Nie mehr normal sein

Warum wir uns die Kirche vor Corona nicht zurückwünschen sollten
Füße eines Tänzers
Foto:epd
Wenn der Weg zurück ins Alte weder möglich noch wünschenswert ist, dann bleibt uns nur Freestyle. Auch in der Religion

Endlich wieder Gottesdienst feiern, endlich wieder in den alten Rhythmus zurückkehren. Viele sehnen sich zurück nach kirchlicher Normalität. Aber war diese wirklich erstrebenswert? Nein, meint der Schweizer Pfarrer Uwe Habenicht. Wir sollten lieber diese Krise zum Ausgangspunkt nehmen für Expeditionen ins Neue.

Die Sehnsucht nach Normalität steigt. Wir wollen zurück ins alte Leben. Endlich soll alles wieder sein wie vorher als Corona noch eine Angelegenheit irgendwo weit weg in einer chinesischen Provinz war und unseren Alltag nicht tangierte. Und natürlich gibt es auch viele in den Kirchen, die sich nach der alten Normalität sehnen: Endlich wieder Gottesdienst feiern, endlich wieder in den alten Rhythmus zurückkehren. Nach wochenlangem Gottesdienstfasten ist eine solche Sehnsucht durchaus verständlich. Und doch frage ich mich: Wollen wir wirklich zurück? Verklärt uns die Sehnsucht den Blick auf das Vergangene vielleicht ein wenig zu sehr? Die Realität unseres kirchlichen Alltags war ja nicht nur strahlend schön. Die leeren Bänke am Sonntagmorgen drückten vielen Verantwortlichen Sonntag um Sonntag aufs Herz und aufs Gemüt. Pfingsten waren die meisten in den vergangenen Jahren irgendwo unterwegs, nur die Nicht-Mehr-Mobilen blieben daheim und von denen kamen die Üblichen zehn. Gar nicht so einfach, mit diesen zehn das pfingstliche Brausen im Gottesdienst zu feiern und zu erleben.

Wenn wir die derzeitige Situation ehrlich betrachten, ahnen wir, dass es ein einfaches Zurück in die alte Normalität ohnehin nicht geben wird: Abstandsregeln und beschränkte Gruppengrößen, die weiterhin erhöhte Gefahr für die Gesundheit von Risikogruppen – all das, wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Natürlich können wir Bänke freilassen und Sitzplätze nummerieren und unter dem Mundschutz beim Singen mitbrummen. Von Normalität aber ist all das weit entfernt, zumal die kirchliche Hauptklientel zur Risikogruppe gehört und möglicherweise aus Sorge vor Ansteckung dem Gottesdienst fernbleibt.

Warum also nicht diese Krise zum Ausgangspunkt nehmen für Expeditionen ins Neue?

Fernweh nach Zukunft

Unglaublich viele Kirchgemeinden haben mit staunenswerter Phantasie und großem Einfallsreichtum Neues entwickelt und probiert. Verschwindet das alles nun wieder, weil wir zurück können in die vertraut ungeliebte alte Normalität, weil die Sehnsucht nach dem Alten grösser ist als das Fernweh nach Zukunft? Ich hoffe nicht.

Denn jetzt dürfen wir grundsätzlich neu nachzudenken über die Formen und Formate, die wir unseren Zeitgenossen anbieten und die dann vielleicht auch nicht nur Menschen ab 70 erreichen. Nie war die Chance so groß, den Staub der letzten Jahrzehnte mit Schwung und Erleichterung abzuschütteln und mutig Neues zu wagen. Wann, wenn nicht jetzt, setzten wir die Expeditionen ins Unbekannte fort, die wir in der saeculum coronae begonnen haben.

Kurz gesagt: Jetzt ist Freestyle! Wenn der Weg zurück ins Alte weder möglich noch wünschenswert ist, dann bleibt uns nur Freestyle.

Lernen von 1968

Es ist eine Chance, ohne den Widerstand der Vergangenheitsverliebten nach vorn zu blicken, spielerisch und leicht neue moves zu probieren. Jetzt ist Freestyle – jetzt ist Zeit für die längst überfällige 68er-Transformation, also für das Platzschaffen in der Kirche für all die Werte, die sich mit den Aufbrüchen in der 1960ereJahren verbinden und die in der Kulturrevolution 1968 unübersehbar geworden sind:„Sehr schematisch beschrieben geschah im 1960er-Wertewandel ein Dreifaches: „Alte“ Werte wie Gehorsam, Unterordnung, traditionelle Geschlechter- und Sexualitätsnormen wurden zerstört. „Konstante“ Werte wie Pflichtbewusstsein, Erfolgsstreben, Ehrlichkeit, gute Manieren wurden zwar in der Hitze des 1968er Gefechts auch abgelehnt, setzten sich aber langfristig durch und wurden insgesamt beibehalten. „Neue“ Werte wie Selbstentfaltung, Individualismus, Kreativität kamen zum Wertekanon hinzu und setzten sich in der gesamten Gesellschaft durch … Eine Mehrheit der Bevölkerung – die Distanzierten und Säkularen – lehnten die alten Werte vehement ab und sahen die konstanten und neuen Werte als prinzipiell unabhängig von Religion und Spiritualität. Um diese Werte zu vertreten, musste man nicht religiös sein.“ ( J. Stolz u.a.: Religio und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens, Zürich 2014, 125).

Eine Post-68er Kirche muss sich nicht nur eindeutig von autoritären und dogmatischen Zwangsstrukturen abgrenzen, sie muss auch zeigen können, dass sie den Individuen der optionalen Ich-Gesellschaft etwas zu bieten hat, das diesen hilft. Zum Beispiel Widerstandskräfte gegen den Druck der Konkurrenz- und Singularitätsgesellschaft zu entwickeln, individuelle Übergangs- und Umbruchsphasen zu überstehen und dem eigenen Ich Grundorientierungen zu geben. Und das alles durch das Nadelöhr der Selbstbestimmung zu fädeln. Nur eine solche Post-68er-Kirche wird langfristig die wachsende Gruppe der distanzierten und säkularen Zeitgenossen gewinnen können. Nur eine Spiritualität, die es vermag, durch die individuellen und gesellschaftlichen Krisen der Zeit zu tragen, ist für unsere Zeitgenossen attraktiv und relevant.

Eine solche Spiritualität nenne ich „Freestyle Religion“, weil sie eigensinnig und individuell verschieden jenseits dogmatischer Vorgaben aus der je individuellen Lebenssituation des Einzeln heraus entstehen muss. Die Aufgabe der Kirchen wird in erster Linie darin bestehen, Erfahrungsräume und Sensibilität für die Grundelemente einer solchen Spiritualität zu schaffen. Aus der psychologischen Sinnforschung, der soziologischen Resonanztheorie und Lerntheorien wie dem Zürcher Ressourcen-Modell wissen wir inzwischen, welche Bedingungen und Elemente das Gelingen des Lebens wahrscheinlich machen. Dieses Wissen muss in Projekte und Formen kirchlichen Handelns einfließen und zur Geltung kommen.

Nicht mehr zurück

Angesichts der Vielgestaltigkeit und bunten Unübersichtlichkeit einer Multioptionsgesellschaft braucht es adäquate Formate, in denen Vielstimmigkeit und freie persönliche Aneignung hinreichend Raum haben. Solche Formate gilt es jetzt mutig und kooperativ zu entwickeln – und zwar nicht nur links und rechts neben dem Hauptgottesdienst am Sonntag, sondern gerade in der zentralen Äußerungsform Gottesdienst. Die Verschränkung von individueller Spiritualität, Gemeinschaftsformen und gemeinwohlorientiertem Engagement muss in solchen Formen greifbar und erlebbar werden.

Der Digitalisierungsschub der letzten Wochen sollte nicht verloren gehen, wenn partizipative Mitgestaltung, bessere Zugänglichkeit und lebensdienliche Orientierung darin zu finden sind. Meine eigenen Erfahrungen der Vergangenen Jahre und Wochen mit Projekten wie predigtfreien Gottesdiensten, Waldkirche oder der Corona-Bibel-Initiative machen Mut, den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen. Denn zurück können wir ohnehin nicht. Und wollen es auch nicht.

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Foto. privat

Uwe Habenicht

Uwe Habenicht, reformierter Pfarrer in St. Gallen Straubenzell (Schweiz) und Autor.  Zuletzt erschien von ihm „Draussen abtauchen“. Freestyle Religion in der Natur, Echter 2022.


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