Beklemmend

Antisemitismus in Europa

Antisemitismus ist ein akutes Problem. Die Ernennung von Beauftragten für diese Thematik auf Bundes- und Landesebene ist ebenso notwendig wie seine gründliche Erforschung. Die Autorinnen des Bandes versuchen trotz der immensen Fülle von Fakten und Aspekten, eine Schneise ins Dickicht zu schlagen, und beschreiben Geschichte und Auswüchse eines negativ schillernden Phänomens in verschiedenen Kontexten in Frankreich, Großbritannien und Österreich.

Immer wieder müssen daher jeweils spezifische Einordnungen im Blick auf Migration, Parteien und Medien, die Wirkungsgeschichte von Kolonialismus und Ereignissen im Nahen Osten, Islamfeindlichkeit und Extremismus vorgenommen werden. Frankreich habe durch starke Zuwanderung von fünf bis sechs Millionen Muslimen und von einer halben Million Juden aus den Maghrebstaaten eine in Europa einmalige Konstellation.

Transnationale Solidarisierungsprozesse seit der so genannten zweiten Intifada der Palästinenser verwoben sich mit interfranzösischen Entwicklungen wie dem Wandel zu einer selbstkritischen Erinnerungspolitik bei gleichzeitigem Erstarken von Holocaust-Leugnungen. Der Rückzug von ethnisch-religiösen Gruppen von den gesellschaftlichen Diskursen und ihre (Selbst-)Stilisierung zu Opfern sei zu einem Hindernis zum Beispiel für einen muslimisch-jüdischen Dialog geworden.

In Großbritannien spiele die extreme Rechte eine weniger zentrale Rolle, wobei der Anteil der „hard-core“-Antisemiten aus diesem Spektrum allerdings um die 14 Prozent beträgt, da die Rahmenbedingungen andere sind als in Frankreich. Die Rolle des Landes als Mandatsmacht in Palästina und während der Jahre 1933–45 haben der jüdischen Minderheit im Land die Rolle einer „geschätzten Minderheit“ verschafft. Antisemitismus wurde – insbesondere als mutierte Variante eines „Anti-Zionismus“ – virulent vor allem im linksliberalen Spektrum und etwa durch die Beteiligung von Protagonisten an der „Stop The War Coalition“, die nach 2001 schließlich auch zu unheiligen Schnittmengen mit Islamisten führte. Die BDS-Kampagne, also „Boycott, Divestment, Sanctions“, für einen Bann israelischer Waren fand hier zahlreiche Anhänger. Der aktuelle Vorsitzende der Labour Party, Jeremy Corbin, forderte exemplarisch anstelle des Holocaust Memorial Day einen Gedenktag für alle Opfer rassistischer Verfolgung. Einerseits würden bestimmte Traditionen des Judentums positiv gewertet, sofern sie zu einem „toleranten Multikulturalismus“ beitrügen, andererseits würden „böse Juden“ identifiziert, um sie gesellschaftlich zu ächten.

Umfragen und Studien, auf die sich die Autorinnen beziehen, sind nicht einheitlich und kommen je nach Befragungszeitraum und -art zu unterschiedlichen, ja sogar gegenläufigen Ergebnissen. Für Österreich lägen etwa nur wenige und nur bedingt verallgemeinerbare Studien vor. Trotzdem stellen die Autorinnen auf deren Basis fest, dass es eine Kontinuität traditionell-antisemitischer Einstellungen in einer (vor allem rechts-orientierten) Bevölkerung gibt. Zugleich sei Antisemitismus unter (jugendlichen) Muslimen verbreitet.

Die Autorinnen favorisieren einen „elastischen Antisemitismus“ als tragfähigste Definition. Insbesondere für den deutschen und den europäischen Kontext ergeben sich wichtige Einsichten: Ursachen und Wirkungen sind in den nationalen Zusammenhängen zwar unterschiedlich, Gemeinsamkeiten aber gibt es zum Beispiel hinsichtlich der Haltungen zu Israel und pro-palästinensischen Manifestationen und deren Instrumentalisierbarkeit. Die vergleichende Auseinandersetzung mit rechtsextremen Gruppen in Ost- und Westeuropa ist dringend. Die Lektüre des Buches ist empfehlenswert spannend, erhellend und beklemmend zugleich.

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