Wie lassen sich Mensch, Natur und Kunst im Anthropozän, im „Zeitalter des Menschen“, und angesichts der drohenden ökologischen und sozialen Katastrophen neu denken? Wie können wir angesichts von Krieg, Klimawandel und Artensterben eine Zeitenwende verstehen, die sich mehr am Ziel der Verbundenheit als an einem neuen machtbasierten Antagonismus orientiert? Der Komponist und Musikphilosoph Wolfgang-Andreas Schultz regt dazu eine zweite Renaissance für Europa an.

Europas „erste Renaissance“ als Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erhielt ihre Impulse aus den Schriften der Antike, die wieder neu gelesen wurden. Aber was ging dabei alles verloren, fragt Schultz. Trennungen waren ihr Ergebnis: die Trennung des Menschen von der Natur, die Trennung Gottes von Gottes Schöpfung und die Trennung des Ichs vom Anderen. Als Komponist sind Schultz dabei Konzerte vor Augen (und Ohren). Die Zusammenspiele von Komponierenden, Interpretinnen und Zuhörern zeigen, dass ein großes Werk erst im Zusammenspiel miteinander entsteht. Das Spiel, das wir in Europas geistesgeschichtlicher Entwicklung zuletzt immer wieder lernten, war weniger vom Teamgeist geprägt. Es ging um Individualität durch Reduktion und Abstraktion von sozialen Beziehungen, und es fußt gerade in der Wissenschaft meist immer noch allein auf Objektivierung und damit auf Abgrenzung und Distanz. In Europa und im Abendland sei meist versucht worden, Dinge isoliert wahrzunehmen und sie so in ihrer Essenz zu verstehen.

Das habe auch in der Kunst ihr Pendant, so der Autor. Ein augenscheinliches Beispiel ist für den Wissenschaftler die Isolation der Klänge in der Zwölf-Ton-Musik, der seriellen Musik des 20. Jahrhunderts oder auch der elektronischen Musik. So anregend aber auch seine beispielhaften Interpretationen sind, so sehr scheinen sie in ihrem Kontext doch auch ein musikphilosophischer Kurzgriff zu sein. So wird von Schultz der vielseitig besetzte Naturbegriff in unserer Kulturgeschichte nur unzureichend reflektiert, so dass künstlerische und ökologische Anliegen miteinander verschwimmen. Nicht wenige Werke elektro­akustischer und serieller Musik könnten auch als Beispiele gegen vorherrschende Doktrin und damit heute auch gegen einen zerstörerischen, ausbeuterischen Umgang mit unserer Umwelt oder Mitwelt interpretiert werden.

Auch bei seinen religionsgeschichtlichen Untersuchungen droht Schultz manchmal das Kind mit dem Bade auszuschütten. So richtig und wichtig die weitere Rehabilitierung ganzheitlicher Religion ist, die vor allem auch nicht von der Lebendigkeit des Körpers abstrahiert werden sollte, so ist doch die Annahme, dass sich solch ein Verständnis nur an den Rändern des Christentums oder gar als Häresie finden lasse, doch eine Engführung, die besser zu belegen wäre. So findet sich Verbundenheit in Gott von allem, was atmet, nicht nur bei Hildegard von Bingen, der Pneumatologie des katholischen Dogmatikers Karl Rahner oder in den Schriften des Reformators Martin Luther. Europas zweite Renaissance aber liest sich zwischenzeitlich wie die „Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie“ des Pietisten Gottfried Arnolds, der den wahren Glauben nur abseits der etablierten Religion zu finden meint. Dabei wäre es gerade in unserem schnelllebigen Wissenschaftsbetrieb wünschenswert, wenn Werke und Quellen auch gegen die eigene Hypothese durchforscht würden.

Die Fragen aber, die Schultz aufwirft, weisen uns als Kirche in Richtung des reformatorischen Grundanliegens „Ecclesia semper reformanda“. Denn auch dort, wo etwas vielleicht nicht mehr richtig gelebt wird und so ein Wissen verschüttet wurde, muss es angesichts der großen ökologischen und sozialen Herausforderungen im An­thropozän wieder neu entdeckt werden. Dem haben sich Religion wie Kunst gleichermaßen zu stellen. Ein weiteres Mal könnten sie sich erneuern, eine zweite Renaissance wäre ihr Ergebnis.

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Foto: Asmus Henkel

Constantin Gröhn

Constantin Gröhn (geboren 1976) ist theologischer Referent für Diakonie und Bildung in Hamburg. Er versucht dem Motto Ludwig Feuerbachs „Du bist, was Du isst“, immer mal wieder auf die Spur zu kommen.


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