Faszinosum Grau

Eine Farbenlehre

Von Paul Cézanne stammt der Satz, solange man kein Grau gemalt habe, sei man kein Maler. Peter Sloterdijk variiert ihn mit der Pointe: Wer noch kein Grau gedacht habe, sei kein Philosoph. Und er dekliniert den Grauwert durch alle Fälle des Lebens; denn „Grau ist der maßgebliche Farbwert der Gegenwart“.

Goethes Farbenlehre zufolge hat die Mischfarbe Grau zwei Valeurs: die Mixtur zwischen Weiß und Schwarz sowie die Mischung aller Farben: das Eine die variantenreiche Abschattung des Weiß, das Andere eine Schmutzfarbe – ein strahlendes Grau aber sei unbekannt.

Grau „steht für Mittleres, Neutrales, Unbesonderes, für Einbettung in Gewöhnliches jenseits von Lust und Unlust. Ist es nicht Farbe, heißt es Alltäglichkeit. Als Milieu, als Mittelbereich, als environment aus Sitte, Gerede und Aromen, dem man durch Geburt oder Flucht ausgeliefert ist, wird es zur Welt im Ganzen.“

Dieser Mediokrität als „Lebenswelt“, ihrer Tristesse sowie ihren zivilisatorisch balancierten Kulturen folgt Sloterdijk durch viele Sphären: Platons Schattenfiguren in der Höhle, Hegels Nachteule der Minerva und Heideggers Existenzanalyse von Langeweile und Melancholie bilden den gedanklichen Rahmen für die analytische Betrachtung der Welt in grauen Schatten und Konturen. Dazu gehören die politischen Parteifarben, die grauen Zonen von Bürokratie und Staat, das „spektrale Grau“ der manichäischen Lichtspuren im Dunkel der Welt, auch die Erfindung des Purgatoriums als Reinigungsanstalt bei Dante sowie schließlich die Revolution des Sehens durch die Schwarz-Weiß-Photografie.

Das Purgatorium, die „Hölle auf Zeit“, ist für Sloterdijk eine besonders aussagefähige Metapher: Dieses Konzept „nahm ein Gutteil dessen vorweg, was spätere Jahrhunderte unter dem … Wort „Geschichte“ verstanden.“ Enthierarchisierung und Vermischung der Gegensätze – darin zeichnet sich die entropisch absteigende Mittellinie der gesellschaftlichen Evolution ab, die Sloterdijk nachzeichnet.

Die Erfindung der Schwarz-Weiß-Photografie übte auf diesem zivilisatorischen Weg zum Mittelmaß eine Seh- und Konturenschärfe ein, die sich nur im „Grau in Grau“ einer künstlich abstrahierenden „Farbenblindheit“ erwerben lässt.

Grau in Grau – Hegels Diktum: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ wird ihm zum Führer durch die Welten der Nachaufklärung, der Individualisierung, Trivialisierung und Vergleichgültigung.

Der Parcours endet in einer von Schiller und Nietzsche angestoßenen ästhetischen Weltschau und Lebensgestaltung in den Künsten, den Halluzinationen meditativer Versenkung und schließlich in einer „grauen Theologie“, die versucht, „Gott gegen den Verdacht der Gleichgültigkeit zu verteidigen“. Dazwischen entlastende Meditationen zu Kafkas Korridoren im Schloss-Gefängnis der verwalteten Welt bis hin zu Cézannes Mühen um das treffende Grau.

Sloterdijks überschäumender Metaphernrausch, die ironische Melancholie der Beobachtungen, die gelegentlich zur Parodie neigt, verschleiern bei aller schillernden Virtuosität den Ernst der Lage nicht, in der sich die altgewordene Gestalt unseres Lebens in einer Art Endspiel befindet. Diesem Szenario werden von Sloterdijk freilich nur zurückhaltend apokalyptische Züge eingezeichnet, es verdient vor allem ein Lob des menschlichen Mittelmaßes.

Wer sich der Lektüre dieses kurzweiligen Buches hingibt, wird auf hohem Niveau unterhalten und nicht nur mit Gedankenblitzen versorgt. Dem Lesevergnügen eröffnen sich auch Perspektiven, die das geistige Auge einüben, in der ergrauten Welt die Farben und Konturen des akuten Erlebens mit mehr Lust wahrzunehmen und mit größerer Tiefenschärfe zu erkennen.

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