Gott ist anders

Gerechtigkeit aus biblischer Perspektive
Arbeiter im Weinberg“, Glasmalerei in der Kirche Saint-Anché in Joigny/Frankreich
Foto: akg/Yvan Travert
Arbeiter im Weinberg, Glasmalerei in der Kirche Saint-Anché in Joigny/Frankreich

Gerechtigkeit in der Bibel ist ein weites Feld. Angela Standhartinger, Professorin für Neues Testament an der Universität Marburg, zeigt in ihrem Beitrag exemplarisch, wie Gerechtigkeit im Alten und Neuen Testament vorkommt und dass die biblische Perspektive oft anders ist, als die anscheinend naheliegende menschliche – zum Beispiel in den Gleichnissen Jesu.

Als einmal eine arme alte Frau von ihm forderte, ihr Recht zu schaffen und ihn oft bedrängte, behauptete er, keine Zeit zu haben. Da rief die alte Frau: ‚Dann sei auch kein König.‘ Verblüfft von diesem Wort hörte er sofort nicht nur ihren, sondern auch die Fälle der anderen ausführlich an.“ (Plutarch, Moralia 179C; Cassus Dio 69.3.9) Die kleine Szene, die gleich über mehrere berühmte antike Herrscher erzählt wird, stellt den antiken Maßstab für gutes Regierungshandeln vor: Als oberster Richter seines Volkes muss sich der König um Rechtsfragen kümmern und für Gerechtigkeit in den sozialen Verhältnissen und Beziehungen seiner Untertanen sorgen. Die Erzählung insinuiert, dass dies dem guten Regenten möglich ist. Die Perspektive der armen alten Frau nimmt sie allerdings nicht weiter in den Blick. Wurde in ihrem Konflikt für sie Gerechtigkeit geschaffen und, wenn ja, mit welcher Rechtsentscheidung?

Die Bibel teilt das Ideal des gerechten Herrschers, aber sie unterstreicht, dass sich soziale Gerechtigkeit nicht von selbst herstellt, sondern Gottes Gunst und Maßstab bedarf. Daher formuliert Psalm 72: „Gott, gib dein Recht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn, dass er dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht. Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen.“ (Psalm 72,1–2.4) Die Kritik der biblischen Propheten demonstriert allerdings auch, dass viele biblische Königinnen und Könige scheiterten. Statt für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich sorgten sie sich um Bündnisse mit den Mächtigen und verhinderten weder Unterdrückung noch dass die gesellschaftlichen Eliten durch Ausbeutung Wehrloser ihren Reichtum anhäufen (Jesaja 5,8–24; Micha 2,1–3; Jeremia 22,13–16). Für das deuteronomistische Geschichtswerk ist dieses Versagen der regierenden Eliten die Ursache für das babylonische Exil.

Die Erfahrung des Scheiterns ließ nach den Bedingungen der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaftsordnung fragen. Biblische Propheten und ihre Nachfolgerinnen in der jüdischen Apokalyptik hoffen auf das Erscheinen eines von Gott gesandten gerechten Königs (Jesaja 9,1–6; 11,1–10). Auch Jesus von Nazareth wird im Neuen Testament „der Gerechte“ genannt (Matthäus 27,19; Lukas 23,47, Apostelgeschichte 7,52). Sie erwarten auch, dass Gott selbst die Königsherrschaft antritt, die auf der Erde herrschenden Chaosmächte besiegt und göttliches Recht etabliert. Denn wie es die betende Stimme im Psalm formuliert: „Gerechtigkeit und Recht sind deines Thrones Stütze.“ (Psalm 89,15; vergleiche Psalm 97) Die Erwartung eines Menschensohns – im Neuen Testament ebenfalls auf Jesus übertragen – hofft darauf, dass am Ende der Zeiten die „Heiligen des Höchsten die Königsherrschaft übernehmen werden“ (Daniel 7,18). Der Menschensohn wird eine ausgleichende Gerechtigkeit für die jetzt Leidenden etablieren, indem er ihre Feinde bestraft und den durch das vermeintliche Recht der Stärkeren nicht mehr sichtbaren Tat-Folge-Zusammenhang wieder aufrichtet. (äthiopischer Henoch 62) Viele wünschen, dass die Gerechten „eine würdige Königsherrschaft übernehmen werden.“ (Weisheit 5,16)

Gerechtigkeit beschreibt also in der Bibel ein Beziehungsgeschehen zwischen Regierenden und ihrem Volk, zwischen Tat und Folge, zwischen Menschen und Gott und umgekehrt zwischen Gott und Menschen. Und beidseitig kann die Beziehung in die Krise geraten. Dies erzählt die Bibel bereits beim ersten Bruderpaar Kain und Abel (Genesis 4,1–15). Ohne Erklärung behandelt Gott die Gaben der beiden Brüder ungleich. Das Fleisch aus der Herde des Viehzüchters Abel empfängt Gott wohlwollend, aber das Opfer aus Feldfrüchten des Bauern Kains übersieht er. Dies führt zur Katastrophe, die auch die Beziehung zwischen Gott und seinem Geschöpf zerrüttet. Dennoch lässt Gott den Kontakt zu Kain nicht abbrechen. Gott verurteilt den Mord an Abel auf Schärfste, er wendet jedoch sein Angesicht trotz Sünde und Schuld nicht von Kain ab und spricht sogar dem Brudermörder den Schutz seines Lebens zu (Genesis 4,9–15). Gottes Anerkennung einer menschlichen Leistung bleibt für die Menschen unverfügbar. Aber Erfahrung von Ungerechtigkeit entbindet keine Seite von der Notwendigkeit, nach Wegen für ein gemeinschaftliches Zusammenleben zu suchen. Mit wenigen Ausnahmen, etwa Noah und Abraham, können die meisten Menschen der Bibel den göttlichen Gerechtigkeitsansprüchen nicht genügen. Die spät entstandene Abraham-Erzählung und ihr prominentester Ausleger, Paulus, bestimmten das Vertrauen als Aufgabe des Menschen, die Gott ihnen als Gerechtigkeit zurechnen will (Genesis 15,6; Galater 3,6; Römer 4,3).

Das Gemeinschaftsverhältnis zwischen Gott und seinem Volk wird als Bund beschrieben. Dieses beide Seite bindende Vertragsverhältnis wird von den Menschen jedoch immer gebrochen. Bereits unmittelbar nach dem Bundesschluss am Sinai erschafft sich das vom Fortbleiben des Mose enttäuschte Volk andere Götter und ein goldenes Kalb. Nur mit Mühe gelingt es Mose, mit seiner Fürbitte Gottes berechtigten Zorn zu besänftigen und zur Umkehr von seinem Vernichtungswillen zu bewegen. Im Anschluss offenbart sich Gott mit einem wichtigen Korrektiv seiner Gerechtigkeitsforderung in der so genannten Gnadenformel: Sie lautet: Gott ist „barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“ (Exodus 34,6; Psalm 103,8 und öfter). Daher ergänzt Psalm 89: „Gerechtigkeit und Recht sind deines Thrones Stütze, Gnade und Treue treten vor dein Angesicht.“ (Psalm 89,15).

Jesu Predigt von der kommenden und schon jetzt angebrochenen Gottesherrschaft impliziert das Thema Gerechtigkeit. Zugleich fordert Jesus die Seinen auf: „Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36 vergleiche Matthäus 5,45) Dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in den realen sozialen Beziehungen konkret erlebt werden, dass ihre fehlende Verwirklichung kritisiert werden muss und wo sich Ansätze von Hoffnung auf ihre Verwirklichung entdecken lassen, demonstrieren die Gleichnisse. Ein Gleichnis, das eine ähnliche Geschichte erzählt wie die eingangs zitierte Szene zwischen der armen alten Frau und dem König, ist das Gleichnis von der bittenden Witwe und dem ungerechten Richter. Eine Witwe, der – was vielfach vorkam – vielleicht Verwandte, vielleicht Nachbarn oder Geschäftspartner, ihr Recht auf Auskommen oder Besitz bestritten, fordert hier ihr Recht gegen ihren Prozessgegner. Sie begegnet allerdings der Karikatur des Rechts in der Figur eines Richters, der weder Gott fürchtet noch sich von Menschen bewegen lässt. Letzteres könnte den Richter sogar als unparteiisch auszeichnen, ersteres ist in der Antike ein eindeutig negatives Urteil. Wie nicht anders zu erwarten, kümmert sich der „ungerechte Richter“ nicht um den Rechtsfall der Witwe. Da die Witwe ihn jedoch nicht in Ruhe lässt, besinnt er sich schließlich und erklärt in einem inneren Monolog, es stelle für ihn wohl das kleinere Übel dar, für die Witwe Recht zu sprechen als von ihr ein blaues Auge zu erhalten (Lukas 18,2–5). Die Szene demaskiert ungerechte Rechtsverhältnisse mit drastischer Komik. Was aber will das Gleichnis über das Leben in der Gottesherrschaft und die in ihr etablierte Gottesbeziehung sagen? Etwa, dass wenn schon die Karikatur eines ungerechten Richters sich von einer unentwegt bittenden Witwe bewegen lässt, sich Gott doch noch viel mehr bewegen lassen wird (vergleiche Jesus Sirach 35,12–23)? Die Übertragung auf Gott wird in diesem Gleichnis ausdrücklich benannt: „Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten?“ (Lukas 18,7) Eine Auslegung des Gleichnisses formuliert daher, dass Gott auf Grund des andauernden und dringlichen Flehens der Entrechteten die korrumpierten Verhältnisse bald beendigen und das Recht in der Gottesherrschaft anbrechen lassen wird. Allerdings irritiert der direkte Vergleich von Gott mit einem ungerechten Richter. Und das griechische Wort makrothumeo („lange warten“) steht auch als „langmütig“ neben „gnädig“ und „barmherzig“ in der Gnadenformel aus Exodus 34,6. Eine andere Auslegung des Gleichnisses betont daher: Göttliche Barmherzigkeit ist anders. Sie ist verlässlich und gerecht im Gegensatz zu menschlichen Rechtssystemen, die Gefahr laufen, lediglich das Recht der in irgendeiner Hinsicht Stärkeren zu respektieren.

Alle nur einen Denar

Die weltweit drängende Frage nach Verteilungsgerechtigkeit thematisiert das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20,1–15). Es erzählt von einem Weinbergbesitzer, der für die Arbeit in seinem Weinberg auf einem Marktplatz morgens um sechs Uhr Tagelöhnerinnen und Tagelöhner anwirbt und mit ihnen den Tageslohn von einem Denar vertraglich festlegt. Als um neun Uhr immer noch Arbeitslose auf dem Marktplatz stehen, heuert er auch diese an und vereinbart ihnen zu geben, „was gerecht ist“ (Matthäus 20,4). Um zwölf Uhr, um 15 Uhr und sogar um 17 Uhr stehen noch Unbeschäftigte auf dem Marktplatz und auch diesen gibt der Weinbergbesitzer Arbeit in seinem Weinberg. Um 18 Uhr aber lässt er seinen Verwalter den Lohn auszahlen und weist ihn an, bei den zuletzt Gekommenen zu beginnen. Sie erhalten einen Denar. Als nun die ersten schon am frühen Morgen Eingestellten an der Reihe sind, erhalten sie ebenfalls den vertraglich vereinbarten Denar. Daraufhin beschweren sie sich, weil ihre Bezahlung im Verhältnis zu den Letzteingestellten nicht mehr dem Leistungsprinzip entspricht. Sie sagen: „Diese letzten, die nur eine Stunde gearbeitet haben, hast du uns gleich gemacht, die wir die Last des Tages und die Hitze getragen haben.“ (Matthäus 20,12) Der Weinbergbesitzer verteidigt sich jedoch, wobei er einen von ihnen direkt anspricht: „Freund, ich habe dich nicht ungerecht behandelt.“ (Matthäus 20,13) Er habe vertragsgemäß einen Denar bezahlt, er könne mit seinem Besitz umgehen wie er wolle und Löhne nach seinem Gutdünken bezahlen, und schließlich unterstellt er den Anklagenden noch Neid: „Siehst du etwa böse drein, weil ich gut bin?“ (Matthäus 20,15)

In welcher Hinsicht spricht dieses Gleichnis vom Himmelreich? Wiederum sind zwei Interpretationsrichtungen möglich. Für die einen steht der Weinbergbesitzer für Gott, dessen Gnade und Güte hier von denen erfahren wird, die Ende des Tages keine entsprechenden Leistungen vorweisen können. Es gehe also um die Zuwendung zu den am Arbeitsmarkt und darüber hinaus Benachteiligten. Der Weinbergbesitzer handelt vertragsgerecht, aber er verwirklicht darüber hinaus Bedarfsgerechtigkeit und gibt allen Arbeitssuchenden nicht nur Arbeit, sondern auch ihren Tagesbedarf von einem Denar. Allerdings setzt sich der Weinbergbesitzer gar nicht mit den zuletzt Gekommenen auseinander – ihnen schickt er nur seinen Verwalter –, sondern mit denen, die die volle Arbeitsleistung erbracht haben und sich beschweren. Geht es also um die Demaskierung ihres Neids, der für die Ersteingestellten zur Triebfeder eines Pochens auf Leistungsgerechtigkeit wird? Demonstriert also das Gleichnis die Durchsetzung von Barmherzigkeit mit dem Ziel einer Bedarfsgerechtigkeit gegenüber der Leistungsgerechtigkeit? Oder tritt der Weinbergbesitzer den Beschwerdeführenden im Grunde als ein Despot gegenüber, der sie auch noch gönnerhaft als „Freund“ bezeichnet, aber nicht mehr zu Wort kommen lässt? So würde ein typisch antiker Wohltäter handeln, der zur Stabilisierung seiner Herrschaft gelegentlich Wohltaten nach seinem Gutdünken verteilt. Der Weinbergbesitzer beruft sich gegenüber den Beschwerdeführern auf die Einhaltung des – mindestens für ihn vorteilhaften – Vertrags und sein absolutes Verfügungsrecht über seinen Besitz und verwehrt sich jeglicher Kritik an seinem Selbstbild des Gutseins. Schließlich kann man auch noch beobachten, dass die „Faulen“, die nicht während der Hitze des Tages auf dem Marktplatz der Arbeitssuchenden bereitstehen, keinen Denar erhalten.

Die Entscheidung der Interpretationen hängt wohl auch davon ab, ob man die Auszahlung des einen Denars an die zuletzt Eingestellten als Herstellung der Bedarfsgerechtigkeit interpretiert oder als ein herrschafts- und systemstabilisierendes Ablenkungsmanöver, das ungerechte Verteilungs- und Besitzverhältnisse unterstützt oder jedenfalls nicht in Frage stellt.

Provozierend komplex

Das Gleichnis provoziert, über das Verhältnis von Vertrags-, Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit nachzudenken und über die Beziehung von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu diskutieren. Biblische Gerechtigkeitsperspektiven bewegen sich keineswegs jenseits der sozialen Wirklichkeiten allein auf der Ebene einer (nur) geistigen Spiritualität, sie fordern vielmehr dazu auf, die Komplexität der Gerechtigkeit mit Bezug auf die Hoffnung, die die Bibel Barmherzigkeit und Gottesherrschaft nennt, weiterzudenken.


 

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