Der Pfarrer mit den Goldeiern

Eine Kommune finanziert den Druck einer sexistischen Liederfibel - und keiner will es gemerkt haben.
Foto: Harald Oppitz

Kirsten Strasser ist eine erfahrene Journalistin. Doch solch ein Machwerk war auch ihr bislang nicht untergekommen. Eine „Fibel“ mit Kerbeliedern, zum Teil so obszön und sexistisch, dass ihr Fazit bei einigen der Verse nur „nicht zitierfähig“ lauten konnte. Strasser hat mir das Heft gezeigt. Der Begriff „Kerb“ ist bekanntlich ein hessisch-pfälzisches Wort für Kirchweih, doch mit kirchlichem Gedankengut hat das Liederheft rein gar nichts zu tun. Es sei denn, man würde ein Lied über die „goldenen Eier“ eines „Parrers aus Speyer“ als Versuch interpretieren, einen kirchlichen Bezug herzustellen. Weiter findet sich eine verschärfte Version des Donaulieds („wasch dir die Fo**e mit Kernseife aus“) sowie eine Aufzählung von Berufen, die mit sexuellen Handlungen kombiniert werden. Zwei Beispiele: „Mein Vadder schraubt Autos, die Mädcher schraub ich“; „Mein Vadder spritzt Rebe, die Mädcher spritz ich“. Dem Liederdichter ist es tatsächlich gelungen, diese Kombination bei zwölf Berufen zu beschreiben. Variatio delectat!

Pikanterweise ist das Liederheft auf Kosten der Ortsgemeinde gedruckt und von dieser an die Haushalte verteilt worden! Hoffentlich hat kein Kind den Titel „Fibel“ wörtlich genommen und sich mit Hilfe des Heftchens im Lesen geübt. („Mama, was soll da mit Kernseife gewaschen werden? Und was ist eine Schlampe?). Nachdem Kirsten Strasser den Skandal bekannt gemacht hatte, hat sich die Gemeinde beeilt, alle Exemplare, derer sie habhaft werden konnte, wieder einzusammeln und zu vernichten. Die Gemeindespitze zeigte sich entsetzt, angeblich hatte keiner das Heft genau in Augenschein genommen. Ich halte das allerdings für unglaubwürdig. Sollte tatsächlich niemand der Gemeindeoberen in den letzten fünf Jahren bei den Kerbeabenden mitgefeiert haben? Oder waren die alle im Vollrausch? Allerdings: wie betrunken muss man sein, damit einem bei solchen Texten nichts auffällt?

Umfrage unter Vikarinnen und Vikaren

Eher scheint es doch so zu sein, dass die feiernde Menge die Lieder gar nicht so schrecklich fand und - noch findet. Die facebook-Kommentare unter Kirsten Strassers Artikel unterstützen meine Vermutung. Denn keineswegs alle der vielen Kommentare regen sich über das Heft auf. Im Gegenteil! Damit stehen die User nicht allein da. Ich habe mich in einer nicht repräsentativen Umfrage bei meinen Vikarinnen und Vikaren umgehört. Vielen waren solche Lieder bekannt. Eine Vikarin hat während ihres Studiums als Kellnerin gearbeitet und mir erzählt, dass dieses Liedgut gang und gäbe sei. Wer sich darüber aufregt, wird als Spießer bezeichnet.

Ich gebe zu, dass ich das Problem komplett unterschätzt habe. Ich dachte, ein solches Gedankengut betreffe nur ein paar verirrte Geister, die auf Ballermann stehen und/oder zu doof sind, das Wort Gleichberechtigung zu buchstabieren. Ich habe in meiner angeblich so woken Kirchenblase gelebt und um mich herum ticken die Leute im Land der Dichter und Denker ganz anders. Hätte mir das als professionelle Seelsorgerin nicht auffallen müssen?! Oder ist die woke Blase sogar ungewollt mitverantwortlich für das Desaster? „Irgendwie schaukelt sich das hoch,“ meint die Vikarin. „Je mehr über MeToo in der Öffentlichkeit diskutiert wird, desto aggressiver wird die Gegenseite. Die sagen, das ist Tradition, das war schon immer so. Und die gehen los auf alle, die das anders sehen.“ Und Kirsten Strasser ergänzt: „Nicht zuletzt sind es Frauen!“

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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