Eine Reise in das völlig Ungewisse

Carina Ambos erforscht die Auswandererseelsorge der Kirchen im 19. Jahrhundert
Carina Ambos
Foto: Torsten von Reeken

Zwischen 1826 und 1914 sind rund 5,5 Millionen Deutsche ausgewandert. Bremen und ihre Tochterstadt Bremerhaven waren die wichtigsten Auswanderungshäfen. Dort kümmerten sich kirchliche Seelsorger um die Menschen, die alles zurück gelassen haben. Wie heute. Diese Geschichte erforscht Carina Ambos.

Die erste berufliche Station nach meinem Studium der „Ökumene und Religionen“ an der Universität Oldenburg war eine Arbeit im Kreisjugenddienst Friesland-Wilhelmshaven. Da stellte ich mir die Frage, wie es nach der Befristung weitergehen soll. Jugendarbeit bis zur Rente? Oder etwas ganz anderes? Ich erinnerte mich an die Frage, die mir eine Professorin im Studium einmal gestellt hatte: Ob ich nicht promovieren wolle. Dieses Mal bewarb ich mich. So kam ich zu meiner Stelle an der Universität Oldenburg und einem Promotionsvorhaben in der Kirchengeschichte. Es geht um die kirchliche Betreuung von Auswanderern in Bremen und Bremerhaven im 19. Jahrhundert.

Ich kam über einen Umweg zu dem Thema. Nachdem der ursprüngliche Plan, das Thema meiner Bachelorarbeit, Frauenordination, in ökumenischer Sicht zu vertiefen, sich aufgrund der Quellenlage als zu schwierig herausstellte, kam durch einen glücklichen Zufall das Thema Auswandererbetreuung auf. Eine Liebe auf den zweiten Blick, die wahnsinnig viel Spaß macht. Es ist eine ökumenische Betrachtung, die Protestanten, Katholiken und Methodisten umfasst.

Ich war schon in vielen Archiven in der halben Republik, selbst in kleinen Gemeindearchiven. Zwar gibt es viel Literatur über Auswanderung, doch kaum zu meinem Fokus. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich über die Jahre eine kirchliche Betreuung von Auswanderern. Angefangen bei der Verteilung von christlichen Schriften über extra Gottesdienste bis hin zu Ratgebern und Auswandererpastoren. Der Bremer Pastor Ferdinand Cuntz war einer von ihnen, er hatte auch einen Ratgeber für Auswanderer geschrieben, der bis 1914 in 19 Auflagen erschienen ist. Der „Rathgeber“ war so kritisch und hat so deutlich vor den Gefahren der Auswanderung gewarnt, dass man heute fast von einem „Abrathgeber“ sprechen mag.

Auswanderung aus Europa war im 19. Jahrhundert ein Massenphänomen. Man schätzt, dass zwischen 1826 und 1914 rund 44 Millionen Europäer ausgewandert sind, darunter waren 5,5 Millionen Deutsche. Die Auswanderung ging vor allem in die USA. Bremen mit der Tochter-stadt Bremerhaven wurde der wichtigste Auswanderungshafen. Das war ein gutes Geschäft für diese Städte. In manchen Jahren meines Untersuchungszeitraums wanderten jährlich 250 000 Menschen aus deutschen Häfen nach Übersee aus.

Bei der Auswandererseelsorge der Kirchen war eine Facette, die Auswanderer vor Abzocke in Deutschland zu schützen. Denn beim Warten auf eine Überfahrt – es waren ja noch lange Zeit Segelschiffe – mussten die Auswandernden oft lange in Gasthäusern übernachten, da Wind und Wetter die Abfahrt der Segler schwer kalkulierbar machten. In den späteren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts organisierte die Auswandererseelsorge, dass die Auswanderer vom Bahnhof abgeholt und in Wirtshäusern mit fairen Preisen untergebracht wurden. Man darf ja auch nicht vergessen, dass in dieser Zeit ein Bayer in Bremen manchmal schlicht gar nichts verstand. Er war für Betrüger eine leichte Beute.

Die Auswanderung war eine teure Angelegenheit. Neben der Überfahrt musste man die Unterkunft im Hafen während der Wartezeit aufs Schiff und anfangs auch noch Essgeschirr und Bettzeug finanzieren. Je nachdem, an wen man geriet, waren teilweise horrende Preise dafür zu zahlen. Manchmal hatten die Auswanderer schon alles Ersparte ausgegeben, wenn sie endlich in Amerika ankamen. In der Anfangszeit wurden in Handelsschiffen Zwischendecks für die Auswanderer eingezogen – die galten dann als „zahlender Ballast“. Es war ein großes Geschäft für die Reedereien. Die Auswanderer-Seelsorge sollte natürlich auch dazu dienen, dass die Auswanderer im Glauben gestärkt wurden. In Grenzsituationen sind die Menschen ja eher empfänglich für die christliche Botschaft. Außerdem wollte man ihren Glauben vor der Abfahrt stärken, damit sie nicht in Übersee vom Glauben abfielen – etwa aus Mangel an Kirchen und Gemeinden der jeweiligen Konfession. Manche Auswanderer-Seelsorger hofften auch darauf, dass die Auswanderer den christlichen Glauben in den Weiten Amerikas unter den Einheimischen verbreiten würden. Man sah die Arbeit in den Häfen als Ausstreuen des Samenkornes an. Die Saat, die durch die Auswandererseelsorge ausgesät wurde, konnte in Übersee aufgehen.

Ich finde es faszinierend, dass es bei meinem Thema einige Parallelen gibt zur Migration, die wir heute weltweit erleben, und der aktuellen Einwanderung nach Europa. Wie heute sparten manchmal arme Familien in den deutschen Territorien im 19. Jahrhundert Geld, damit ein Familienmitglied auswandern konnte – in der Hoffnung, dass er (eher selten: sie) dann die Angehörigen nachholen könnte, wenn sie es dort zu Wohlstand gebracht hätten. Aber nicht immer schafften es die Auswanderer in der Neuen Welt. Schon die Überfahrt blieb gefährlich. Schätzungen zufolge starben noch um 1850 herum bis zu drei Prozent der Auswanderer auf hoher See.

Dann der schwierige Start in der neuen Heimat: Manche Frauen landeten aus lauter Not in Amerika in der Prostitution. Und wie heute sind es die ganz Armen nicht, die ausgewandert sind, sondern eher die, die wenigstens noch ein wenig Geld hatten. Die Ärmsten der Armen hatten kein Geld zur Auswanderung. Viele Auswanderer suchten in der Neuen Welt die Freiheiten, die sie in ihrer Heimat nicht hatten, das ähnelt heutigen Motiven. Wie heute mussten sie in der Regel alles zurücklassen und starteten eine Reise in das völlig Ungewisse. Ich finde, man kann viel für heute lernen, wenn man sich mit der Auswanderung aus Europa im 19. Jahrhundert beschäftigt.

Vermutlich werde ich in diesem Jahr mit der Arbeit fertig sein – derzeit habe ich schon rund 80 Seiten, am Ende werden es wohl 200 bis 250 Seiten sein. Ich hoffe, dass ich dann eine Arbeit in der Erwachsenenbildung oder im Museumsbereich finden kann. Theoretisch könnte ich auch mit Umweg Pastorin der Oldenburgischen Kirche werden. Aber man muss der Typ dafür sein – und ich glaube, das bin ich nicht.

Aufgezeichnet von Philipp Gessler

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