Konstruktion

Der Islam und das Mittelalter

Ein schmales Bändchen, das im Hauptteil vielen Lesern überraschende Aha-Erlebnisse bescheren wird, doch zum Ende hin leider zu trockener Historikerkost mutiert. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer, bekannt durch sein Buch über die islamische „Kultur der Ambiguität“, räumt zunächst mit der unseligen Wortbildung „islamisches Mittelalter“ auf.

Der Begriff des Mittelalters sei ein Ausdruck, der geographisch auf Europa und kulturell auf das christliche Abendland bezogen ist. Daher sei er unbrauchbar, um mit ihm in angemessener Weise islamische Gesellschaften zu beschreiben. Ganz abgesehen von den negativen Konnotationen, die beide Begriffe bereits für sich mittragen und die in ihrer Zusammensetzung zu einer Begriffsexplosion führen, die den Blick auf das damit Gemeinte – islamische Gesellschaften in der Zeit von 500 bis 1 500 u.Z. – verstellt. So werde besagte Wortbildung zu einem Schlagwort für religiösen Fanatismus und zum Ausdruck für die angemaßte Deutungshoheit eurozentrischer Historiker über die Weltgeschichte. Auch vom Islam abgesehen sei das „Mittelalter“ ein für die meisten Historiker heute überholter Epochenbegriff. Diese 1 000-jährige Zeitspanne war keine einheitliche Periode und für die Geschichte des Islams passe sie erst recht nicht.

Ein wahrer Augenöffner ist die Beweisführung dafür im zweiten Kapitel, in dem Bauer von A bis Z Orient und Okzident während dieser Zeitspanne vergleicht. Die Beispiele stammen aus der gesamten Alltags-, Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte beider Welten, vom Analphabetismus über Bäder und Homoerotik bis hin zu Papier, Pflanzen und Witzen. Unter „Ordal“ etwa erfahren wir, dass, während im Abendland Gottesurteile in Form von Feuer- und Wasserproben sowie Kesselfang als Beweismittel weit verbreitet waren, sich in den islamischen Gesellschaften ein Recht herausbildete, das vielfach an das Römische Recht anknüpfte. Bei „Urbanität“ lesen wir, dass die antike Stadtkultur im Abendland allmählich unterging, während überall dort, wo der Islam regierte, die Stadtkultur fortbestand und ausgedehnt wurde: „Während im Westen Städte von der Landkarte verschwinden, werden im Osten neue gegründet.“

Fazit dieses spannenden Vergleiches: Ein Mittelalter, wie es im Abendland geherrscht hat, hat es in der islamischen Welt nie gegeben: „Bewahrung und Fortentwicklung der antiken Kultur kennzeichnen somit den Osten, weshalb es dort auch keine Renaissance geben konnte: Wo nichts gestorben ist, kann auch nichts wiederbelebt werden.“

Mitte des Buches beginnt dann eine fachhistorische Debatte um alternative Epochenkonstruktionen, die den Laien allenfalls begrenzt interessieren dürfte. Sie läuft darauf hinaus, eher die islamischen Gesellschaften als die europäischen als die Erben der Antike zu würdigen. Es gab kein islamisches Mittelalter. Der Islam der ersten Jahrhunderte war Teil einer Spätantike, die bis ins 11. Jahrhundert andauerte und weit über die Grenzen Europas ausgedehnt war. Wenn man schon adäquat vergleichen wolle, so Bauer, dann ähnelte die Kultur des spätantiken Islams viel mehr dem tangzeitlichen China (7. bis 10. Jahrhundert) als dem mittelalterlichen Europa.

Eine naheliegende Frage hat sich Bauer nicht gestellt: ob es denn sachgemäß sei, den Begriff „islamisches Mittelalter“ auf einige Regionen der islamischen Welt heute anzuwenden, die seit der Wahhabitisierung im 18. und der Talibanisierung im 20. Jahrhundert weit zurückgefallen sind hinter die islamische Hochkultur der Spätantike.

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