Hegemonie durch Einhegung

Wer bestimmt, was Rassismus ist?
Foto: privat

Wer braucht schon Argumente, wenn er oder sie die Deutungshoheit besitzt? Letztere verteidigen wir Weiße bei der Frage, was Rassimus ist, bis aufs Messer - auch in unserer Kirche.

In einem ihrer autobiografischen Texte erzählt die afrikanisch-amerikanische Schriftstellerin Alice Walker von ihren Kämpfen gegen die Rassentrennung im Süden der USA und von der Gewalt, die Weiße gegen Schwarze ausübten. Sie erinnert sich an eine junge weiße Frau, die sich dem rassistischen Mob entgegenstellte, nie mit der Wimper zuckte oder die Augen verschloss, egal, was geflogen kam. „Ich glaube“, schreibt Alice Walker im Rückblick, „der Grund, warum sie nie die Augen schloss, war, dass sie nicht glauben konnte, was sie sah.“

Die junge Weiße war aufgewachsen mit der Vorstellung, in einem Rechtsstaat zu leben, der die Bösen bestraft und die Unschuldigen schützt. Sie dachte, die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz wäre eine Selbstverständlichkeit und Demokratie bedeute die Herrschaft des Volkes. Und dann sah sie den rassistischen Mob, dessen Gewalt von der Polizei geduldet und teilweise unterstützt wurde, und Gerichte, die unschuldige Schwarze verurteilten und weiße Täter laufen ließen. Und sie konnte nicht glauben, was sie sah.

Es ist wie das Aufwachen aus einem Traum, das Erleben einer Ent-Täuschung – niemand will das. Eine Strategie, um den Traum zu bewahren, besteht darin, Rassismus diskursiv einzuhegen. Einhegen bedeutet begrenzen, minimieren und damit überschaubar machen. Vielleicht ist deswegen jetzt so viel von „Hanau“ die Rede, weil auf diese Weise Rassismus zu etwas Punktuellem wird: Rassismus ist, wenn Leute erschossen werden, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Dann sind alle schockiert über ein Ereignis, das in der Vergangenheit liegt und dort geschehen ist, wo die meisten Deutschen nicht wohnen.

Dabei geschieht Rassismus jeden Tag und überall. Niemand hat jemals die Möglichkeit gehabt, nicht mit Rassismus aufzuwachsen. Das geht schon mit Kinderbüchern los: Besonders die Bilderbücher sind voll von weißen Kindern, weißen Eltern, weißen Nachbarn usw. – und das in einem Land, in dem jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund hat. Den Kindern wird eine Welt vorgegaukelt, die es gar nicht gibt. In den Schulen hängen Weltkarten, die alle Flächen auf der Nordhalbkugel größer darstellen als sie in Wahrheit sind, da der Äquator nicht in der Mitte der Karte eingezeichnet ist, sondern im unteren Drittel. Und im Unterricht erfahren Schüler*innen von Immanuel Kant, dass man Dummheit am Äußeren erkennen kann. Der Philosoph schrieb: „Dieser Kerl war vom Kopf bis auf die Füsse ganz schwarz, ein deutliches Zeichen, dass das, was er sagte, dumm war.“ Rassismus spannt über alle Menschen ein dichtes Netz aus Lügen mit gewalttätigen Folgen für Menschen of Color. Die Folgen für Weiße sind Privilegien.

Ein Privileg, das wir Weiße bis aufs Messer verteidigen, ist die Deutungshoheit. Wir bestimmen, was rassistisch ist und was nicht. Ein weißer Bundesinnenminister legt fest, dass es sich bei den Morden in Hanau um einen "rassistisch motivierten Terroranschlag" handelte, eine weiße Richterin vom Landesverfassungsgericht bestimmt, dass das N-Wort nicht unbedingt herabwürdigend zu verstehen sei. Und ein Gremium von siebzig weißen evangelischen Theolog*innen bestimmt im Jahr 2016, das die korrekte Übersetzung des hebräischen Wortes „Kuschit“ (gemeint ist ein Mensch, der in Äthiopien wohnt) „Mohr“ ist (Jer 13,23). Als ich diese Übersetzung als rassistisch kritisierte, kam prompt die Belehrung aus dem Kirchenamt der EKD: „Viel zu großes Besteck!“ Es sei kein rassistisches Wort. Begründung: keine. Wer die Deutungshoheit besitzt, muss nicht argumentieren.

Es ist zum Verzweifeln. „Du meine Güte, Fräulein!“ höre ich hinter mir eine Stimme. Ich drehe mich um und sehe eine Gruppe von steinalten weißen Frauen. Sie tragen selbstgemalte Transparente mit den Aufschriften „Kauft keine Früchte der Apartheid!“ und „Boykottiert die Dresdner Bank!“ Eine legt mir die Hand auf die Schulter. „Ja, was meinen Sie denn, was der Evangelischen Frauenarbeit entgegenschlug, als wir begannen, gegen den Rassismus in Südafrika zu protestieren? Denken Sie etwa, die EKD wäre begeistert gewesen?“ Eine andere kichert. „Sie hat uns sogar teilweise die Mittel gestrichen, um Druck zu machen. Hat aber nicht geklappt.“

Danke, Schwestern - hätte ich fast vergessen. Wie weit wir heute gehen können, misst sich an jenen, die vorangegangen sind.

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