Mit Maß ins Risiko

In Sachen Seelsorge muss die Kirche wieder in die Balance kommen
Seelsorge am Krankenbett
Foto: Werner Krueper / epd

Seelsorge ist nötig – unbedingt auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen in diesen Zeiten, meint der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen. Er verwahrt sich gegen eindeutige, negative Schnellurteile und plädiert für eine neue gesellschaftliche Verständigung über Leben und Tod.

Langsam aber sicher wird deutlich, welche seelischen Folgen das „social distancing“ für die Seelsorge hat. Deshalb ist es an der Zeit, über die Seelsorge in Corona-Zeiten nachzudenken und zu diskutieren – kollegial und öffentlich. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Seelsorge von Menschen in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern (ähnliches ließe sich über Beerdigungen, aber auch über Gottesdienste und weitere Teile der kirchlichen Arbeit sagen).

Zuvor eine Nebenbemerkung: Arnd Henze hat gerade an dieser Stelle über dieses Thema geschrieben. Er benennt viele wichtige Aspekte. Vielen Dank! Allerdings mochte ich den Ton seines Textes nicht. Da schwang mir zu viel von der Selbstgewissheit eines Meinungsjournalismus mit, der selbst in größten Krisen stets weiß, was richtig ist und was andere tun sollten, um dann eindeutige, negative Schnellurteile zu fällen. Mir scheint, dass es in den Debatten dieser Zeit noch wichtiger geworden ist, welchen Ton wir anschlagen, wie wir unsere Unsicherheiten ehrlich eingestehen, aber zugleich so auf dem bestehen, was uns wichtig ist, dass andere es hören können. Den maximalen „Boris Palmer-Preis für maximale Aufmerksamkeitsökonomie“ gewinnt man so natürlich nicht. Auch in die einschlägigen Zirkel für zeitgemäßes Wutchristentum findet man damit keinen Einlass. Aber ich gebe den frommen Glauben nicht auf, dass wir mit einem nachdenklichen, tastenden, rücksichtsvollen Sprechen mehr erreichen als mit der üblichen Empörungs- und Entwertungsrhetorik.

Nun zum Thema: Inzwischen kennt fast jeder einen Menschen, der „an“ oder „mit“ Covid19 gestorben ist. Bei mir ist es ein geschätzter Amtsbruder. Vor drei Jahren musste er mit 80 Jahren in ein Pflegeheim. Die demenziellen Veränderungen waren zu stark. Doch das war nicht schlimm. Zur Überraschung seiner Familie verlebte er dort noch eine gute Zeit. Das lag an der Einrichtung, aber auch daran, dass er sich seine ausgeprägte Freundlichkeit bewahrt hatte. Dann infizierte er sich. Seine Familie entschied sich sinnvollerweise gemeinsam mit dem Arzt dafür, ihn nicht in ein Krankenhaus bringen zu lassen. So starb er friedlich in seinem Zimmer. Das war keine Tragödie. Als großes Unglück aber erlebte es seine Familie, dass niemand ihn in seinen letzten Tagen besuchen durfte: weder die Ehefrau, noch die Töchter oder ein Seelsorger. Einen zweiten Schmerz verursachten die Einschränkungen bei der Beerdigung: mit nur sechs Teilnehmenden, ohne Kapelle, bloß am offenen Grab. Vieles wird sich nachholen lassen, wenn die Lage sich entspannt hat, dies jedoch nicht.

Der persönliche Besuch ist durch nichts zu ersetzen

Heute stehen wir vor einem Dilemma: Wir müssen eine strenge und eine weiche Barmherzigkeit miteinander ausbalancieren. Streng sind die Kontaktverbote in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser aber sie sollen Leben schützen. Das leuchtet jedem ein. Aber die seelischen Folgen sind gravierend. Deshalb möchte ich an die Dringlichkeit auch der weichen Barmherzigkeit erinnern. Zu ihr gehört eine menschenfreundliche und würdevolle Kultur des Sterbens, des Todes und der Trauer. Auch sie wird durch die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung massiv in Mitleidenschaft gezogen. Das „social distancing“ betrifft – verletzt – die Art, wie Menschen sterben und dann aus dem Leben verabschiedet werden.

Über die Jahre haben wir gelernt und eingeübt, was sterbende, besonders hochbetagte und demenziell veränderte Menschen brauchen: die menschliche Nähe, ein zugewandtes Gesicht, eine freundliche Berührung. Über die Jahre haben wir auch gelernt und eingeübt, was eine sorgsame Sterbebegleitung bedeutet: Wichtiges kann mitgeteilt, Strittiges kann geklärt werden, die Jüngeren übernehmen Verantwortung für die Älteren, ein Abschied im Guten wird vielleicht möglich. Das alles ist unter Corona-Bedingungen kaum oder gar nicht möglich. Angehörige dürfen nicht mehr in Pflegeheime und Kliniken gehen. Für die Seelsorge in Pflegeheimen und Krankenhäusern sind die Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland gerade sehr unterschiedlich. Manche dürfen in die Zimmer, andere nicht. Einige werden regelmäßig getestet, andere nicht. Dabei ist der persönliche Besuch hier durch nichts zu ersetzen: am Telefon kann man mit demenziell veränderten Menschen nicht kommunizieren, über den Laptop einen Sterbenden nicht trösten oder – was besonders beglückend und gar nicht so selten ist – von ihm Trost empfangen.

Gute Gründe für Kontaktverbote

Natürlich gibt es gute Gründe für die Kontaktverbote, und die Kirchen sind gut beraten, den Empfehlungen der Fachleute zu folgen. Wie sonst sollen etwa Krankenhausseelsorgerinnen von Klinikleitungen, Ärzte- und Pflegerschaft als vertrauenswürdige Kolleginnen anerkannt werden? Auch wäre es völlig unverantwortlich, wenn Seelsorger das Virus durch ein ganzes Haus trügen (übrigens müssen einige von ihnen auch auf ihre eigene Gesundheit achten). Aber es gibt sehr gute Gründe, hier über einen schrittweisen Ausstieg aus dem Ausstieg nachzudenken. Denn oft lassen sich die Schäden, die durch die bittere Medizin der Quarantäne angerichtet werden, später nicht mehr wiedergutmachen.

Ich weiß um die Verantwortung von Klinik- und Pflegeheimleitungen, doch stellt sich mir die Frage, ob wir nicht auf dem Weg sind, Hochrisiko-Patienten zu Tode zu retten. Ein schnelle Antwort gibt es nicht, sie müsste mit medizinischen und pflegerischen Experten erarbeitet werden. Aber dies wäre unerlässlich.

Schließlich geht es hier ganz wesentlich auch um die Freiheitsrechte von Gepflegten und Betreuten. Es hat lange gedauert, bis man gelernt hat, dass auch die Mündigkeit von Gebrechlichen, Hochbetagten oder Behinderten anerkannt werden muss. Dies kann man nicht auf Dauer wieder kassieren. Das Schutzgebot muss schon sehr dringlich sein. Die Angst von Verantwortlichen vor Kontroll- und Reputationsverlust jedenfalls darf hier keine Rolle spielen.

Geht es um Vermeidung von Schuld?

Christian Braune, ein Freund, der in einem Altenheim in Aumühle (bei Hamburg) als Seelsorger arbeitet, hat es so beschrieben:

„Vielleicht geht es im Zusammenhang mit dem möglichen Tod von Bewohner*innen aber (auch) um die Vermeidung von Schuld? ‚Wir haben alles getan, was uns möglich war, wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen. Man kann uns nichts vorwerfen.‘ Heißt das im Umkehrschluss: Wenn Bewohner*innen sich infizieren, dann haben die Mitarbeitenden einen Fehler gemacht? Dann sind sie womöglich schuld am Tod alter Menschen? Und wie stehen wir dann in der Öffentlichkeit da? Sind wir Versager und kann man uns noch betagte Angehörige anvertrauen? Der tragische Fehlschluss liegt nahe, dass das hausinterne Krisenteam sich für Infektion oder Nicht-Infektion verantwortlich fühlt. Wahr ist aber, dass jede/r Bewohner*in, die bzw. der nicht unter einer gerichtlich angeordneten Vormundschaft steht, für sich selbst verantwortlich ist. Sich daran zu erinnern, vermindert den Druck auf die Mitarbeitenden und rückt die Verhältnisse zurecht.“

„Ich versuche, vorsorglich zu denken: Es kann passieren und auch bei uns infizieren sich Bewohner. Mich beruhigt der Gedanke: ‚Vielleicht werden einige sterben, mit ihrem Einverständnis oder gegen ihren Willen‘ mehr als die Beschwörung: ‚Das wird bei uns bestimmt nicht passieren!‘ Jeder Abschied von einem Menschen, mit dem man verbunden ist, ist traurig. Aber der Gedanke öffnet in mir einen inneren Raum gegen die Tabuisierung des Corona-Todes, in dem es möglich ist, den Tod zu denken, ohne dass er eine Katastrophe und ein Versagen ist. Denn es gibt ja überhaupt nicht ‚den‘ Tod, sondern viele sehr unterschiedliche: Den erhofften und den gefürchteten, den lange erwarteten und den plötzlich eintretenden, den erlösenden und den zerstörenden, den sanften und den brutalen, den Tod viel zu früh und den Tod viel zu spät. So versuche ich mir, die Freiheit zu bewahren, hinzuschauen. Wenn man so will, ist das meine österliche Übung. Für sie hoffe ich auf Mut. Oft fehlt er mir allerdings.“

Soweit mein Freund Christian Braune.

Für eine dauerhafte, bessere Regelung braucht es neben klugen Absprachen eine neue gesellschaftliche Verständigung über Leben und Tod. Wir haben das Altern und Sterben ja weitgehend „ausgelagert“, so dass viele Deutsche keine Erfahrungen und damit keine realistischen Einschätzungen haben. Sie reagieren schockiert, wenn sie skandalisierende Berichte über Covid19-Tote in Altenheimen sehen. Manche erstatten Strafanzeige. Natürlich muss in solchen Einrichtungen sorgsam gearbeitet, muss Fehlverhalten geahndet werden. Aber wenn wir mehr Besuche und eine Sterbebegleitung ermöglichen wollen, müssen wir auch – in Maßen – das Risiko akzeptieren, dass mehr hochbetagte Menschen in Pflegeeinrichtungen sterben. Dazu übrigens sind diese Einrichtungen ja unter anderem auch da: dass Menschen hier unter einer guten pflegerischen Begleitung sterben können.

Zum Schluss: Richtig gute Ideen haben es an sich, dass man nicht allein auf sie gekommen ist. Eine große Freude sind für mich zurzeit die Gartenkonzerte, die eine Nachbarin organisiert (ich helfe ein bisschen dabei). Sie hat das „Hausorchester“ meiner alten Kirchengemeinde geleitet. Deshalb haben wir über die Not ihrer Ensemblemitglieder beraten, denen durch die abgesagten Kirchenkonzerte wichtige Einnahmen weggefallen sind. Dieses Thema hat mich sehr beschäftigt. Jetzt geben einige ihrer Musiker in den Gärten und Innenhöfen christlicher Pflegeheime in der Nachbarschaft Freiluftkonzerte. Die alten Menschen hören am Fenster zu, am Ende singen alle ein Lied zusammen. So wird beiden Seiten geholfen. Wie schön, dass es solche Konzerte an vielen Orten in Deutschland gibt.


 

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.


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