Zukunftsfragen

Wandel der Religionskultur

Die Zahl der Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen sinkt seit Jahren. Gleichzeitig wächst der Markt für freie Trauerredner, Ritualdesigner und Hochzeitsagenturen. Auch die Nachfrage nach neueren kirchlichen Formaten wie Einschulungsgottesdiensten, Segensfeiern, Lebenswendefeiern, Jubelkonfirmationen oder Jubelhochzeiten steigt.

Was passiert derzeit in der kirchlichen und nichtkirchlichen Ritualkultur? Dieser Frage ist im Oktober 2018 eine Fachtagung an der Philipps-Universität Marburg nachgegangen. Das vorliegende Buch dokumentiert die teils überarbeiteten und erweiterten Vorträge dieser Tagung, die sich zum einen bemüht hat, die aktuelle Ritualdynamik im Überblick zu erfassen, zum anderen die gegenwärtige Praxis exemplarisch zu beschreiben, einzuordnen und zu kommentieren. Überlegungen zu Konsequenzen für die Zukunft der Kirche und ihrer Positionierung im Ritualmarkt runden den Tagungsband ab.

Deutlich wird, wie vielschichtig und komplex die Phänomene sind, die mit dem Traditionsabbruch und der Ausdifferenzierung von Lebenswelten auch in Sachen Ritualkultur einhergehen. Die Forschung über die Pluralisierung der rituellen Lebensbegleitung steht noch am Anfang. Insofern ist Provozierte Kasualpraxis eine Pionierpflanze in noch wenig bekanntem Gelände, weil hier bewusst Akteure aus dem nichtkirchlichen Ritualmarkt zum Dialog eingeladen waren. Aus ihrer Praxis berichten unter anderem eine freie Zeremonien- und Ritualgestalterin, ein Mitarbeiter eines alternativen Bestattungshauses, eine Dozentin an einer „Fachschule für Rituale“. Der Tagungsband liefert keinen Gesamtüberblick, keine fertigen Antworten und ausgereiften Konzepte, sondern regt in seinen Praxisberichten und deren wissenschaftlicher Reflexion an, sich mit den aktuellen Entwicklungen auseinanderzusetzen.

Und zu diskutieren gibt es da einiges für die verfasste Kirche: Denn nach der Analyse der drastischen Veränderungen und ihrer vielfältigen Ursachen heißt ja die nächste Frage: ignorieren oder reagieren? Wenn ja, wie? Und wer soll da eigentlich reagieren? Das Personal vor Ort mit gefälligeren Webseiten, weniger
Amts- und mehr Serviceorientierung, einem flexibleren Eingehen auf die Wünsche der „Kundschaft“ und einem größeren Angebot an neuen Kasualien? Die Kirchenkreise und Dekanate mit Tauffestinitiativen, Präsenz bei Baby- und Hochzeitsmessen, Bestattungshotlines, einer innerkirchlich gerechteren Ressourcenverteilung für Kasualhotspots, der Zusammenarbeit mit freien Agenturen? Die Landeskirchen mit Kampagnen, verbesserter Aus- und Fortbildung, der Einrichtung von Kompetenzzentren oder Kasualagenturen?

Letzteres wurde zum Zeitpunkt der Tagung vor allem in der Bayerischen Landeskirche kontrovers diskutiert. Ist es sinnvoll, ergänzend zur parochialen Gemeindestruktur, Dienstleistungsagenturen für die Vermittlung oder Feier von Taufen, Hochzeiten und Bestattungen einzurichten? Erreicht man über sie die vielen, die mit ihrer Ortsgemeinde schon lange den Kontakt verloren haben, sich aber trotzdem Segen und Begleitung auf dem Lebensweg wünschen, aber vielleicht eher mit Schlager- als mit Orgelmusik, am See und nicht in der Kirche, im Wald und nicht auf dem Friedhof? Ist so die (Selbst-)Marginalisierung der kirchlichen Lebensbegleitung zu begrenzen?

Der religionskulturelle Wandel provoziert viele Fragen rund um die Kasualpraxis. Praktisch-theologische und kirchenpolitische. Viel steht da exemplarisch zur Diskussion: das Selbstverständnis als Amts- und/oder Dienstleitungskirche, die parochialen Strukturen im digitalen Servicezeitalter, die Rolle von Haupt- und Ehrenamtlichen, die kirchlichen Kernkompetenzen und ihre Wettbewerbsfähig und -willigkeit.

Es ist das Verdienst von Ulrike Wagner-Rau und Emilia Handke, all diese Fragen im Dialog mit kirchlichen und nichtkirchlichen Praktikern pastoraltheologisch und kirchentheoretisch gesammelt in den Blick zu nehmen. Ein anregender, wichtiger Beitrag zu einer zentralen Zukunftsfrage der Kirche(n).

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