„Die Antithese zur Wehrmacht“

Warum jüdische Seelsorge für jüdische Soldaten in der Bundeswehr unverzichtbar ist
Foto: akg-images
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Die Seelsorge an jüdischen Soldaten können in der Bundeswehr auch nicht-jüdische Geistliche übernehmen. Nicht so beim Gebot „Du darfst nicht morden“, meint der Münchner Historiker und Publizist Michael Wolffsohn. Der Hintergrund: In diesem Monat soll ein Staatsvertrag unterschrieben werden, der die Etablierung von Militärrabbinern in der Bundeswehr vorsieht.

Dezember 1988. Ein Anruf von Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz. Kanzler Kohl und er müssten sehr bald entscheiden, ob nach der zweiten auch die dritte Generation deutschjüdischer Holocaust-Überlebender vom Wehrdienst ausgenommen werden solle. Er bitte mich um einen Gedanken- und Faktenaustausch.

Ebenfalls im Dezember 1989. Das Fernsehmagazin „Panorama“ nimmt sich des Themas an und interviewt ein paar Studenten und mich. Dank der „Gnade meiner Geburt“ und meiner professoralen Unkündbarkeit als deutscher Beamter konnte ich Tacheles reden: „Gleiche Rechte, gleiche Pflichten“. Das kennzeichne einen Rechtsstaat und müsse folglich auch fürs Thema Juden und Bundeswehr gelten.

Was folgte? Heute würde man sagen: ein Shitstorm, gewählter formuliert: ein Sturm der Entrüstung. Nicht mit „shit“, wohl aber mit koscheren, sprich: vorwiegend deutschjüdischen Kanonen wurde ich beschossen. Aber dank der stabilen Demokratie in Bundesdeutschland haben sich die damaligen Frontlinien inzwischen kampf- und krampflos aufgelöst. Längst regt sich kaum noch jemand – Jude oder nicht – über Juden in der Bundeswehr auf. Ganz im Gegenteil, der jetzige Zentralratspräsident befürwortet, ebenso wie die Bundesministerin für Verteidigung, nachdrücklich und vorbehaltlos die Errichtung jüdischer Seelsorge in der Bundeswehr, also einen Militärrabbiner für die (heute) knapp dreihundert jüdischen Soldaten.

Sommer 1991, Hardthöhe, Bonn, Büro des Generalinspekteurs: „Wollen Sie nicht Militärrabbiner in der Bundeswehr werden?“, fragte mich scherzhaft Admiral Dieter Wellershoff, damals Generalinspekteur der Bundeswehr. Es war eher scheinscherzhaft, denn das ernste Thema „Juden in der Bundeswehr“ köchelte konstant weiter. Jedenfalls intern und eben keineswegs nur scherzhaft. Der Kern von Komödien ist bekanntlich der Ernst…Ich griff den Scheinscherz des Obersten Soldaten auf: „Mich als Bundeswehr-Rabbi – das würden Sie politisch nicht überleben, und das können wir auch meinen jüdischen ‚Brüdern und Schwestern‘ nicht antun. Ich bin zwar koscher jüdisch, aber kein Rabbiner, und außerdem könnten Sie ja nicht einmal für koscheres Essen sorgen.“ „Kein Problem“, konterte Wellershoff, „Kartoffeln ha’m wir genug.“ August 1999, Israel, in der am Roten Meer gelegenen Hafenstadt Eylat, Club Méditerranée, Speisesaal. Am dort üblich großen Esstisch das Ehepaar Wolffsohn mit den drei damals noch jungen Kindern. Ein Mann mittleren Alters gesellt sich hinzu. Er schaut nicht nur auf seinen cuisine-française et israélienne gefüllten Teller, sondern auch zu mir.

„Sind Sie nicht der Wolffsohn?“

„Ob ‚der‘ Wolffsohn weiß ich nicht, ich bin Michael Wolffsohn“

„Ihretwegen muss mein Sohn zur Bundeswehr.“

„Wie bitte, meinetwegen?“

Der empörte Papa, Berliner Jude, erzählte: Die Bundeswehr wolle seinen Sohn, dritte Generation Holocaustüberlebender, als Wehrpflichtigen einberufen. Er und der Filius wollten nicht. Um Rat hatte er in der Jüdischen Gemeinde gebeten. „Ja, das verdanken Sie dem
Wolffsohn“, habe man ihm mitgeteilt.

Sommer 2004, Koblenz, Zentrum Innere Führung der Bundeswehr. Auf dem Weg zum Vortragssaal Bilder einer Ausstellung über jüdische Soldaten in deutschen Armeen. Blickfang ein Großfoto mit dem liberalen Rabbiner Walter Homolka im Vordergrund. Er trägt eine operettenhafte Fantasie-Uniform. Eigentlich keine Uniform, also keine Massenbekleidung, sondern, leicht erkennbar, ein Unikat.

Der Terror von Halle

Des Pudels beziehungsweise des Unikats Kern? Seit November 2003 war Homolka als frisch ernannter Major der Reserve und Verbindungsoffizier – der erste bundesdeutsche Soldat mit dem Zivilberuf Rabbiner. Warum das? Aus „Verantwortung für diese Gesellschaft“, denn die Bundeswehr sei „gerade nicht die Fortsetzung der Wehrmacht mit anderen Mitteln“, so der erste Fast-Militärrabbiner der Bundeswehr.

Heute sprechen wir, wohlgemerkt, auf Wunsch des deutschjüdischen Zentralrats nicht mehr über das Ob, sondern das Wie jüdischer Seelsorge in der Bundeswehr. „Tempora mutantur, et nos in illis.“ Die Zeiten ändern sich, und wir in ihnen. So wunderbar klug, kurz, klassisch und zutreffend hat es der „alte Ovid“ auf den Punkt gebracht. „.. und wir in ihnen“. Die Bundesrepublik Deutschland ist eben nicht das Dritte Reich, sondern dessen Antithese ebenso wie die Bundeswehr Antithese zur Wehrmacht, von deren Tradition sie sich ausdrücklich distanziert. Siehe Traditionserlass.

Zum dialektischen Verstehen gehört neben der These die Antithese, zumindest Zweifel, Bedenken oder Sorgen.

Aspekt 1: Ja, unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, „die“ Deutschen, zumindest ihre große Mehrheit, wollen uns Juden schützen. Können sie es? Sie können es so unzureichend wie „die“ Franzosen oder „die“ Briten, und ob die es unter einem Jeremy Corbin überhaupt noch wollen, darf bezweifelt werden. Und wenn unsere „Mitbürger und Mitbürgerinnen“ sowie, ihnen nachlaufend, auch weite von Regierung und Opposition ihre demonstrative, teils provokative Amerika- und Israel-Distanz fortsetzen, können uns Juden Deutschland und die europäischen Demokratien noch weniger schützen, denn ohne amerikanische und israelische Hilfe wird ihr Anti-Terror-Kampf noch unwirksamer. Der Terror von Halle, 9. Oktober 2019, sagt alles.

Aspekt 2: Die deutsche und westeuropäische Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten demografisch und, als Folge, ideologisch, religiös und ethnisch dramatisch, geradezu revolutionär, in zweifacher Weise verändert. Stichwort eins: muslimische Migration, Stichwort 2: die Neue Rechte.

Die Antwort auf die Frage nach dem Antijudaismus und, daraus abgeleitet, Anti-Israelismus, der Neuen Rechten ist leider weitaus differenzierter als im öffentlichen Diskurs. Fakt und nicht Fiktion: Auch unter Juden ist die Antwort umstritten, denn beispielsweise die AfD, Deutschlands Neue (oder doch alte oder altneue?) Rechte, hat jüngst, wie Trump und andere Rechte aus aller Welt, ja zu Jerusalem als Israels Hauptstadt gesagt. Anders als die Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD, sowie die Fast-Einstimmigkeit der Linken im Bundestag hat die AfD mit der einst nicht gerade israelfreundlichen FDP den blinden UNO-Antiisraelismus verurteilt. Die Grünen enthielten sich. Im Vergleich zu ihrer Vergangenheit war das ein immenser Fortschritt, aber Wischi und Waschi sind kein Schutzschild für Juden, auch nicht von anderen Parteien, und längst sind die einst eher g’schamigen PLO-Liebeleien des 2005 verstorbenen Sozialdemokraten Ben Wisch, Hans-Jürgen Wischnewski, der vermeintlich gute Ton deutscher und west- und deutlich weniger osteuropäischer Nahostpolitik. Nicht nur deshalb gibt es „Juden in der AfD“, und nicht nur deshalb haben 2012 knapp 14 Prozent der französischen Juden und 2017 wahrscheinlich rund ein Drittel Le Pen gewählt. Das gefällt auch mir nicht, aber ohne richtige Diagnose keine erfolgreiche Therapie. Antisemitismus und Antizionismus waren und sind eben kein Monopol der Alten oder Neuen Rechten. Wer das bestreitet, hat den Kampf gegen Antisemitismus und Antizionismus von vornherein verloren.

Aspekt 3: Schon zu Zeiten der am Ende alles andere als allgemeinen Wehrpflicht hatten immer weniger Bürger die Uniform angezogen und sich somit – scheinbar hochmoralisch und fortschrittlich – dem Militär entzogen. Längst war die Bundeswehr kein Spiegel der Gesellschaft. Nach dem faktischen Abschaffen der Wehrpflicht ist sie das (wie weltweit jede Berufsarmee) noch weniger als vorher. Punkt eins.

Mehr Haudegen

Punkt zwei: Wie weltweit jedes Militär wirkt auch die Bundeswehr wenig attraktiv auf Lyriker, Philosophen und andere Schiller-Schöne-Seelen. Jedes Militär (sorry!) zieht seit jeher nicht nur, aber strukturell mehr Haudegen an. So zieht die Bundeswehr strukturell sowie aus funktionalen Gründen – nicht beabsichtigt, doch unvermeidbar und nicht mehrheitlich, aber eben doch auch – Feinde der Offenen Gesellschaft an. Sowohl militante Rechte als auch militante Muslime, eben Militante ganz allgemein. Als Bundeswehrsoldaten haben sie leichten Zugang zu sensiblen Informationen des verhassten Staates, und sie kommen relativ leicht und zudem kostenlos an militärische Ausbildung plus Material. Dieses Bestwelt-Szenario für Militante im Militär ist keine Erfindung, es beruht auf Erfahrung und Fakten. In den vergangenen Jahren wurden, dem MAD sei Dank, Islamisten und Rechtsextremisten in der Bundeswehr erkannt, enttarnt und entlassen. Alle? Das ist zu hoffen, doch leider nicht zu erwarten, und noch mehr werden versuchen, die Bundeswehr in ihrem doppeltfeindlichen Sinne zu unterwandern. Man stelle sich vor, es lebten ein Islamist, ein Rechtsextremist und ein Jude in derselben Stube. Das muss nicht geschehen, aber es ist höchst wahrscheinlich. Über andere Horrorszenarien will ich eigentlich nicht nachdenken. Will nicht, muss aber. Wir alle müssen wegen der richtigen Prävention und Reaktion.

Sind Soldaten Mörder?

Aspekt 4: Spätestens seit dem Kosovo-Krieg von 1999 ist die Bundeswehr eine Kampf- und damit Kriegsarmee. Im Krieg wird getötet. Muss getötet werden. Töten ist in unserer postheroischen Gesellschaft, „gottlob“, frevelhaft und eigentlich ein Verbrechen. Im Krieg aber ist das Töten sowohl legal als auch legitim. Ein ungeheuerliches Moral-Dilemma. Wo liegt die Grenze zwischen Töten und Morden? Sind Töten und Morden identisch? Sind Soldaten also doch Mörder? Wir sagen nein und haben für dieses Nein überzeugende moralische Gründe. Doch dieses Nein bedarf der ständigen Überprüfung, Selbstbefragung oder Rechtfertigung nach innen ebenso wie nach außen, individuell ebenso wie kollektiv.

Muss manchmal präventiv getötet werden, um einer eigenen Tötung zu entgehen? Ja, sagt die Halacha, das jüdische Religionsgesetz. Gilt diese Ja nur für Juden? Nein. „Man muss töten, um den Mord abzuschaffen. Gewalt tun, um das Unrecht zu beseitigen“, lässt der große Schriftsteller und Menschenfreund Albert Camus einen der Akteure im „Belagerungszustand“ (Teil 3) sagen. Wirklich? Muss man „töten, um den Mord abzuschaffen“?

Auf diese und andere Fragen antwortet dem jüdischen Bundeswehr-Soldaten vertrauter und persönlicher als Offizier A, B oder C ein jüdischer Seelsorger. Darum ist jüdische Seelsorge für jüdische Soldaten in der Bundeswehr unverzichtbar. Seelsorge ist dabei die eine Seite, das religiöse Fundamentalgebot die andere. Beim rein ethischen Problem Töten – Morden kann auch ein christlicher Seelsorger helfen oder aushelfen. Nicht bezüglich des Gebots „Du darfst nicht morden“.

In der Tradition Martin Luthers übersetzt die christliche Einheitsbibel nämlich dieses zentrale Gebot aus dem Dekalog irreführend und sinnwidrig mit „Du darfst nicht töten“. Im hebräischen Original heißt es „lo tirzach“, also „Du darfst nicht morden“. Es heißt nicht „lo taharog“ beziehungsweise „Du darfst nicht töten“. Das wiederum heißt unausgesprochen „Notfalls darfst du töten“ – wenn nämlich dir selbst der Tod droht oder, wie bei Camus: „Manchmal muss man „töten, um den Mord abzuschaffen.“ Hieße es tatsächlich in den Zehn Geboten „Du darfst nicht töten“, wäre das Töten beziehungsweise Schlachten von Tieren verboten. Nicht nur Vegetarier, erst recht Veganer und noch mehr Frutarier, freilich auch Fleischesser, können diesen Gedanken leicht nachvollziehen.

Bleibt diese Frage zu Aspekt 5: Braucht man in einer religionsfernen Gesellschaft wie der westlichen und noch mehr deutschen, ganz besonders ostdeutschen, immer noch Geistliche und Seelsorger gleich welcher Religion? Seelsorger auf jeden Fall. Stichwort Töten. Auch Geistliche braucht man. Siehe oben, siehe jüdisch: „Du darfst nicht morden“ – oder einheitschristlich: töten.

Machen wir uns nichts vor. Die Riesen-Mehrheit der deutschjüdischen Minderheit ist ebenso religionsfern wie die christliche Mehrheit in diesem Lande. Hinzu kommt die, wie ich finde, befremdliche Tatsache, dass so manch christlicher und auch jüdischer Geistliche meint, bessere Politik als Politiker liefern zu können. Die Politisierung der Religion ist in der Bundeswehr noch mehr deplatziert als außerhalb. Die Bundeswehrverantwortlichen sollten daher ebenso wie der deutschjüdische Zentralrat höllisch aufpassen, dass Bundeswehr-Geistliche vor lauter Politik oder Karrierismus nicht den Himmel aus den Augen verlieren.

Der Bogen reicht vom Mikrokosmos zum Makrokosmos, vom Ich zum Wir. Wird es hie ein nichtjüdisch-deutsches Wir und dort ein nurjüdisches? Oder wird es ein deutschjüdisches? Die Zeit wird es zeigen und Militärrabbiner sich hoffentlich bewähren.

Information

Der Text beruht auf einem Vortrag Michael Wolffsohns vom April 2019. Eine längere Fassung wird in seinem Buch im Herder Verlag im März 2020 erscheinen. Der Titel: Tacheles. Gegen Legenden und Klischees in Geschichte und Politik.

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