Mut zur Veränderung

Sonntagspredigt
Foto: Mario Brink

Geistlich bereichert

18. Sonntag nach Trinitatis, 16. Oktober

Kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse. (Epheser 5,16)

Es sind unruhige Zeiten. Gefühlt wird unser Leben seit mehr als sieben Jahren ununterbrochen von globalen Krisen bestimmt: Migration, Corona, Klima und Ukraine-Krieg – mit all den Folgen für die Wirtschaft, das gesellschaftliche Klima und das eigene Leben. Die Jahre „sind böse“, könnte man in Abwandlung des Verses aus dem Epheserbrief sagen. Selbstverständlich ist auch nicht alles schwarz. Und jede und jeder von uns wird die Situation unterschiedlich erleben und einordnen. Eine differenzierte Betrachtung ist also notwendig. Und doch: Ein Dauerblues ist immer wieder zu verspüren.

Auch die ersten Christenmenschen verspürten nicht selten äußere Umstände, die ihnen das Leben erschwerten. Ihre Lebensumstände unterschieden sich stark von unseren, sind daher nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar. Und doch ist bei ihnen eine gewisse Unsicherheit zu vernehmen, die der gegenwärtigen Unsicherheit vieler Menschen ähnlich ist.

Im Epheserbrief werden für den Umgang damit verschiedene Ratschläge erteilt. Einer davon scheint mir für unser Zusammenleben besonders hilfreich zu sein: „Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern“ (Epheser 5,19). Sich gegenseitig ermuntern, in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis und im Verein, in der Kirchengemeinde oder wo immer wir auf andere Menschen treffen und mit ihnen zusammenarbeiten. Sich immer wieder gegenseitig ermuntern, kann helfen, gemeinsam durch unruhige Zeiten zu kommen. Vielleicht ja sogar, wie es der Text vorschlägt, mit Formen geistlicher Gemeinschaft.

Dieser Zugang ist vielleicht ungewöhnlich. Doch einander geistlich bereichern und aufzubauen, ist vermutlich einer der wichtigsten Dienste, den wir uns als Christenmenschen gegenseitig erweisen können. Und auf eine unaufdringliche Art und Weise helfen geistliche Ausdrucksformen wohlmöglich auch Menschen, die sich außerhalb von Glauben und Kirche bewegen. Das Potenzial dazu besteht zumindest.

 

Keine Einbahnstraße

19. Sonntag nach trinitatis, 23. Oktober

Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. (Markus 2,4)

Senkrecht von oben“ – mit dieser Kurzformel wird in der wissenschaftlichen Theologie nicht selten die Offenbarungstheologie Karl Barths (1886 – 1968) bezeichnet. Darin ist der Gedanke zentral, dass die Beziehung von Gott und Mensch von Gott her zu denken ist: In Jesus Christus, dem sich offenbarenden Wort Gottes, wendet sich Gott dem Menschen zu. Von sich aus sind Menschen dagegen nicht in der Lage, zu Gott zu kommen und sich ihn zu erschließen.

Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten, der durch ein Dach zu Jesus heruntergelassen wird, erzählt ebenfalls eine Bewegung „senkrecht von oben“. Allerdings mit einer anderen Perspektive. Hier macht sich ein Mensch senkrecht von oben auf, um Jesus zu begegnen und eine Heils- und Gotteserfahrung zu machen. Mehr noch: Durch die vom Gelähmten ausgehende Bewegung erfahren die Worte Jesu, die er in dem Haus in Kapernaum an die Leute richtet, eine Dimensionserweiterung. Jesu Verkündigung des Reiches Gottes ist in diesem Moment nicht nur hörbar – sie ist durch die Heilung sichtbar und für den Geheilten sogar spürbar. Diejenigen, die dem Geschehen beiwohnen, erleben Jesus und seine Botschaft durch die Bewegung des Gelähmten vielschichtiger als zuvor.

Gottes Bewegung auf uns zu mag zuerst erfolgen. Doch Zeuge davon zu sein, wie Menschen sich auf Gott zubewegen, vermag immer noch eine Erfahrung schenken, die die eigenen Perspektiven auf Gott erweitert. Das gilt sicher auch für die eigene Bewegung zu Gott.

 

Relative Freiheit

20. Sonntag nach Trinitatis, 30. Oktober

Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. (Hoheslied 8,6)

Vor der Bewältigung einer kräftezehrenden Herausforderung tut es gut, sich Kraftquellen zu erschließen und sich widerstandsfähig zu machen. Das gilt für das berufliche und schulische Leben ebenso wie für anstrengende Aufgaben im privaten Bereich. So besteht eine größere Chance, schwierige Situationen bestehen zu können. Eine ähnliche Ausrichtung gibt es, wenn man die Bewegung des Kirchenjahres nachvollzieht: Ende Oktober richtet sich schon unser Blick auf den beginnenden November, den Trauermonat mit seinen Gedenktagen für diejenigen, die in unserem privaten Umfeld eines natürlichen Todes starben, und diejenigen, die unter einer Gewaltherrschaft oder in Kriegen umkamen. Und auch der Buß- und Bettag ist alles andere als leicht. So gibt es im November Tage, die manchmal schwer auszuhalten sind, nicht zuletzt auch, weil das graue Wetter die Stimmung zusätzlich verdüstert.

Im Hohelied gibt es einen Gedanken, der auch für diese Zeit eine Kraftquelle sein kann: „Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.“ Gedanken über den Tod und das Totenreich werden bei den Gedenk- und Feiertagen im November unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, besonders angesichts des Krieges in der Ukraine und der Bilder von Flüchtlingen, Gefolterten und Getöteten und zerstörten Dörfern und Städten. Doch die Liebe ist stark, ja stärker als die Mächte und Gewalten, die das Leben belasten, beschädigen und auslöschen. Gottes Liebe zu und seine Leidenschaft für uns lässt uns in den Irrungen und Wirrungen dieser Welt nicht untergehen. Denn seine Liebe verknüpft unser Dasein mit ihm. Gott eröffnet eine Beziehung zu ihm und schenkt uns so eine relative Unabhängigkeit vom Weltgeschehen. Natürlich sind wir nicht aus der Welt. Uns bewegt und bedrückt, was wir unmittelbar oder vor Fernseher und Radio und bei der Zeitungslektüre erleben. Aber die Hiobsbotschaften sind nicht das letzte Wort. Das letzte Wort hat vielmehr der sich uns in Liebe zuwendende Gott – nicht nur, gerade auch im November mit seinen trüben Tagen.

 

Provokantes Essen

Reformationsfest, 31. Oktober

Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken. (Psalm 46,3)

Mit der Veröffentlichung der 95 Thesen durch Martin Luther am 31. Oktober 1517 wird gemeinhin der Beginn der Reformation verbunden. Im kulturellen Gedächtnis hat sich dieses Ereignis vor allem als Thesenschlag an der Tür der Schlosskirche von Wittenberg eingebrannt. Was für die lutherische Reformation der Thesenschlag, ist in seiner Symbolik für die reformierte Reformation das „Zürcher Wurstessen“. Es fand vor genau 500 Jahren statt. Am 9. März 1522, dem ersten Sonntag der Fastenzeit, fanden sich beim Buchdrucker Christoph Froschauer Zürcher Bürger ein, um bewusst die Fastengebote der römisch-katholischen Kirche zu übertreten. Obwohl es verboten war, aßen sie Wurst. Auch der Priester Ulrich Zwingli, der später in Zürich Reformator wurde, hatte dem Ereignis beigewohnt, soll aber auf den Wurstverzehr verzichtet haben.

Bei allen Unterschieden in der Entwicklung der lutherischen und der reformierten Kirchen sind Gemeinsamkeiten zu erkennen: Ähnlich wie in Wittenberg brach sich auch in Zürich der Freiheitsdrang Bahn gegenüber theologischen Vorstellungen und religiösen Praktiken, die als falsch betrachtet wurden. Während Luther Anstoß an der Bußpraxis der römisch-katholischen Kirche nahm, war es für Zwingli die Fastenpraxis. Der Wunsch, sie zu überwinden und eine freiere Form religiöser Lebensgestaltung zu gewinnen, machte das provokative Zürcher Wurstessen deutlich. Damit setzte in der Stadt an der Limmat die reformatorische Bewegung ein, die in der ganzen Welt zur Ausbildung des reformierten Protestantismus geführt hat und die zweite Säule des evangelischen Christentums bildet.

Freiheitsentscheidungen brauchen Mut. Nicht nur im kirchlichen Kontext, sondern auch in anderen Lebensbereichen. Gut, dass es deshalb Mutmacher wie Psalm 46 gibt: „Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken.“

Es mag sein, dass die Entscheidung, bestimmte Wege einzuschlagen, dramatische Folgen und Veränderungen der äußeren Umstände mit sich bringt, die zunächst nicht absehbar sind. Wenn diese Entscheidungen dazu führen, sich von Dingen zu befreien, die belasten und unfrei machen, muss man sie – ohne Furcht – treffen. Selbstverständlich sind die Folgen des eigenen Handelns abzuwägen. Und es ist sinnvoll, sich bei der Entscheidungsfindung mit anderen auszutauschen. Aber die Furcht vor Veränderungen sollte nicht die für notwendig erachteten Entscheidungen verhindern.

 

Trotz des Krieges

Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr, 6. November

Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch. (Lukas 17,21)

Im August und September tagte in Karlsruhe die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Erstmals seit seiner Gründung 1948 fand die Versammlung der größten ökumenischen Organisation der Welt in Deutschland statt (vergleiche Seite 42). Zum ersten Mal seit 1968 trafen sich Vertreter von 352 Kirchen wieder in einer europäischen Stadt. Angehörige unterschiedlicher Konfessionen und Denominationen versammelten sich in Karlsruhe unter dem Motto „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“. Dass dies im Schatten des russischen Überfalls auf die Ukraine erfolgte, machte die Zusammenkunft von Christenmenschen aus der ganzen Welt noch außergewöhnlicher – nicht zuletzt auch aufgrund der Frage, wie mit der zum ÖRK gehörenden Russisch-Orthodoxen Kirche umzugehen ist.

„Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch“, spricht Jesus Christus im Lukasevangelium. Da, wo Menschen im Namen und im Zeichen der Liebe Christi zusammenkommen und sich trotz aller Verschiedenheit aufeinander zubewegen, da ist das Reich Gottes mitten unter ihnen. Das war in Karlsruhe zu spüren. Doch das Reich Gottes ist nicht allein bei einer internationalen Kirchenversammlung zu spüren. Auch in der vertrauten Umgebung der Ortsgemeinde oder der Kirche im eigenen Land oder auf der anderen Seite der Grenze kann das Reiches Gottes erlebt werden. Die ökumenische Verständigung und das Bemühen, bei aller Unterschiedlichkeit in Verbindung zu stehen, sind Ausdrücke gelebter Versöhnung. Und das tut schlichtweg gut. 

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Foto: Mario Brink

Gregor Bloch

Gregor Bloch ist Pfarrer und theologischer Mitarbeiter des Evangelischen Bundes Westfalen und Lippe. Er wohnt in Detmold.


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