Ein Stoff für Alles und Alle

Rotalgen aus Tansania stecken in vielen Produkten unseres täglichen Bedarfs

Carrageen steckt in Softdrinks, Shampoos oder Fertiggerichten und wird aus Rotalgen gewonnen, die Frauen im seichten Wasser vor den Küsten Sansibars anbauen. Weltweit wird der Stoff nachgefragt, auch weil er Vegetariern und Veganern tierische Produkte ersetzt. Aber das Geschäft mit den Rotalgen steckt in Schwierigkeiten.

Türkisblaues Wasser und weißer Sand, soweit das Auge reicht. Paje Beach im Südosten Sansibars ist der Traum vieler Touristen. Wenn sie nicht am Pool ihres Resorts oder in einer der zahlreichen Bars hocken, liegen oder sitzen sie am Strand, meist mit einem Drink, einem Snack oder einem Eis in der Hand. Abends werden sie sich dann am Buffet bedienen und später – wie fast jeder Mensch auf der Welt – die Zähne putzen. Einige tragen dann noch eine Lotion auf ihre von der Äquatorsonne strapazierte Haut auf. Dass sie bei dem Konsum all dieser Produkte fast immer mit einem Inhaltsstoff in Berührung kommen, der direkt vor ihrer Nase am Strand im seichten Wasser gewonnen wird, dürften die wenigsten von ihnen ahnen.

 

Mwanaisha Makame blinzelt mit zusammengekniffenen Augen über die Bucht. Die grelle Sonne, der weiße Strand und die salzige Luft – alles eine Strapaze für die Augen. „Aber wir müssen nach unseren Algen sehen.“ Die 45-Jährige wickelt ihr buntes Kopftuch fest, zieht den langen Rock etwas hoch und watet durch das lauwarme Wasser, gemeinsam mit zwei anderen Algenfarmerinnen. Ihr Ziel liegt hinter der leichten Brandung, die auf den Strand zurollt. Dort stecken Reihen mit Holzpflöcken im Sand, seicht umspült von dem Wasser des indischen Ozeans, das auch hier draußen immer noch flach und sehr warm ist. Die Frauen bücken sich, zupfen Unkraut, befestigen einige Algen neu und sammeln vereinzelte Verschmutzungen heraus. Auch ernten sie einige der Algen. Am Ende tragen die Frauen einige gelbgrüne Bündel an den Strand. Mwanaisha Makame zeigt auf eines der Bündel, in dem sich glibberige Stengel voller Verästelungen wie Würmer aus Gummi umeinander schlängeln. „So sieht sie aus, die Wunderpflanze, die sie überall auf der Welt brauchen.“

 

Nicht gerade appetitlich. Und doch ist das Produkt, das aus den Algen gewonnen wird, in aller Munde: E 407 oder Carrageen. Es bindet und verdickt Tortenguss, Joghurt und andere Milchprodukte, Backwaren, Softdrinks, Sportlernahrung, Würstchen, Schokoriegel, Ketchup, Pudding oder Fertiggerichte. E 407 ist einer der wenigen auch in
Biolebensmitteln erlaubten Zusatzstoffe. Vor allem auch die wachsende Menge der Vegetarier und Veganer verspeist es häufig, so wie auch das ebenfalls aus Algen gewonnene Agar Agar, als Gelatine-Ersatz in Gummibärchen, Brotaufstrichen, Sojamilch oder Tofu-Aufschnitt. Aber nicht nur das: Anwendung findet Carrageen zudem in vielen Kosmetika und Körperpflegemitteln, in der Farbenindustrie oder als Zutat in Arzneimitteln. „Die Nachfrage steigt seit Jahren mit den immer noch wachsenden Möglichkeiten der Anwendung“, sagt eine Sprecherin von Cargill, einem der weltweit größten Hersteller von Carrageen. So hält der Aufstieg des E 407 an, wenn auch seine Wirkung auf die Gesundheit mittlerweile umstritten ist.

Verdienst für Frauen

Gut für Mwanaisha Makame, die seit über 25 Jahren Algen anbaut. „Anfangs lief das bescheiden, heute bin ich Hauptverdienerin meiner Familie.“ Acht bis zehn Mal im Jahr kann sie die Algen ernten. Und ebenso oft pflanzen. Dafür bindet Mwanaisha Makame kleine Stecklinge an Seile, die sie wiederum an Pflöcken im Wasser befestigt. Den Rest erledigt die Natur fast von alleine. Nach zwei bis drei Monaten sind die Algen erntereif, sie haben die entscheidenden Inhaltsstoffe aufgebaut und ihre Biomasse um das Zwanzigfache vermehrt. Viel Arbeit machen die Pflanzen also nicht.

 

So war das auch gedacht, als Tansania in den Achtzigerjahren auf dem semiautonomen Archipel vor seiner Küste die beiden Rotalgen-Sorten Euchema Spinosam und Euchema cottonii von den Philippinen einführte. Beide Sorten eignen sich besonders gut für die Herstellung von Carrageen, brauchen aber tropische Wassertemperaturen. Vor allem Frauen sollten damit neben Haushalt und Familie ein konstantes Einkommen erwirtschaften und in einer traditionell geprägten Kultur Eigenständigkeit gewinnen. Das scheint gelungen, wenn auch auf bescheidenem Niveau. Umgerechnet um die vierzig Euro verdient Mwanaisha Makame im Monat. Das ist fast die Hälfte des Lohnes eines Arbeiters in der Stadt.

„Die meisten der Algenfarmerinnen waren früher von staatlichen Hilfsleistungen abhängig, die sie heute nicht mehr brauchen” sagt Flower Msuya, Algenexpertin an der Universität von Daressalam, deren Institut für Meeresforschung direkt am Fährterminal in Stonetown liegt, der Altstadt von Sansibars Hauptstadt. In Msuyas Büro türmen sich Papiere und Akten auf dem kleinen Schreibtisch und auf den durchgebogenen Regalen. Ein alter PC-Bildschirm flimmert in dem dunklen Raum ohne Fenster. Die Senior-Wissenschaftlerin war von Beginn an bei der Einführung der Algen dabei. Unter anderem hat sie die Zanzibar Seaweed Cluster Initiative (zasci) aufgebaut, ein Netzwerk, das Farmer, Händler und Produzenten zusammenbringen soll. „Nach den Philippinen und Indonesien ist Tansania das drittgrößte Anbaugebiet der Welt“, berichtet sie stolz vom Erreichten. „Mit 24 000 Farmerinnen beschäftigt das Algenbusiness die meisten Menschen auf unserem Archipel.“

 

Aber das Geschäft mit den Rotalgen steckt in Schwierigkeiten. Schuld ist unter anderem der Klimawandel. In den letzten dreißig Jahren hat sich die Temperatur des indischen Ozeans um ein Grad erhöht. Mit fatalen Folgen für das Flachwasser vor der Küste. „In den Neunzigerjahren war es nie wärmer als 31 Grad, jetzt kann es sich auf bis zu 38 Grad erwärmen.“ Das macht die Rotalgen anfällig für Krankheiten. Die Frauen verlieren Teile ihrer Ernte. Deswegen versuchen Flower Msuya und ihre Mitarbeiter, den Algenanbau in Tiefwasser zu etablieren, dort, wo die Temperaturen niedriger sind.

 

 

Die Fahrt in eines der beiden Pilotprojekte geht vorbei an Plattenbauten, gezeichnet von der Sonne und Feuchtigkeit der Tropen. Bis heute wohnen die Menschen gerne in den verhältnismäßig komfortablen Wohnungen am Rande der Hauptstadt, gebaut von der damaligen DDR für das sozialistische Bruderland Tansania.

An der Küste vor dem Dorf Muungoni im Südosten gibt es keinen weißen Sandstrand – und deshalb auch keine Touristen. Dafür jede Menge schroffer Felsen und Korallenriffe. Entsprechend zerfetzt sind die Gummischuhe von Jina Makame und den anderen aus der Gruppe. Gerade haben sie einige Algen geerntet, um sie zu vermehren. Dafür reißen sie die Pflanzen in fingerlange Enden, die sie wiederum an Seile befestigen und durch blaue Rohre in längliche Netze stopfen, die anschließend einige Meter tief draußen im Meer befestigt werden. „So zieht die Strömung die Setzlinge nicht fort“, erklärt Jina Makame. Diese vegetative Vermehrung der Rotalgen ermöglich unbegrenzten Nachbau. Noch immer arbeiten die Farmerinnen mit den Nachkommen der in den Achtzigerjahren importierten Rotalgen.

Als alle Netze gefüllt sind, startet Rajid Mohammed den Außenborder des Bootes. Vorsichtig steigen die Frauen in das schwankende Boot, alle tragen Schwimmwesten über ihren bunten Kleidern. „Wir können nicht schwimmen.“ Jina Makame lächelt schüchtern. Die wenigsten Frauen auf Sansibar können das. Obwohl sie am Meer leben. Es schickt sich hier nicht für Mädchen und Frauen.

 

Das Schwimmen und Tauchen muss deshalb Rajid Mohammed mit zwei Helfern erledigen, was neben den Kosten für Boot und Treibstoff ein Hemmschuh für den Algenanbau im Tiefwasser ist. Zumindest, wenn weiterhin überwiegend Frauen von dem Geschäft profitieren sollen. Dabei wäre mit dem Tiefwasseranbau eine Verdoppelung der Erträge möglich. Die Nachfrage dafür ist da. „Wenn wir ihn anrufen, kommt der Einkäufer am selben Tag, denn er hat große Angst, dass uns jemand anderes die Ernte abkauft“, erklärt Jina Makame später vor ihrem Haus im Dorf und streicht sich lachend über die mit Ornamenten aus Henna bemalten Arme. Die 37-Jährige sitzt neben Säcken voller Rotalgen, aus denen Meersalz rieselt. Daneben trocknet die frische Ernte auf dem Boden, wobei die einzelnen Pflanzen immer bunter werden.

„Leider kaufen sie die nur getrocknet“, sagt die Mutter von sieben Kindern. Umgerechnet vierzig Eurocent bekommt sie für ein Kilogramm. Ein Kilogramm Carrageen kostet bei uns ein Vielfaches. Jina Makame zuckt mit den Schultern. Der Preis sei dank des Engagements des Seaweed Cluster besser als früher. „Er ist aber immer noch zu niedrig.“ Mit Cargill, CP Kelco und einem weiteren US-Unternehmen sind drei große Carrageen-Hersteller auf Sansibar vertreten. Produziert wird der Wunderstoff in Europa, den usa, auf den Philippinen und in China.

„Wir exportieren fast 15 000 Tonnen getrocknete Algen in diese Länder.“ Der Blick aus dem Büro von Haji Abdul Hammid geht über den Hafen Sansibars, wo der einzige Kran der Kaianlage gerade ein Schiff mit Containern belädt, auf denen die Schriftzüge der bekannten internationalen Reedereien zu lesen sind. Haji Abdul Hammid leitet eine Agentur des Handels- und Industrieministeriums zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. „Wir müssen dieses Potential unbedingt besser nutzen, und dafür braucht Sansibar eine eigene Produktion für Carrageen.“

Investoren gesucht

Um Carrageen zu gewinnen, werden die Rotalgen gewaschen und bis zu 48 Stunden in alkalischer Lösung gekocht. Anschließend wird die Lösung filtriert. Erst dann wird das Carrageen entweder mit Alkohol ausgefällt oder mit Kaliumchlorid geliert. Nach dem Trocknen kann die so gewonnene Masse zur handelsüblichen Form gemahlen und verpackt werden.

„Kein allzu schwieriger Prozess, aber wir brauchen technische Hilfe und vor allem Investoren, die ihr Geld auf Sansibar in etwas anderes als den Tourismus anlegen wollen.“ Haji Abdul Hammid hat einen Businessplan für eine Carrageen-Fabrik ausgearbeitet. Auch trifft er sich bald mit Experten aus Indonesien, um Möglichkeiten auszuloten, wie eine solche Anlage die erforderlichen Qualitätsstandards erfüllen könnte. Seit einiger Zeit geistern Meldungen durch die Medien, dass bald mit der Produktion von Carrageen und Agar Agar auf Sansibar begonnen werden soll. Zuletzt lancierte das Landwirtschaftsministerium Tansanias so einen Plan, gemeinsam mit einem großen Seafood-Produzenten aus Daressalam. Vor Ort lösen sich diese Meldungen in Luft auf.

 

Mwanaisha Makame und ihre Gruppe von Algenfarmerinnen aus Paje sind mithilfe der UN in eine kleine eigene Produktion eingestiegen. Sie fertigen Seife, Öle, Pasta oder frittierte Snacks aus ihren Algen. Rotalgen enthalten viele Mineralien und Vitamine sowie Antioxidantien. Die Frauen verarbeiten allerdings nur einen sehr geringen Teil ihrer Ernte zu eigenen Produkten. Das meiste verkaufen sie nach wie vor getrocknet an die Einkäufer. Ob das weiterhin eine Stütze für ihre Familien sein wird, haben sie nur bedingt selbst in der Hand.

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Jörg Böthling

Jörg Böthling begann 1985 als Seemann auf Fahrten nach Afrika und Asien zu fotografieren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitet als Freelancer. 


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