Frischer Blick

Luthers Schriftenlehre

Die lutherische Lehre vom Wort Gottes ist komplexer und in sich dialektischer, als es die Formel „sola scriptura“ – und vor allem ihr fundamentalistisches (Miss-)Verständnis – auf den ersten Blick erkennen lassen. Die kritische, bisweilen sogar spöttisch gemeinte Anfrage, ob mit dem lutherischen Schriftprinzip nicht faktisch doch ein „papierener Papst“ installiert worden sei, markiert deutlich, dass die Frage, was das lutherische Schriftprinzip genau besagt, der Erklärung bedarf.

Simon Kuntze leistet mit seiner jüngst erschienenen Dissertation zum Thema „Die Mündlichkeit der Schrift. Eine Rekonstruktion der lutherischen Schriftlehre“ einen wertvollen Beitrag zu einer solchen Klärung. Dabei legt der Potsdamer Pfarrer den Fokus auf die Gewissheit vermittelnde Autorität der Schrift in der Doppelperspektive von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Mündlichkeit ist bei ihm nicht auf ein akustisches Phänomen begrenzt. Die Mündlichkeit des Evangeliums bezeichnet die Lebendigkeit, die gegenwärtige, öffentliche, menschliche Herzen ergreifende Wirksamkeit des biblischen Wortes und damit die Gegenwart Gottes selbst. Darauf zielt der paradox anmutende Titel Die Mündlichkeit der Schrift.

Auch die Formel „sola scriptura“ kann (und soll) nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine bloß äußerliche Berufung auf die Schrift nicht ausreicht. Jeder biblische Text – wie alle Texte – bedarf der Auslegung. Eine Auslegung wird aber nur dann dem als Autorität verstandenen Text der Heiligen Schrift gerecht, wenn die Deutung nicht „im eigenen Geist“ des Auslegers und „seiner Klugheit“ geschieht. Darin sind sich Luther und das Tridentinum einig. Aber wie das genau zu denken ist, darin unterscheiden sie sich markant. Katholisches Denken läuft auf die „ordnende Autorität der Kirche und Tradition“ hinaus. Im Gegensatz dazu betont Luther die Selbstauslegungsfähigkeit der Schrift und stellt damit sicher, dass nicht die „Kirche zum sanktionierten Träger der rechten Auslegung“ wird. Die Autorität der Schrift ist in ihr selbst begründet.

Kuntze zeigt, wie Luther die Klarheit der Schrift, genauer: die Klarheit des Evangeliums, voraussetzt, und die Aufklärung der dunklen Stellen des Bibeltextes sich aus der schriftinternen Klarheit ergibt und nicht der Erleuchtung durch kirchliche Tradition und Lehramt bedarf. Die durch die Schrift selbst angeleitete Unterscheidung von „Schatz und irdenem Gefäß“ macht die Auslegung der Schrift zu einem unabschließbaren Ringen, das nicht durch einen „ekklesiologischen Fixpunkt“ stillgestellt wird. Das Evangelium drängt auf jeweils neue mündliche Auslegung, persönliche Aneignung und Übernahme durch die Hörer. Deutlich arbeitet Kuntze aber auch heraus, dass die Betonung des Aspektes der Mündlichkeit die Bedeutung der Schriftlichkeit nicht schwächt. Denn: Das mündliche Wort kann sich verflüchtigen, subjektiv vereinnahmt werden. Deshalb bedarf es dessen, dass das Schriftliche die Reinheit des Evangeliums zu sichern und festzuhalten hilft. Die Schriftlichkeit dient der Überlieferung jenseits fehlbarer menschlicher Autoritäten. Gegen Papst und Schwärmer hat Luther in seiner Zeit nachdrücklich die Schrift betont. Aber das Schriftliche kann auch erstarren, kann dazu führen, das lebendige Evangelium „ad acta“ zu legen. Es braucht beides: Es geht um die „Mündlichkeit der Schrift“.

Kuntze profiliert das lutherische Schriftverständnis, indem er es im Blick auf zum Beispiel die Kontroverse von Luther und Erasmus, sprachtheoretische Erwägungen und neuere theologische Entwürfe erläutert. Sein Buch erlaubt einen differenzierten und frischen Blick auf das lutherische Verständnis des Umgangs mit der biblischen Überlieferung.

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