultmann war außerhalb der Theologie, auch bei den Historikern, weitgehend vergessen - man kennt hier in Marburg in der Regel nur noch die hiesige Bultmannstraße. Aber das Interesse an ihm wird wieder stärker. Es ist eine Wellenrezeption bei Bultmann. Das Rudolf-Bultmann-Institut für Hermeneutik unter der Leitung von Prof. Malte Dominik Krüger sowie die Rudolf Bultmann Gesellschaft für hermeneutische Theologie unter der Leitung von Prof. Christof Landmesser sind dem Erbe Bultmanns verpflichtet und versuchen, es weiter zu denken.

Bultmanns berühmter „Enthmythologisierung“-Aufsatz hat in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts in manchen Kreisen für starke Aufregung gesorgt - bis zum Vorwurf gegen ihn, er habe etwas Ähnliches gemacht, was auch die Nazis gewollt hätten: die Bibel zu zerstören. Wobei interessant ist, dass dieser Vorwurf manchmal von denen kam, die damit von ihrer eigenen Kooperation mit den Nazis ablenken wollten.

Wichtig ist: Der Widerstands-Begriff hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Geschichte hinter sich gebracht und wird immer ausdifferenzierter - insofern war Bultmanns Widerstand bisher nicht so leicht und plakativ einzuordnen wie etwa der Karl Barths oder der Dietrich Bonhoeffers.

Zudem war Bultmann lange sehr umstritten: Mitte der Sechziger Jahre haben sich rund 20.000 Menschen in der Westfalenhalle in Dortmund versammelt, organisiert vom Verein „Kein anderes Evangelium“, um gegen moderne Theologie zu protestieren. Da fiel auch Bultmanns Name oft. Mich fasziniert bei Bultmanns Theologie, auch für meinen persönlichen Glauben, sein existentieller Zug: Alles, was man vertritt, muss auch für einen selbst stimmen, jedoch ohne Beliebigkeit. Das leuchtet mir ein. Und das hat er während des „Dritten Reiches“ persönlich umgesetzt.

Karl Löwith, der getauft war, aber von den Nazis als jüdischer Philosoph verfolgt wurde, hat in seinen Lebenserinnerungen geschrieben, er sei nach der „Machtergreifung“ von allen ausgegrenzt worden. Der Einzige, der ihn vor seiner Auswanderung 1933 noch zu einem Abendessen eingeladen habe, war Bultmann. Er hat auch anderen jüdischen Freunden geholfen, indem er noch Ausweispapiere für eine Auswanderung besorgt hat. Dem Germanisten Erich Auerbach hat er für eine Arbeit bibliographische Angaben nach Istanbul hinterher geschickt - dorthin war Auerbach ins Exil geflohen.

Man muss trotzdem sagen: Bultmann war auch Teil des NS-Systems. Er war ein vom Staat bezahlter Professor. Das ist auch eine Frage der neuen Widerstandsforschung: Wie kann man in ein totalitäres System eingebunden sein und gleichzeitig widerständige Handlungen oder oppositionelles Aufbegehren leisten? Was sind Stufen des Widerstands und Stufen der Kollaboration? Hans Jonas würdigt, dass Bultmann nach dem Krieg sofort wieder das Gespräch mit ihm gesucht hat. Man konnte sich austauschen, als sei nichts gewesen, weil Jonas wusste, dass Bultmann einem anderen Geist verpflichtet war als viele seiner Kollegen.

Bultmann konnte Ende der Dreißiger Jahre den Nationalsozialismus nicht mehr so frontal angreifen wie noch am Anfang. Seine Predigtsammlung, die vor allem Predigten aus den späten NS-Jahren enthält, ist deshalb eher sehr vorsichtig in der Kritik an der Diktatur. Außerdem ruft Bultmann in seiner Theologie, wie gesagt, immer zu einer Entscheidung auf - aber wie die Entscheidung aussieht, das überlässt er dem Hörenden. Bultmann bot eine andere Sinndeutung an als die Nazis, auch dies hatte einen widerständigen Charakter. Vorsicht war geboten. Trotz der drohenden KZ-Haft standen Bultmann abgestufte Möglichkeiten widerständigen Handelns zur Verfügung, um Studenten und jüdischen Freunden zu helfen. Diese Möglichkeiten will mein Projekt aufzeigen.

Mit seinem Kollegen und Freund Hans von Soden war Bultmann Mitbegründer des Pfarrernotbundes und der Bekennenden Kirche in Marburg. Er hat versucht, Einflussnahmen des Regimes auf die Pfarrerausbildung einzudämmen. Auch in frühen Ansprachen und Predigten Bultmanns kann man seine Gegnerschaft zum Regime heraus lesen. Er hat sich früh und sehr klar gegen Bestrebungen gewandt, Rasse-Fragen in die Theologie zu integrieren oder gar einen „arischen Christus“ zu erfinden.

Bultmanns Verhältnis zu Juden in seiner Theologie bleibt aber umstritten. Er kam ja aus einem stark lutherischen Kontext, manches klingt da, euphemistisch gesagt, schwierig. Die traditionellen abwertenden Formulierungen über das Judentum („Gesetzesreligion“, „sich selbst gerecht sprechen“ etc.) gibt es auch bei Bultmann.

Das menschliche Verhältnis zu jüdischen Kollegen und Freunden war dagegen sehr offen. Gerade in seiner Frühzeit hier in Marburg hat Bultmann sich einen Kreis von jüdischen Kollegen aus anderen Disziplinen aufgebaut, in dem es auch Diskussionsabende gab. Es existiert diese - jedoch nicht nachprüfbare - Anekdote über ihn und Hannah Arendt. Demnach musste man als Student, Studentin vor einem Seminar in die Sprechstunde von Bultmann. Arendt tat dies und soll gesagt haben, dass sie Jüdin sei und sofort das Seminar verlassen werde, wenn es antisemitische Bemerkungen gebe. Bultmann soll darauf erwidert haben: „Fräulein Arendt, wir zwei werden mit der Situation schon fertig werden.“ Eine weitere von Schülern überlieferte Anekdote besagt, dass Bultmann sich am Morgen nach der Reichspogromnacht von 1938 in seiner Vorlesung ans Fenster gestellt und es aufgemacht habe. Dabei sei der Brandgeruch der abgebrannten Synagoge gleich neben dem Vorlesungssaal hinein geweht. Bultmann habe dazu zehn Minuten lang nichts gesagt.

Nach 1945 hat Bultmann in seiner ersten Predigt betont, dass das deutsche Volk ein falsches Menschenbild gehabt und sich schuldig gemacht habe. Er hat auch die These vertreten, dass es beim deutschen Volk eine Kollektivschuld gebe: Wir sind alle schuldig geworden, eine Grundschuld gebe es bei allen. Das ist mehr, als die meisten Theologen seiner Zeit zugeben wollten. Bultmann ist somit eine Persönlichkeit, deren weitere Erforschung sich lohnt.

Aufgezeichnet von Philipp Gessler

Philipp Gessler

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