Erinnern tut weh

In einem Flüchtlingslager im nordirakischen Kurdistan
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Die ganze Welt kennt das Schicksal der Jesiden, Millionen wurden für den Wiederaufbau ihrer Städte und Dörfer gespendet. Doch vier Jahre nach ihrer Vertreibung leben noch immer 320.000 Jesiden in Flüchtlingslagern im Irak. Und an Rückkehr in ihre Heimat ist nicht zu denken.

Sie waren immer zu viert. Almaz, Amira, Nassor und Halida. Zu viert saßen sie zu Hause und sahen sich Videos auf dem Handy an. Auf Instagram posteten sie Fotos von sich und manchmal beguckten sie die Accounts der Jungs, die sie mochten. Und immer sagten die anderen: Was habt ihr eigentlich den ganzen Tag so viel miteinander zu reden?

Seit sie im Flüchtlingslager wohnt, seit Nassor und Halida mit ihren Familien nach Westeuropa flohen, seit andere Mädchen aus ihrem Dorf verschollen sind, ob tot oder entführt, das weiß sie nicht, schweigt Almaz meistens. Alle in der Familie haben ihren Kummer. Warum sollte sich jemand für ihre Einsamkeit interessieren? Nur Amira ist ihr geblieben. Sie hat Almaz Bruder Hussein geheiratet. Doch Amiras Schweigen ist noch viel größer als ihres. Es ist so groß, dass Amira darin verschwunden ist. „Warum sprichst du nicht mit mir“, hat sie Amira gefragt. „Weil ich keine Worte mehr mag.“

Almaz ist zwanzig Jahre alt. Wäre sie in ihrem Dorf geblieben, hätte sie wohl schon einen der Jungen geheiratet, deren Fotos sie bei Instagram beguckte. Ob das ein gutes Leben gewesen wäre, das weiß nur Allah, aber es wäre ihr eigenes Leben gewesen. Das, was sie jetzt hat, gehört ihr nicht. Es gehört ihrer Großfamilie, mit der sie in Zelten wohnt, die zehn Mädchen in einem, die Jungen und die Männer im anderen, die Frauen im dritten, und dann gibt es noch zwei Küchen und zwei Toilettenhäuschen. Es gehört ihnen, weil es aus Arbeit für die anderen besteht: Wäsche waschen, putzen, kochen. Niemals klagen.

Verlorene Zukunft

Das Leben, das sie jetzt hat, ist gewoben aus Flucht, Armut, einem Zeltlager und steter Trauer um alles, was verloren ging. Das Heim, die Freundinnen, die Jungmädchenträume, zwei Paar hochhackige Schuhe, das Bild von ihr und den Freundinnen, das immer auf dem Nachtisch stand und das der Vater ihr verbot, noch in die Tasche zu stecken, als sie flohen.

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Verloren ging vor allem die Zukunft. Erst vor einigen Wochen hat sie ihren Vater wieder gefragt, wann sie nach Hause gehen. Sie weiß, es ist eine verbotene Frage, aber sie kann nicht anders, als sie immer wieder zu stellen. Diesmal hat der Vater ihr geantwortet. Nicht solange das irakische oder das kurdische Militär ihre Dörfer und Städte nicht schützen kann. Nicht solange es dort keine Infrastruktur gibt. Keine Schulen, Kliniken, Straßen, Polizei. Wann wird das sein, hat Almaz gefragt. „Erst in vielen, vielen Jahren“, hat er geantwortet und sie dabei nicht angesehen. Und Almaz dachte: Vielleicht heißt das: nie.

Almaz ist Teil der Familie Abdullah, und sie ist Jesidin, eine von vielen Hunderttausend, die im August 2014 vor dem IS aus ihrem Heimatgebiet rund um die nordirakische Stadt Sinjar fliehen mussten. Viel ist geschrieben und erzählt worden über diese Vertreibung und die Morde an jenen, die nicht entkamen. Jede Geschichte, die die Befreiten erzählten, war eine von Folter, Vergewaltigungen, Demütigungen und Schmerzen. Die junge Nadja Murat, auch eine Entkommene, wurde das Gesicht und die Stimme dieser Schicksale, sie hat der Welt davon erzählt. 2018 bekam sie dafür den Friedensnobelpreis.

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Die Abdullahs leben seit vier Jahren mit 16000 anderen Jesiden in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Dohuk, einer Stadt im nordirakischen Kurdistan. Rund um Dohuk gibt es 17 solcher Lager für alle, die durch den IS oder den Krieg gegen die Terrororganisation ihre Heimat verloren: auch Muslime und Christen. Rund um die Lager erstrecken sich sanfte Bergketten, das sich auf den sandigen Bergen brechende Licht taucht alles in einen warmen Schein. In anderen Zeiten, unter anderen Umständen, könnte man die stille Schönheit dieser Landschaft bewundern.

In all diesen Lagern stehen die Zelte in langen Reihen dicht an dicht, durchbrochen nur von kleinen Lebensmittelgeschäften, Friseuren, Reparaturwerkstätten, manchmal einen Gemüsegarten oder einem Stück Acker, auf dem Schafe weiden. Es gibt schlimmere Lager auf der Welt, doch was nützt das jenen, die hier leben und kaum Aussicht auf Rückkehr in ihre Heimat haben.

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Die Tatsache, dass die Jesiden noch immer Flüchtlinge sind, obwohl die internationale Gemeinschaft doch Millionen für den Wiederaufbau des Nordiraks spendete, ist eng verwoben mit der Politik des Iraks. Zum einen ist eine Rückkehr in ihre Heimat schwierig, weil umstritten ist, zu wem die Stadt und der Distrik Sinjar gehören: zum Irak oder zum autonomen Kurdistan. Zum anderen gehen die Gelder an die Zentralregierung nach Bagdad, werden von dort zugeteilt - oder eben nicht. Meist eben nicht. Und dann ist da noch immer die Furcht vor neuem Terror. „Der IS ist in der Fläche besiegt, aber das heißt ja nicht, dass er fort ist“, sagt Almaz Vater Hasan Abdullah. Der 73-Jährige fürchtet nicht nur Anschläge von Splittergruppen, er kann sich vor allem kein Zusammenleben mit Arabern mehr vorstellen. „Sie waren unsere Nachbarn, und dann haben sie uns an den IS verraten. Wer garantiert mir, dass sie es nicht wieder tun?“

Hasan Abdullah ist auch im Lager das Oberhaupt der Familie, sein Wort ist Gesetz. In seiner Gegenwart schweigen die Frauen. Ihm obliegt es, von den politischen Dingen zu reden und von der ökonomischen Notlage, in der sich die Familie wie auch alle anderen Familien im Lager, befindet. „Unter dem IS haben alle gelitten. Uns aber hat man versucht, auszulöschen. Es ist nicht gelungen, aber nun werden unsere Seelen ausgelöscht, weil wir keine Heimat, keine Herden, keine Kultur und keine Traditionen mehr haben. Wir sind nur noch Flüchtlinge.“

Dass er seine 21-köpfige Familie kaum ernähren, schon gar nicht kleiden kann, schmerzt den alten Mann. Weil nur zwei seiner Söhne Arbeit haben und das nicht reicht, hat er den Mädchen erlaubt, im Sommer bei den Bauern auf dem Feld Kartoffeln zu ernten: für fünfzig Cent die Stunde. Für Almaz war es dennoch endlich einmal Freiheit und einige Stunden ohne die Familie.

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Das Eingesperrt-Sein hat nicht nur Auswirkungen auf die Psyche der Frauen, auch auf ihre Gesundheit. Alle weiblichen Mitglieder der Abdullahs haben blasse Gesichter und müde Augen. Almaz hat einmal davon geträumt, Anwältin zu werden, jetzt hat sie nicht einmal einen Schulabschluss. Almaz Tante Tauri, 37 Jahre alt, aber viel älter aussehend, leidet an Depressionen und Angstzuständen. Hilfe dafür gibt es im Lager nicht und auch nicht in der Familie. Tauri ist Witwe ohne Kinder, in der Hierarchie steht sie ganz unten: ein zusätzlicher Esser ohne großen Nutzen. Auch sie wagt nur zu sprechen, wenn das Familienoberhaupt nicht dabei ist: Das Leid der Frauen, sagt sie, sei nicht viel wert angesichts der finanziellen Probleme.

Es gibt Geschichten, in denen findet man keine Hoffnung, so viel man auch danach sucht. Man könnte sagen, es geht voran in den Lagern. Die Abdullahs haben Hilfe erhalten von der internationalen Organisation Care, die in vier Flüchtlingslagern die Menschen versorgt. Care hat diese Reportage unterstützt, damit die Not der Jesiden nicht in Vergessenheit gerät. Denn auch wenn jede Familie inzwischen eigene Sanitäranlagen und Küchen hat, bleiben die Zelte doch Notunterkünfte, tauglich vielleicht für einige Monate, nicht aber für viele Jahre. „Die psychische Belastung der Enge und der Aussichtslosigkeit ist schlimm. In Verbindung mit den alltäglichen Problemen wird sie für manche unerträglich“, sagt Care-Mitarbeiterin Nizhar Zubair Rmadhan, die sich im Flüchtlingslager um die Frauen kümmert.

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Am Rande des Lagers wird an jenem Tag des ersten Todestags der 17-jährigen Maskin gedacht. In zwei großen Zelten sitzen die Kondolenzgäste, die Frauen in einem, die Männer im anderen. Maskin, so erzählt es ihr Cousin Alexander, habe sich erhängt, weil sie ihre Depressionen nicht mehr aushielt. Und sie sei nicht die einzige, viele junge Leute sähen keine Perspektive mehr. „Seit Jahren kommen hier Journalisten, Delegierte, ausländische Politiker, jeder bringt Versprechen, aber nichts wird besser. It is a fucking life. “

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Für Almaz endet der Tag, wie er begann: mit putzen und kochen. Almira hilft ihr, für die Großfamilie Gemüse zu schneiden und den Reis zu waschen. Anderes als Reis und Gemüse oder Kartoffeln und Gemüse kommt bei den Abdullahs fast nie mehr auf den Tisch. Zwar gibt es im Flüchtlingslager auch Fleisch zu kaufen und manchmal sogar Fisch aus den heimischen Seen, aber ihnen fehlt das Geld dafür. „Weißt du noch, wie viel wir früher immer gegessen haben, wenn wir Hochzeiten feierten?“, hat Almaz einmal Amira gefragt. „Das Fleisch von Schafen und Kühen und dazu Pasteten und Aufläufe, Torten und Süßigkeiten. Weiß du noch, wie das geschmeckt hat?“ „Ich will mich nicht erinnern“, hat Amira gesagt. „Erinnern tut zu sehr weh.“

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Andrea Jeska (Text und Fotos)

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