Zug nach Ventimiglia

Klartext
Foto: Privat

Ungerade Linien

17. Sonntag nach Trinitatis, 13. Oktober

Josua … sandte zwei Männer heimlich als Kundschafter aus … Die gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab ... Die Frau nahm die beiden Männer und verbarg sie. (Josua 2,1+4)

Eltern dürfte es befremden und bekümmern, wenn ihr Sohn eine Frau heiraten würde, die Prostituierte gewesen, oder einen Mann, der auf den Strich gegangen ist. Schon leichte körperliche Berührungen, mit der Hand oder dem Mund behält man doch Menschen vor, die einem vertraut oder zumindest sympathisch sind. Daher ist es schwer zu verstehen, wenn Frauen und Männer mit fremden Männern, auch ekligen, nur deswegen intim sind, weil die dafür bezahlen.

Auch wenn man Prostitution ablehnt und den Begriff „Sexarbeit“ für eine Verharmlosung hält, darf man Prostituierte nicht über einen Leisten schlagen und abqualifizieren. Davor kann das Josuabuch bewahren. Es hebt hervor, dass die Hure Rahab vorbildlich gehandelt hat. Die Nichtjüdin versteckt zwei jüdische Spione und rettet ihnen das Leben. Und schließlich bekennt sie, dass allein der Gott der Juden Gott ist „oben im Himmel und unten auf Erden“ (Vers 11).

Die Wertschätzung Rahabs setzt sich im Christentum fort. Für den Jakobusbrief ist sie ein Beispiel für seine These, dass der „Glaube ohne Werke tot“ ist (sie wird am kommenden Sonntag ausgelegt). Und was noch erstaunlicher ist und Christen herausfordern müsste: Das Matthäusevangelium zählt Rahab, ausgerechnet eine Hure, zu Jesu Vorfahren (Matthäus 1, 5).

Was das Josuabuch von Rahab erzählt, ist kein historischer Bericht. Es kann aber die Erkenntnis vermitteln und bestärken, dass Gott auch durch Menschen Gutes bewirkt, denen man es nicht zutraut. Er schreibt auf ungeraden Linien gerade. Unter den wenigen nichtjüdischen Deutschen, die in der Nazizeit jüdische Landsleute versteckten und vor der Deportation in die Vernichtungslager bewahrten, waren auch Prostituierte. Vielleicht hatten sie gerade als Außenseiterinnen ein Herz für andere Außenseiter der Gesellschaft. Und Oskar Schindler, der über 1200 Juden vor der Ermordung durch die Nazis gerettet hat, war nicht gerade das Beispiel eines ehrbaren Kaufmanns und eines Mustergatten. Aber er hat menschlich gehandelt, während vielen „anständigen“ Bürgern und Kirchenmännern das Leiden der Verfolgten gleichgültig war.

Mutige Christen

18. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober

Wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot. (Jakobus 2,26)

Albert Schweitzer (1875 – 1965), Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) und Martin Luther King (1929 – 1968) gelten als vorbildliche Christen, weil ihr Glaube „Werke“ hervorgebracht hat. Mit anderen Worten: Man erinnert sich ihrer Taten, weil sie in besonderer Weise den christlichen Glauben gespiegelt haben: Schweitzer gab seine Karriere als Theologieprofessor, Bachkenner und Orgelvirtuose auf, um als Arzt in Afrika zu helfen. Mit dreißig Jahren studierte er Medizin, und acht Jahre später gründete er eine Klinik im Urwald, in Lambarene, dem heutigen Gabun. Bonhoeffer widerstand den Nazis und verzichtete auf eine Karriere in Universität und Kirche. Er schloss sich der Bekennenden Kirche an und später auch dem politischen Widerstand.

King kämpfte gewaltlos, im Geist der Bergpredigt, gegen die Unterdrückung der Afroamerikaner und für ihre Gleichberechtigung. Und er wollte auch den Rassisten helfen, ihre Menschlichkeit zu entdecken. Denn King war überzeugt: „Liebe stellt die einzige Kraft dar, die Feinde in Freunde verwandeln kann.“

Für das, was sie taten, brauchten die drei Theologen Gottvertrauen. Schweitzer riskierte, einer Tropenkrankheit zu erliegen, und Bonhoeffer und King mussten damit rechnen, ermordet zu werden, was ja auch geschah.

Dass ein „Glaube ohne Werke tot“ ist, ist unstrittig. Streiten müssen Christen aber immer wieder darüber, welche Werke Gott in einer bestimmten Situation fordert.

Radikaler Wandel

19. Sonntag nach Trinitatis, 27. Oktober

Es war dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah … spricht er zu ihm: Willst Du
gesund werden? (Johannes 5,5–6)

Einen Kranken zu fragen, ob er gesund werden will, wirkt seltsam, ist aber aus heutiger psychologischer Sicht durchaus sinnvoll. Denn Heilung ist nur möglich, wenn der Kranke sie begehrt. Manchen beherrschen Resignation (wie den Gelähmten am Teich Bethesda) oder nur die Macht der Gewohnheit. Jemand hat sich in der Krankheit eingerichtet, sichert sie ihm doch Aufmerksamkeit und Zuwendung anderer. Und sie dient mitunter dazu, über andere, Partner, Familienmitglieder oder Pflegekräfte, zu herrschen.

Jesus fordert den Gelähmten auf, sein Bett zu nehmen, aufzustehen und sich zu bewegen. Und das hat auch Bedeutung für heute, für uns. Jesus – was das Neue Testament von ihm erzählt und Theologen interpretieren – kann die Macht der Gewohnheit brechen, Lähmungen heilen, Menschen bewegen und in ein neues, unbekanntes Land aufbrechen lassen, selbst wenn das gefährlich ist. Das zeigen das Damaskuserlebnis des Paulus, das Turm-erlebnis Martin Luthers, der Verfasser des Chorals Amazing Grace, John Newton (17251807), der ein Sklavenschiff kommandierte, dann anglikanischer Pfarrer wurde und die Sklaverei bekämpfte, der südafrikanische Pfarrer Christiaan Beyers Naude (19152004), ein Bure, der sich vom Befürworter zum Gegner der Rassentrennung wandelte, oder die hannoversche Landeskirche, die 1984 schwule Pfarrer rausschmiss, seit 2019 aber gleichgeschlechtliche Paare traut.

Viele Götzen

Reformationstag, 31. Oktober

Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. (5. Mose 6,4)

Die Säkularisierung hat Gesellschaften von klerikaler Bevormundung befreit. Wer im Staatsdienst aufsteigen oder als Politiker gewählt werden will, muss nicht mehr so tun, als glaube er an Gott. Und das kann man als Theologe nur begrüßen. Um hinzuzufügen, dass auch eine säkulare Gesellschaft den Glauben an Gott nötig hat, genauer: diejenigen, die ihn praktizieren. Denn das kann verhindern, dass sich Menschen als Maß aller Dinge sehen. Der Glaube an Gott kann das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Mensch das, was er ist und hat, nicht einfach der eigenen Leistung verdankt, sondern der Familie, in die er hineingeboren und den Genen, mit denen er ausgestattet wurde, dem Ort und Land, in dem er aufwuchs, der Schule, auf die ihn die Eltern schickten, und vielen anderen Umständen, die er nicht beeinflussen konnte. Nicht nur „ein General muss Fortune haben“, wie Napoleon einmal sagte. Nicht einmal ein sehr intelligenter und verantwortungsvoller Mensch kann letztlich wissen, wie sich seine Entscheidungen auswirken, bei der Berufswahl oder der Kindererziehung, wenn er Investitionen tätigt oder eine bestimmte Politik verfolgt. Wer sich das klarmacht und zumindest gelegentlich zu Gott betet und „Herr, erbarme dich“ seufzt, wird demütig, dankbar für das Gute, das ihm widerfahren ist und barmherzig mit denen, die es schlechter haben.

Die Zürcher Bibel übersetzt 5. Mose 6,4 mit: „Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.“ Damit wird deutlicher als in der Lutherbibel: Es äußert sich hier ein Monotheismus, der keine anderen Götter duldet. Und Vielgötterei gibt es ja auch heute noch, in säkularen Gesellschaften. Da wird das eigene Ego vergötzt, Eigentum und Reichtum, das eigene Volk und die eigene Religion.

Teure Flüge

20. Sonntag nach Trinitatis, 3. November

Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
(1. Mose 8,22)

Vor einigen Jahren hätten diese Worte noch Wohlbehagen ausgelöst und ein Gefühl der Dankbarkeit, dass man in einem Teil der Erde leben darf, in dem die vier Jahreszeiten mit ihrer jeweiligen Schönheit stark ausgeprägt sind. Mit der Klimakatastrophe wächst dagegen die Befürchtung, dass das, was das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen ermöglicht und bereichert, „aufhören“ könnte.

Es wäre blasphemisch, würde man nun von Gott erwarten, dass er – nach dem Motto von Helmut Qualtingers Lied „Der Papa wird’s schon richten“ – die vom Menschen verursachte Klimakatastrophe aufhält. Aber Gott kann „Menschherzen wenden“, wie es in einem Pfingstchoral heißt. Ein Hoffnungszeichen sind die Schülerproteste.

Und nun fordert sogar ein Politiker die Verteuerung von Flügen, der das vor einigen Jahren noch heftig abgelehnt hätte. Ihm haben Parteifreunde und Interessenvertreter entgegengehalten, dass dann nur noch Reiche verreisen könnten. Aber das ist Unsinn. In den Sechzigerjahren, als ich jung war, sind meine Eltern mit mir oft in den Urlaub gefahren. Aber das Flugzeug wäre zu teuer gewesen. Dafür sorgte die Flugpreisbindung. Also haben wir dieses Verkehrsmittel den Reichen überlassen.

In Tuttlingen, wo ich aufwuchs, hielt der D-Zug Stuttgart-Ventimiglia. Mit ihm fuhren wir mehrmals an die Riviera. Diese Direktverbindung ist eingestellt worden, wohl auch, weil viele Urlauber die Billig-flieger nach Genua oder Nizza nehmen.

Dazu kommt, dass die Leute oft schnell von A nach B kommen wollen. Und das war früher anders, obwohl die Arbeitnehmer weniger Urlaubstage hatten als heute. Hin- und Rückfahrt waren ein wichtiger, schöner Teil des Urlaubs. Das habe ich schon als Kind und Jugendlicher empfunden. Wenn ich an die Italienreisen mit meinen Eltern zurückdenke, habe ich vor mir immer noch den Blick aus dem Zugfenster: auf die Seen und schneebedeckten Berge der Deutschschweiz, auf die Tessiner Kirchen mit den offenen Glockenstühlen und auf das in der Sonne
glitzernde Meer hinter Genua. Und im Zug begegnete man Einheimischen, rade-brechte mit ihnen und teilte mit ihnen mitunter den Proviant.

Früher war nicht alles besser. Man denke nur an die Zahnarztbesuche. Aber manche Erfahrungen von gestern zeigen, dass es Lebensfreude auch dann geben kann, wenn man auf Gewohntes verzichten muss.


 

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