Die Stadt der Kinder

Wie eine japanische Kleinstadt den demografischen Trend aufhalten will

Japan hat eine der geringsten Geburtenraten der Welt. Die Bevölkerung schrumpft und altert dramatisch. Eine Kleinstadt kämpft dagegen an – mit ihren ganz eigenen Mitteln.

Haruta ahnt nicht, dass er der winzige Teil einer Erfolgsgeschichte ist. Selbst wenn, ihm wäre es in diesem Moment vermutlich egal. Verschlafen blinzelt der Zweijährige auf dem Schoß seiner Mutter und schmiegt sich an ihre Schulter. Mit seinen Zöpfchen, drei Büschel pechschwarzes Haar, erinnert er an einen kleinen Samurai. Mama Hiromi Uemoto steckt ihrem Jüngsten mit den Essstäbchen Reis in den Mund, schiebt ein wenig Spinat hinterher.

 

Bruder Mutta, fünf Jahre alt, stolpert im Pyjama an den Frühstückstisch. Sein Pony fällt ihm über die Augen. Der Älteste, der sieben Jahre alte Kanta, erledigt noch schnell die letzten Hausaufgaben. Er übt Schriftzeichen, während seine Schwester Konoe (6), ein zierliches Mädchen mit Rattenzöpfen, in ihreSchuluniform schlüpft.  

 

Die Wände hängen voll mit krakeligen Zeichnungen und Fotos der Geschwister, mal stolz, mal scheu lächelnd. „Meine Familie ist alles für mich“, sagt Hiromi mit zärtlicher Stimme. „Mein wichtigster Schatz.“ Als sie Mutter wurde, wusste sie: Nirgendwo würde ihre Familie bessere Bedingungen finden als in ihrer Heimat Nagi. Zuvor lebte sie mit Mann Taishira eine halbe Autostunde entfernt in der Großstadt Tsuyama. Vier Kinder hätte sich das Paar dort niemals leisten können. Darum entschieden sie sich, zurück zu Hiromis Wurzeln zu ziehen. Umrahmt von sanften Hügeln, von dichtem Wald, durch den Bären streifen, liegt die Kleinstadt im Südwesten des Landes, mitten in der Einöde. Reisterrassen ziehen sich wie Stufen den Hügel hinauf, Bauern pflanzen Setzlinge in die überfluteten Felder. Es gibt ein Café, einen riesigen Supermarkt, ein winziges Polizeirevier, das fast überflüssig wirkt – und nagelneue Spielplätze. Hiromi wundert sich nicht mehr darüber, dass sich so viele Menschen mittlerweile für das verschlafene Städtchen interessieren: Das japanische Fernsehen, Delegationen aus allen Ecken des Landes und ganz Asien wollen sehen, was ausgerechnet Nagi zum Vorbild macht.

Sterbende Dörfer

Als Hiromi vor 32 Jahren geboren wurde, zählte die Stadt achttausend Einwohner. Um ein Viertel ist die Zahl seitdem geschrumpft. Im ganzen Land ist die Bevölkerungskurve im Sinkflug. Während in den Megametropolen wie Tokio die Menschen dicht an dicht leben, oft in Wohnungen klein wie Kartons, sterben ganze Dörfer aus. Doch die Menschen in Nagi haben einen Weg gefunden, den Abwärtstrend zumindest aufzuhalten, einen Weg, der die Menschen zurückholt und anzieht: Nagi ist zum Ort der Hoffnung geworden.

 

Die Hoffnung lacht laut und hat Zahnlücken. Auf dem Hof vor ihrem Wohnblock warten Kanta und Konoe auf die Nachbarskinder. Hiromi zählt durch und winkt dem kleinen Tross nach, der sich zur Grundschule bewegt. Dann bringt sie ihre beide Kleinen weg: Mutta in den Kindergarten, Haruta in die Kita. Beim Abschied verdrückt der kleine Samurai Tränen.

Es ist der einzige Weg, um die Stadt am Leben zu erhalten, glaubt Oku Chocho. Der Bürgermeister residiert im Rathaus, vor dem eine Skulptur mit Kindern steht und wo sie 2012 eine Erklärung unterschrieben haben: Nagi solle eine Stadt voll mit Kinderstimmen werden, „wo Eltern das Glück erleben, das es bedeutet, Kinder großzuziehen“. Wenn der Bürgermeister an eine Ressource glaubt, sind es die Jüngsten. In manchen japanischen Gemeinden mussten längst die Schulen schließen, Häuser stehen leer, Krankenhäuser machen dicht. „Sechstausend Einwohner sind für uns die magische Grenze, die wir halten wollen.“ In Nagi haben sie verstanden: Wollen wir weiter bestehen, müssen wir alles daran setzen, dass die Familien unbeschwert leben. Durch die ganze Stadt spannt sich ein Netz, das Paare auffängt, Eltern unterstützt, Kinder versorgt.

 

Für das erste Kind gibt es einmalig einhunderttausend Yen, etwa 830 Euro, für das fünfte vierhunderttausend, rund 3 300 Euro. Die Schule ist umsonst. Keiner muss auf einen Kitaplatz warten. Ist ein Kind krank, bekommt es kostenlos Medizin. Wollen die Eltern ausgehen, können sie einen Babysitter-Service in Anspruch nehmen. Grundstücke gibt es besonders günstig für Familien. Die Stadt hat Wohnblöcke aufgekauft, um sie billiger zu vermieten. Rund eine Million Euro im Jahr lassen sie sich die Programme kosten. Angestellte der Stadt haben zeitweise geringere Löhne akzeptiert, damit mehr Geld für die Maßnahmen bleibt, für die Zukunft.

Langsamer Schrumpfen

Der Plan scheint aufzugehen. In der Provinz funktioniert im Kleinen, wofür Länder wie Japan oder Deutschland seit langem kämpfen: Die Frauen bekommen mehr Kinder. Denn mehr als ein Viertel der Inselbewohner ist inzwischen älter als 65 Jahre. Derzeit gibt es 127 Millionen Japaner. Sollte die Geburtenrate nicht steigen, werden es im Jahr 2060 nur noch 87 Millionen sein. Ein Grund für die sinkende Geburtenrate ist unter anderem, dass junge Japanerinnen und Japaner immer später heiraten und die Geburt des ersten Kindes hinausschieben. Im Schnitt bekommen japanische Frauen nur 1,4 Kinder. In Nagi waren es 2014 doppelt so viele. Inzwischen hat sich die Rate bei 2,3 eingependelt. Doch der Bürgermeister ist kein Träumer. „Wir werden dennoch schrumpfen.“ Aber langsamer als anderswo.

 

Hiromi fährt zum Hotel ihres Vaters, wo sie arbeitet. Sie kümmert sich um Buchungen, bereitet Essen vor, während nur wenige Kilometer entfernt Haruta seine Abschiedstränen verschmerzt hat. Im Gänsemarsch stolpern die Kita-Kinder aus der „Häschen“-Gruppe durch Nagi, sie singen, nehmen sich an den Händen, pflücken Pusteblumen. Nur Haruta lässt sich lieber von der Erzieherin tragen.

Überhaupt sind es die Frauen, die die Stadt gestalten und die Last schultern. Fast drei Viertel der Mütter sind berufstätig, fast alle arbeiten vor Ort. Frauen müssen sich in Japan oft entscheiden für Karriere oder Kinder. In Nagi lässt sich beides vereinbaren. Hiromi bedeutet ihre Arbeit viel. Sie gehört zu jener Generation japanischer Frauen, die so gut ausgebildet ist wie noch nie. Sie hat Ernährungswissenschaften studiert, früher in der Schulmensa als Beraterin gearbeitet. Allein vom Gehalt ihres Mannes könnten sie kaum leben. Als Bauarbeiter ist er viel unterwegs, an diesen Tagen ist er auf Geschäftsreise. Meist verlässt er um sechs das Haus und kehrt nicht vor sieben am Abend zurück. So bleibt die Kinderversorgung Sache von Hiromi.

 

Mütter, die nur einige Stunden in der Woche arbeiten können oder wollen, gehen zu einer stillgelegten Tankstelle, wo eine Jobvermittlung untergebracht ist. Die Frauen registrieren sich für Hilfstätigkeiten, sie pflegen Datenbanken, unterstützen Bauern bei der Ernte, verpacken Gemüse, während ihre Kleinen in einer betreuten Spielecke toben. Miku Yonezawa (29) kommt mit ihrem Sohn auf dem Arm. Aki ist erst neun Monate alt und klammert sich an sie. Tochter Shiori (4) rast bereits mit einem anderen Mädchen durch den Raum. Für die Grafikdesignerin ist es eine perfekte Lösung. „Immer, wenn ich Zeit habe, komme ich vorbei, verdiene Geld – und treffe dabei oft noch Freundinnen.“

Doch das Herz der Stadt, das heimliche Wohnzimmer für die Mütter von Nagi, ist das „Kinderheim“, ein Flachbau mit großem Garten, mit Beeten und Spielgeräten. Um die Mittagszeit sitzen mehrere Frauen mit ihrem Nachwuchs am Tisch. Großeltern kommen hierher, auch Eltern aus umliegenden Gemeinden, weil es immer Spielkameraden gibt, unzählige Bücher und Kuscheltiere. Mütter haben Babykleidung für einen Basar mitgebracht, die Kinder haben einen kleinen Kaufladen aufgebaut. Lokalpolitiker aus Südkorea streifen durch die Gänge, um sich etwas von dem Konzept abzuschauen. Im Spielzimmer krabbelt Baby Miyu, acht Monate alt, und schnappt nach einem Teddy. Shoko Ishiodori, 75 Jahre alt, sitzt wachsam daneben. Früher war sie Kindergärtnerin.

 

Jetzt ist sie eine von vielen Ehrenamtlichen, die auf die Kleinen aufpassen. „Mich macht es glücklich, dass sie hier einfach Kind sein dürfen. Alles ist entspannter, nicht so streng wie früher.“ Ihr Lächeln ist verborgen hinter ihrem Mundschutz, die Augen strahlen. Als Stadtoma fühlt sie sich gebraucht. Ihre sechs eigenen Enkel sieht Shoko Ishiodori selten, ihre Kinder sind vor Jahren nach Schweden und Bali ausgewandert. Doch im „Kinderheim“ kümmert sie sich um ungezählte Ersatzenkel.

Ein bisschen erinnert die Stadt an eine große Familie. „Das macht diesen Platz so besonders für uns“, sagt Hiromi am Abend, als ihre Kinder und sie wieder am Tisch zusammenkommen.

 

Geht es nach ihr, werden sie in Nagi groß. Nur ihre Wohnung wird langsam zu eng. Ihr Mann und sie träumen davon, ein Häuschen zu bauen. Noch schlafen sie zu sechst eng aneinander gekuschelt auf Reisstrohmatten im kleinen Schlafzimmer. Jede Ecke ist genutzt. Auf Regalbrettern über der Eingangstür stapeln sich Schuhe, aus denen die Kinder immer schneller herauswachsen.

Müde stochern sie nach dem Training auf dem Fußballplatz im Abendessen. Die Augen kleben am Fernsehbildschirm, über den ihr Mangaheld hüpft: Anpanman ist der Star der Kinder von Nagi, eine gutmütige Figur aus Brotteig, gefüllt mit Bohnen. Er verteilt sich an die Hungrigen, nährt und stärkt sie. Viele in Japan sagen, er soll den Kleinen als Vorbild dienen, zeigen, wie wichtig es ist, für die Gemeinschaft Opfer zu bringen. Es geht um das große Ganze, um Zusammenhalt, nicht nur den Einzelnen. Jeder trägt seinen Teil zum Gelingen bei.

 

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