Kurs auf schwere See

Die Gewerkschaften brauchen dringend öffentliche Unterstützung
Demonstration gegen Klimaabgabe für Kohlekraftwerke im April 2015 in Berlin. Foto: dpa/ Rainer Jensen
Demonstration gegen Klimaabgabe für Kohlekraftwerke im April 2015 in Berlin. Foto: dpa/ Rainer Jensen
Nur noch etwa jeder fünfte Arbeiter und Angestellte ist Mitglied einer Gewerkschaft. Gleichzeitig steht die Arbeitswelt vor einer weiteren Welle der Rationalisierung und veränderten Produktionsbedingungen. Wie können Gewerkschaften in dieser Situation ihre gesellschaftliche Bedeutung behalten? Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena, beschreibt die Chancen und Risiken.

Betrachtet man die organisierten Arbeitsbeziehungen in Europa, so scheint es um die Zukunft der Gewerkschaften nicht gut bestellt. In den meisten europäischen Ländern sinkt der gewerkschaftliche Netto-Organisationsgrad (Anteil der berufsaktiven Gewerkschaftsmitglieder an allen abhängig Beschäftigten). Während er in Schweden noch bei etwa 67 Prozent liegt, ist er in vielen Ländern unter die 20-Prozent-Marke, in Frankreich gar auf acht Prozent gesunken. Parallel dazu ist auch die Tarifbindung der Unternehmen in den meisten EU-Ländern rückläufig. Während in Österreich immerhin 98 Prozent der Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifbindung arbeiten, sind es in Griechenland 40 Prozent, in Ungarn 23 Prozent und in Polen nur noch 15 Prozent.

Auf den ersten Blick stellt Deutschland in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Die Fakten sind hinlänglich bekannt. Zwischen 1991 und 2012 hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) etwa 48 Prozent seiner Mitglieder verloren; der durchschnittliche gewerkschaftliche Organisationsgrad lag 2018 noch bei etwa 18 Prozent. Obwohl sich der Mitgliederbestand einiger Gewerkschaften wieder konsolidiert hat, schwindet der Organisationsanreiz auf der Kapitalseite. Arbeitgeberverbände ermöglichen Unternehmen eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. Das hat die Verbindlichkeit tariflicher Normen zusätzlich geschwächt.

Die Prägekraft von Flächentarifverträgen und der Tarifbindung allgemein hat in der gesamten Bundesrepublik seit den Neunzigerjahren kontinuierlich abgenommen und ist in den ostdeutschen Bundesländern besonders schwach. 2017 arbeiteten 43 Prozent der Beschäftigten im Westen und 56 Prozent der Ost-Arbeitnehmer in Betrieben, in denen es keine Tarifbindung mehr gab. 71 Prozent der westdeutschen und 81 Prozent der ostdeutschen Betriebe werden nicht mehr über Kollektivvereinbarungen reguliert.

Standbein verloren

Mit der Erosion des Flächentarifs geht dem dualen System der Interessenrepräsentation ein wichtiges Standbein verloren. Die alte Arbeitsteilung zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften steht zur Disposition. Wo den Gewerkschaften oberhalb der Betriebs- und Unternehmensebene die Konfliktpartner fehlen, kann der „demokratische Klassenkampf“ - gemeint sind nach den Regeln organisierter Arbeitsbeziehungen geführte, ausgehandelte Arbeitskonflikte und Tarifauseinandersetzungen - nicht mehr aus dem Betrieb ausgelagert werden. Teilweise sind die Tarifparteien gar nicht mehr handlungsmächtig und die Gewerkschaften benötigen, wie beim allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, den interventionistischen Staat, um überhaupt noch verbindliche soziale Regeln setzen zu können.

Was wie ein geradliniger Niedergang organisierter Arbeitsbeziehungen wirken könnte, erweist sich jedoch bei einem zweiten, genaueren Blick als Übergang zu einer neuen Konfliktformation. Gewerkschaftliche Interessenpolitik findet zunehmend in zwei Welten organisierter Arbeitsbeziehungen statt. Handlungsfähig sind die Gewerkschaften vornehmlich in der ersten Welt tariflicher Regulation, in welcher branchenbezogene Vereinbarungen und betriebliche Mitbestimmung noch immer die Norm darstellen. Jenseits davon, in der zweiten Welt weitgehend deregulierter Arbeit, müssen die Arbeitnehmerorganisationen ihre Handlungsfähigkeit mühsam, das heißt Betrieb für Betrieb und Unternehmen für Unternehmen, erstreiten. Das Grenzregime zwischen den beiden Welten ist strukturell konfliktträchtig.

So war 2015 für die organisierten Arbeitsbeziehungen in Deutschland sicherlich ein außergewöhnliches Jahr. In deutlichem Kontrast zur Entwicklung in den meisten europäischen Staaten kam es zu einer Serie von Arbeitskämpfen. Rund zwei Millionen Streiktage (2014: 392.000) mit etwa 1,1 Millionen Beteiligten (2014: 345.000 Streikende) zeugten von neu erwachtem gewerkschaftlichem Selbstbewusstsein. Zwar ist die Konfliktträchtigkeit der Arbeitsbeziehungen im europäischen Vergleich noch immer unterdurchschnittlich ausgeprägt und sie hat - wenig überraschend - nach 2015, zumindest was die Zahl der großen Arbeitskämpfe angeht, wieder etwas nachgelassen, dafür aber 2018 im Streik der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) um eine kurze Vollzeit von 28 Wochenstunden eine neue Dynamik angenommen. Insgesamt waren zwischen 2012 und 2016, das Jahr 2014 ausgenommen, jeweils mehr als eine Million Beschäftigte an Streiks beteiligt. Nach einem vorübergehenden Abebben hat die Zahl der Streikenden 2018 wieder deutlich zugelegt.

Von Bewegungen zwischen schrumpfender erster und expandierender zweiter Regulationswelt zeugen jedoch zahlreiche kleinere Auseinandersetzungen um Firmen- und Haustarife, die einer eigenen Dynamik folgen. Nur in besonders spektakulären Fällen gelangen diese Konflikte überhaupt in die Schlagzeilen und werden deshalb eher selten von der Streikstatistik erfasst. Nach den vorliegenden Zahlen haben sich Tarifkonflikte, die mit Streiks verbunden sind, binnen weniger Jahre von nur 82 (2007) auf 214 (2014) beinahe verdreifacht.

Galt der industrielle Friede lange Zeit als Produktivitätsfaktor, der von den Akteuren der organisierten Arbeitsbeziehungen gehegt und gepflegt wurde, so gleichen die Arbeitsbeziehungen nun auch in Deutschland in wichtigen Unternehmen und Branchen mehr und mehr einem Guerillakrieg, in welchem wieder um basale Arbeitsstandards gerungen werden muss. Angesichts der neuen Konfliktformation sind die Gewerkschaften gezwungen, sich stärker als soziale Bewegung zu begreifen und ihre Ressourcen entsprechend einzusetzen. Gewerkschaften wie Ver.di und die IG Metall experimentieren mit offensiven Organizing-Konzepten, um den Organisationsgrad wieder zu erhöhen. In vielen lokalen Gliederungen setzen sich Formen bedingungsgebundener Gewerkschaftsarbeit durch. Lokale Gewerkschaftssekretäre werden erst tätig, wenn sich Belegschaften selbst organisieren und einen bestimmten Organisationsgrad erreichen. Auf diese Weise soll eine Abkehr von bloßer Stellvertreterpolitik erreicht werden.

Über die betriebliche Ebene hinaus lässt sich ein Funktionswandel von Arbeitskämpfen beobachten. Streiks dienen häufiger explizit der Mitgliederrekrutierung. Teilweise können sie, wie im Falle des Tarifkampfs der Erzieherinnen, kaum ökonomischen, wohl aber politischen und gesellschaftlichen Druck ausüben. Mitunter werden sie - wie im Extremfall Amazon - über Jahre hinweg geführt und können nur auf dem Weg internationaler Vernetzung erfolgreich sein. Insgesamt werden Arbeitskämpfe weiblicher, sie erreichen prekär Beschäftigte, und sie können, wie im Fall der Erzieherinnen, von eigens gewählten Streikdelegierten getragen werden und eine eigene Dynamik annehmen, die dazu führen kann, dass Schlichtungsvorschläge auch zur Überraschung gewerkschaftlicher Tarifkommissionen unter Mitgliedern keine Mehrheiten finden.

Zeit als Reichtum

Vor allem aber können Arbeitskämpfe trotz widriger Rahmenbedingungen äußerst erfolgreich geführt werden. Der seitens der IG Metall geführte Tarifkonflikt um eine verkürzte Vollzeit liefert dafür ein Musterbeispiel. Neben einer deutlichen Lohnerhöhung eröffnete der Tarifabschluss Beschäftigten die Option, eine verkürzte Vollzeit von 28 Stunden zu wählen, um eine Person zu pflegen, Kinder zu erziehen oder einen Ausgleich für belastende Schichtarbeit zu haben. Alle Beschäftigten bekommen zudem ein tarifliches Zusatzgeld, das den Lohnverlust bei Arbeitszeitverkürzung teilweise ausgleicht. Dieses Zusatzgeld können sich Beschäftigte wahlweise auch in zusätzlichen freien Tagen auszahlen lassen. Die Reduktion auf 28 Stunden ist eine individuelle Option für zwei Jahre mit Rückkehrrecht auf die volle Stelle. Im Gegenzug können die Unternehmen innerhalb eines begrenzten Rahmens länger als 35 Stunden arbeiten lassen. Wird die vereinbarte Quote für längere Arbeitszeiten überschritten, muss der Betriebsrat zustimmen. Ähnliche Regelungen hatte es zuvor nur bei der Bahn und in wenigen Organisationsbereichen von Ver.di gegeben. Bemerkenswert ist, dass die Option zu individueller Arbeitszeitverkürzung etwa mit der Frage nach Zeit für pflegebedürftige Personen verbunden ist und damit wichtige gesellschaftliche Probleme aufgreift. Das trägt einer Entwicklung Rechnung, wie sie schon Karl Marx prognostiziert hatte: Auf einem bestimmten Wohlstandsniveau besteht der reale Reichtum in der frei verfügbaren Zeit für jedes Individuum und die Gesellschaft. Viele gut ausgebildete Beschäftigte möchten heute mehr als einen guten Verdienst und einen interessanten Job. Sie wollen Verfügung über ihre Zeit zum Leben. Die Politisierung eines weiten Arbeitsbegriffs, der sich nicht auf Erwerbsarbeit beschränkt, hatte zu einer Mobilisierung geführt, die selbst die Gewerkschaftsspitze überraschte. Etwa 1,5 Millionen Beschäftigte waren an den Warnstreiks und dem neuen Format der 24-Stunden-Streiks beteiligt.

Ob sich solche Mobilisierungserfolge verstetigen lassen, ist freilich ungewiss, denn die Gewerkschaften sehen sich mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Erstens wird die zweite Welle der Digitalisierung die Arbeitswelt erneut gründlich verändern. Schon jetzt zeichnet sich eine Polarisierung der Qualifikationsstruktur ab. Von Rationalisierung und Arbeitsplatzverlusten könnten künftig auch mittlere Beschäftigtensegmente betroffen sein, die lange als relativ rationalisierungsresistent galten. Vor allem zeichnet sich jedoch eine neue Flexibilisierungswelle ab. Unternehmen nutzen die Plattformökonomie, um Mitbestimmung und tarifliche Normen zu unterlaufen und Beschäftigungsverhältnisse zu prekarisieren. Hier bietet sich Gewerkschaften ein neues Betätigungsfeld, das erst noch erschlossen werden muss. Dabei wird es neben der Gestaltung des technologischen Wandels und neuen digitalen Rechten (etwa das Recht auf Nichterreichbarkeit) auch um elementaren Schutz vor totaler elektronischer Überwachung und Datenmissbrauch gehen. Ein Recht auf lebenslange Weiterbildung, die von den Unternehmen mit finanziert werden muss, dürfte sich bei der Gestaltung der digitalen Arbeitswelt als ein zentrales Feld künftiger Auseinandersetzungen erweisen.

Bei all dem darf zweitens nicht übersehen werden, dass der sozialökologische Transformationskonflikt inzwischen das Herzstück der deutschen Industrie erreicht hat. Verbindlich vorgegebene Dekarbonisierungsziele zwingen vor allem das Wertschöpfungssystem Automobil zu gravierenden Veränderungen von Produkten und Produktionsverfahren. Für einen Teil der Auto- und Zulieferindustrie wird es nicht um Transformation, sondern um Konversion, um völlig neue Produkte und Produktionsverfahren für ein anderes Mobilitätssystem gehen müssen. Allein die - ökologisch betrachtet völlig unzulängliche - Umstellung auf E-Mobilität könnte in der Autoindustrie bis zu 200.000 Arbeitsplätze kosten. Deshalb werden Beschäftigungsgarantien und neue Beschäftigungsmöglichkeiten für alle jene, die in den Karbon-Branchen arbeiten, zu einer gewerkschaftlichen Kernforderung werden müssen.

Kampf gegen Rechtsradikale

Dies ist drittens umso wichtiger, als sich Rechtspopulisten und Rechtsradikale schon jetzt darum bemühen, als Anwälte der sozialen Frage aufzutreten, die zugleich den Klimawandel leugnen und Braunkohlebergbau wie Verbrennungsmotor eine rosige Zukunft prophezeien. Schon jetzt tendieren - vor allem männliche - Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder in überdurchschnittlichem Ausmaß zur Wahl der rechtspopulistischen AfD. Für gewerkschaftliche Solidarität ist das ein Sprengsatz, denn diese Solidarität kann letztendlich nur über Geschlechtergrenzen, ethische und nationale Unterschiede hinweg erfolgreich praktiziert werden. Deshalb werden sich die Gewerkschaften auf eine Auseinandersetzung mit langem Atem einstellen müssen. Es hilft nicht, Rechtstendenzen in Teilen der eigenen Mitgliedschaft aus Furcht vor Austritten zu verschweigen oder zu bagatellisieren. Im Gegenteil - Gewerkschaften sind die einzige demokratische Organisation, die bestimmte Arbeitergruppen überhaupt noch erreichen. Daraus erwächst eine besondere demokratiepolitische Aufgabe. Die Gewerkschaften müssen aktiv und offensiv um die Köpfe derjenigen werben, die in der Wahl der AfD vor allem einen Protestakt sehen. Das geht nur auf dem Weg des langen, partizipativen Überzeugens. Innovative politische Bildung dürfte hierfür unentbehrlich sein. Die Gewerkschaften kommen aber auch nicht umhin, klare Grenzen zu ziehen, wenn es um Gewaltbereitschaft, offenen Rassismus und aktives Engagement in rechtsradikalen Parteien und Bewegungen geht.

Aus all dem ergibt sich, dass sich die Gewerkschaften noch mehr als schon zuvor in schwerer See bewegen werden. Solche Perioden haben sie in ihrer Geschichte schon des Öfteren erlebt. Dass sie die neuen Herausforderungen meistern werden, ist nicht ausgemacht. Ihr fortgesetzter Niedergang ist aber ebenso wenig vorprogrammiert. Denn eines ist klar: Demokratische Zivilgesellschaften benötigen Gewerkschaften, auch und gerade für die digitale Arbeitswelt der Zukunft. Deshalb brauchen sie für ihre Anliegen dringend öffentlich Unterstützung - durch Politik und demokratische Parteien ebenso wie seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen und nicht zuletzt der Kirchen. Denn ohne eine solche Unterstützung könnte drohen, was sich schon jetzt in manchen europäischen Ländern abzeichnet: eine Eskalation von nicht-normierten Konflikten außerhalb organisierter Arbeitsbeziehungen, für die französische Gelbwesten und Aufstände in Vorstadtghettos eine erste Vorwarnung liefern.

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Klaus Dörre

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