Schmeckt nach Zukunft

Die „Drop-in“-Taufe in Hanau berührt Menschen und sorgt für Diskussionen
„Ich mache das als Antwort auf das, was passiert ist.“ Petronella Helm bei ihrer Taufe in der Hanauer Neuen Johanneskirche, gleich mit zwei Geistlichen, Miriam Weiner und Horst Rühl.
Foto: Moritz Göbel
„Ich mache das als Antwort auf das, was passiert ist.“ Petronella Helm bei ihrer Taufe in der Hanauer Neuen Johanneskirche, gleich mit zwei Geistlichen, Miriam Weiner und Horst Rühl.

Einfach vorbeikommen ohne Voranmeldung und sich taufen lassen – das war die Idee an einem Samstagnachmittag im Spätsommer in der Neuen Johanneskirche in Hanau. Eine Aktion nicht ohne Risiko, auch wegen heftiger Kritik vor der Veranstaltung. Würde überhaupt jemand  kommen? zeitzeichen-Redakteur Stephan Kosch war dabei.

Hier droht geistliche Verflachung.“ „Ich unterstelle keinen bösen Willen, höchstens blankes Unwissen, erschreckende Naivität und theologische Abstinenz.“ „Eine Kirche, die die Sakramente nicht ernst nimmt, wird schlussendlich vergehen!“ Man sollte Facebook-Kommentare nicht zum Maß aller Dinge machen, selbst dann nicht, wenn sie auf der Timeline von zeitzeichen stehen. Aber was Katharina Scholl, Gemeindepfarrerin und promovierte Theologin, nach der Ankündigung eines „Drop-in“-Taufnachmittages auf www.zeitzeichen.net in Hanau so alles vorgeworfen wurde, zeigte, dass diese Aktion hohes Erregungspotenzial hatte. Sich taufen lassen können ohne lange Vorbereitung? Ohne ausführliches Taufgespräch? Ohne vorher festgelegten Termin? Ohne Sonntagsgottesdienst und Gemeinde in der Kirchenbank? Verschleudert die evangelische Kirche hier nicht zu billig eines ihrer beiden Sakramente? Sollen hier neue Mitglieder geködert werden? „Wissen die Menschen überhaupt, dass sie nachher Kirchensteuern zahlen müssen?“, fragte tatsächlich einer.

Natürlich wussten sie es, es stand ja auch auf dem Zettel, den die Menschen unterschrieben, und zwar nicht nur im Kleingedruckten. Katharina Scholl und Margit Zahn, ebenfalls Pfarrerin und im Kirchenkreis im Projekt „Leben.feiern.“ für neue Formen von Kasualien zuständig, können einige Wochen später über diesen Vorwurf der „Drückermethoden“ entspannt lächeln. „Es ging nicht um Zahlen und Größe und Maximierung von Kirchensteuereinnahmen. Wenn man so denkt, kann man das nicht machen“, sagt Katharina Scholl. Denn das, worum es an diesem Samstag in der Hanauer Neuen Johanneskirche ging (und immer wieder geht), habe in Einzelbegegnungen stattgefunden. In 13 Taufen und neun Tauferinnerungen, in den dazugehörigen Gesprächen vorher und in der Zeremonie am Taufbecken in der Kirche, in einem Gemeinderaum oder im Turm. Auch eine Taufe im Grünen vor dem modernen und lichten Gemeindehaus war zeitweise möglich, war aber an diesem schon etwas kühlen und regnerischen Septembertag kein Renner.

Aber gut, die Täuflinge sollten an diesem Nachmittag viel selber mitentscheiden können. Nicht nur den Taufspruch, eine mögliche Auswahl davon hing in der Kirche. Auch den Ort und, vielleicht vor allem, die Musik, die die gut eingespielte Band mit Keyboard, Gitarre und Gesang für die Täuflinge spielte. Alle möglichen Stücke standen am Eingang an der „Juke Box“, einem Verzeichnis von über 50 Songs in drei Kategorien: „To the heart“, „For the wild ones“ „Holy grooves“. Die Mehrzahl der Lieder waren Klassiker der Pop- und Rockmusik mit mehr oder weniger religiösem Bezug. Für diejenigen, denen das Gesangbuch ein zu hütender Gral ist, möglicherweise eine Anfechtung. Aber um die ging es hier nicht, sondern um die, die sich vielleicht zum ersten Mal oder nach langer Zeit wieder in der Kirche anrühren lassen wollten. Und die wissen, dass ein Song das kann und nicht immer einen religiösen Text braucht, um spirituell zu sein und um Kanäle zu öffnen. So war jede Taufe oder Tauferinnerung zwar nach vorgegebenen Komponenten zusammengestellt, aber jeweils eine sehr individuelle Zeremonie, in der die vier zu Verfügung stehenden Geistlichen es immer wieder schafften, das Motto des Tages lebendig werden zu lassen: „Für Dich – Segen spüren. Taufe erleben.“

Am Berg gehangen

Zum Beispiel Petronella Helm, deren Bekannter von der Aktion im Radio gehört hatte und ihr davon erzählt hatte. Denn er wusste, dass die 75-jährige gebürtige Niederländerin zwar glaubt, aber noch nicht getauft ist, weil ihr Vater das seinen Kindern überlassen wollte. Irgendwie sei es aber nie dazu gekommen, doch jetzt war klar: „Das mache ich jetzt, auch als Antwort auf das, was passiert ist.“ Was ist passiert? 2017 hatte sie einen Unfall beim Bergwandern, ist abgerutscht und hat „am Berg gehangen“, musste um ihr Leben fürchten. Und nun steht sie am Taufbecken in der Kirche mit ihrem Bekannten, hört „Morning has broken“, spricht das Ja zur Taufe, lässt sich taufen, nimmt die Hand von Pfarrer Horst Rühl und Pfarrerin Miriam Weiner, lässt sich segnen und von beiden in den Arm nehmen … das geht nah, nicht nur körperlich.

Ebenso die Taufe im Turm, hier ist es eine Familie, die ihren neunjährigen Sohn taufen lässt – und auch die Tante nutzt die Gelegenheit. Während es dem Jungen immer wieder schwerfällt, aufmerksam dabei zu bleiben, weint die Tante Tränen der Rührung, als Robbie Williams „Angels“ für sie erklingt. Miriam Weiner geht auf beide Täuflinge ein, macht klar, worum es geht, nämlich um „Gottes Versprechen, für Dich da zu sein!“ Sie findet, wie alle vier Geistlichen, die heute hier im Einsatz sind, zeitgemäße, leicht verständliche Worte für das, was Segen und Taufe bedeuten. Immer wieder fällt der wichtige Satz: „Egal, was passiert: Ihr seid geliebte Menschen!“ Oder zu Beginn: „Wir vertrauen darauf, dass Gott hier ist.“ Schlicht, klar, wirkungsvoll. Und das Vaterunser liegt auf einem Zettel gedruckt dabei, damit es wirklich alle mitsprechen können, auch die, die es nicht gelernt haben. Denn davon gibt es mittlerweile sehr viele.

Es kommen noch einige mehr heute: Der Banker aus Eschborn, die Jugendliche, die mit ihren Eltern am Taufbecken steht, weil sie es jetzt so wollte, und sich vom Pfarrer mit der Gitarre Mut zum Vertrauen machen lässt: „Lean on me“. Die junge Iranerin, die mit ihrer Betreuerin und Übersetzerin kommt, um nun Christin zu werden, und unbedingt möchte, dass die gesamte Taufe auf dem Handy aufgenommen wird. Mutter und Teenager-Sohn, die sich ihre Taufsprüche gegenseitig zusagen und nach der Taufe noch gemütlich essen gehen wollen, um ein wenig zu feiern. Das kleine Mädchen im weißen Kleid, das sonst immer Fahrradfahren vor der Kirche übt und sich nun sehr darüber freut, dass ihre getrenntlebenden Eltern gemeinsam mit ihr am Taufbecken stehen. Alles auf unterschiedliche Weise berührend, das kleine Format ist sehr intensiv. Und dass es anschließend keine große Tauffeier mit der ganzen Familie gab, und eben auch keine entsprechend aufregende Vorbereitung, stört hier niemanden. „Wir haben die Taufe unseres Sohnes wegen Corona immer wieder verschoben“, sagt ein Vater. „Und heute konnten wir es einfach machen, in kleiner Runde, das fanden wir super.“

Und dann war da noch die 70-jährige Dame, die schon vor dem Samstag bei Margit Zahn angerufen hatte, weil sie aus der Kirche ausgetreten war und sich nun neu taufen lassen wollte. Das war natürlich nicht möglich, aber eine Tauferinnerung ließ die Zusage Gottes erneut auch symbolisch deutlich werden. Nochmal das Wasser im Becken mit der Hand spüren, nochmal sich daran erinnern zu lassen, dass Gottes Liebe nie in Frage steht. In allen Tauferinnerungen wichtige Gesten, Umarmungen, persönliche Ansprache – keine Magie, aber zauberhafte Momente, in denen lebendiger Glaube sichtbar wurde. Geistliche Verflachung? Theologische Abstinenz? Wer dabei war, weiß es besser.

Gemeinde inszeniert

Aber wie war es denn nun, mit den kurzen Taufgesprächen, dem ausgefallenen Taufunterricht, der Ortsgemeinde, die sonst die Täuflinge aufnimmt? „An der Debatte werden Kirchenbilder deutlich, die zum Teil sehr wenig Anhalt an der Wirklichkeit haben“, sagt Katharina Scholl. Zum Beispiel die vermeintlich fehlende Ortsgemeinde: „Was ist Gemeinde? Der Begriff wird zunehmend fluide, das zeigen doch die Beispiele aus der digitalen Kirche. Wir haben Gemeinde inszeniert, eine Gemeinde auf Zeit. Wir hatten viele Ehrenamtliche vor Ort, die sich zugewandt den Leuten zeigten. Wir haben in die Gemeinschaft der Heiligen hineingetauft und in die Gemeinde, die in diesem Moment vor Ort war.“

Die Taufgespräche? „Die waren komprimierter als üblich“, sagt Margit Zahn. Allerdings seien die Menschen auch vorbereiteter gewesen. Wer unsicher gewesen sei, habe vorher das Gespräch mit ihr gesucht. Und Katharina Scholl ergänzt: „Die Herausforderung für uns war, sich schnell auf unterschiedliche Menschen und ihre Geschichten einzustellen.“

Dass die Aktion im Vorfeld so sehr auf Kritik stieß, sieht Scholl auch vor dem Hintergrund der großen Transformationsprozesse, die Kirche derzeit durchlaufe und die für Unsicherheit sorge. Das erzeuge das Bedürfnis, um so mehr an bestehenden Traditionen festzuhalten. Aber: „Das müssen wir als Institution wieder lernen: eine Kirche zu sein, die sich neu auf Singularitätserfahrungen besinnt und diese zum zentralen Moment macht, nicht Zahlen und Statistiken“. Denn das, so habe ein Kollege ihr gesagt, „schmeckt nach Zukunft.“

Eine Zukunft allerdings, in die investiert werden muss. Zunächst einmal Zeit und Engagement, auch von Ehrenamtlichen und außergemeindlichem Personal. Aber eine solche Veranstaltung kostet auch Geld, in diesem Falle 6 700 Euro. Davon ging der kleinere Teil als Honorar an die Musiker und die Verköstigung, der Löwenanteil in die Öffentlichkeitsarbeit. Professionelle Werbung in Bussen, ein Flyer im Stadtmagazin, Karten, die einluden und an deren Gestaltung lange gearbeitet wurde. „Vielleicht bekommt man das auch mit mehr Erfahrung für etwas weniger Geld hin, aber umsonst gibt es das nicht“, meint Scholl. Professionelle Öffentlichkeitsarbeit sei wichtig, denn diese Form der Sichtbarkeit von Kirche habe auch ihren eigenen Wert.

Originär kirchlich

Zumal es ja um ein originär kirchliches Thema ging, denn Taufen tut nur die Kirche. Insofern ist dies ein sehr traditionelles Angebot, das aber niederschwellig zu erreichen war und personalisiert gestaltet werden konnte, so gesehen also sehr modern. Dass das alles nicht das Wehen des Heiligen Geistes garantiert, ist klar, aber hier hat es offenbar geklappt. Margit Zahn berichtet von Mails, die auch einige Tage später noch bei ihr eingingen und noch immer sehr bewegt waren von der Veranstaltung. Und von denen, die die Nachberichterstattung in der Presse gelesen haben und sich nun ärgerten, dass sie es verpasst haben. Gibt es bald für sie eine neue Chance?

Katharina Scholl schließt nichts aus. Es gebe Interesse aus anderen Gemeinden, „aber das müssen ja nicht wir machen“, sagt sie. Wenn, dann würde sie sich noch etwas mehr auch auf Kindertaufen einrichten, die seien zum Teil von den Angeboten überfordert gewesen. Margit Zahn hingegen würde gerne nochmal eine „Drop-in“-Taufe anbieten. Die Papierbahnen mit den Taufsprüchen zumindest hat sie aufbewahrt und griffbereit in ihrem Büro liegen. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"