"Schlimm, aber mich betrifft das nicht"

Warum Sucht zum Leistungsprinzip unserer Gesellschaft gehört
Edvard Munch (1863-1944): "Der Tag danach", 1894.
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Edvard Munch (1863-1944): "Der Tag danach", 1894.

Sie arbeitete 25 Jahre als Texterin in Werbeagenturen.Heute ist Andrea Noack freiberufliche Autorin und hat ihre Alkoholabhängigkeit überwunden. Unter dem Motto „Nüchtern ist das neue cool“ bloggt die Hamburgerin über Alkoholsucht, Abstinenz und schönes Leben.

Mein Weg in die Schule führte mich jeden Tag an einem Haus vorbei, dessen Fassade mit einem kleinen Gemälde geschmückt war. Es zeigte einen Bauern, der seinen Pflug durch ein Ährenfeld schob, und eine betende Frau. Die Überschrift „ora et labora“ fasste die Szene zusammen. Jedes Mal, wenn ich unsere kleine Straße verließ, sah ich dieses Bild. Es war wie ein Branding, nicht anders, als hätte an dieser Wand ein großes Markenlogo geklebt, und es war ein Symbol für die protestantische Arbeitsethik, mit der ich aufgewachsen bin. Auch im Alltag bekam ich mit, dass Arbeit für die Erwachsenen das Wichtigste auf der Welt sein musste. Sie schunden sich zwar nicht mehr mit dem Pflug über den Acker, doch sie hatten immer irrsinnig viel zu tun. Viele hatten kleine oder mittlere, manche große Unternehmen. Wir, die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsjahre, ich bin Jahrgang 1958, sogen das Leistungsprinzip praktisch mit der Muttermilch ein. Aber auch heute noch kennen viele Menschen, die in ein leistungsorientiertes Milieu hineingeboren wurden, die heimliche Angst, nur durch Leistung etwas wert zu sein. Oft entwickeln sie Glaubenssätze wie: Was ich liefere, muss perfekt sein. Oder: Ich muss noch mehr arbeiten. Ein Klassiker, insbesondere bei Frauen: Ich bin nicht gut genug.

Most zum Feierabend

Auf der anderen Seite des Leistungsprinzips steht dasVersprechen: Wer hart arbeitet, kann alles erreichen. „Leiste du erst mal was!“ Dieser Satz konnte uns Kindern des Wirtschaftswunders schon mal um die Ohren fliegen, wenn wir frech wurden. Und das wurden wir. Als ich in der siebten Klasse Latein bekam und „ora et labora“ endlich selbst übersetzen konnte, fand ich den Spruch schon richtig doof. Ich wollte nicht nur beten und arbeiten, ich wollte Spaß haben. Für den Spaß waren bei den Erwachsenen allerdings nur der Feierabend und das Wochenende reserviert.

Ein untrügliches Zeichen für den Feierabend war der blaue Mostkrug, mit dem mein Vater nach einem langen Arbeitstag aus dem Keller kam. Er war gefüllt mit dem selbst gekelterten Apfelmost, der, mit Sprudel verdünnt, das Standardgetränk
zum Vesper war. Später, als es keine Streuobstwiesen mehr gab und der Most aus der Mode gekommen war, gab es eine Flasche Bier. Oder eine Flasche Wein.

Fröhlich sein nur abends und am Wochenende? Das war mir zu wenig. Ich wollte Freiheit und Abenteuer, und zwar den ganzen Tag. Doch mein Aufbegehren gegen das Leistungsprinzip, hauptsächlich mit zerrissenen Klamotten und schlechten Noten, hielt nicht lange an. Schon im Studium hatte ich meinen Protest wieder vergessen und legte Wert auf einen guten Abschluss. Denn Leistung hatte auch Vorteile. Plötzlich hieß es, Mädchen dürfen alles und können alles. Seit 1977, da war ich neunzehn, mussten wir keinen Ehemann mehr fragen, wenn wir berufstätig sein wollten. Wir waren sodann nämlich gleichberechtigt. Dass dies nur so lange gelten sollte, bis wir ein Kind bekommen oder eine bestimmte Karrierestufe erreicht haben, wusste ich damals noch nicht.

1978 erschien das Buch von Christiane F. Wir Kinder vom Bahnhof  Zoo. Ich verschlang es in einer Nacht. Fasziniert von dieser anderen Welt, verfolgte ich wie eine Voyeurin gebannt das Schicksal des armen Mädchens, das in eine grauenvolle Drogensucht hineingerutscht war. Ich konnte nicht verstehen, warum sie nicht einfach wieder damit aufhörte. War ein Entzug wirklich so fürchterlich? War es tatsächlich schlimmer, auf Heroin zu verzichten, als sich zu prostituieren, um welches kaufen zu können? Mir würde so etwas jedenfalls nicht passieren. Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern, wie weit weg das Thema Sucht von mir damals war. Denn eines war mir nach der Lektüre klar: Heroin würde ich niemals auch nur ansehen, geschweige denn konsumieren.

Wie eine zuschnappende Mausefalle

Immer, wenn ich mit dem Thema Sucht konfrontiert war, sei es in den Medien oder im Freundeskreis, war ich mir sicher, dass dieses Thema nichts mit mir zu tun hatte. Sucht war etwas, das sich auf Drogen begrenzte. Und höchstens bei anderen vorkam. Das betrifft mich nicht, war der Grundgedanke,den ich zum Thema Sucht hatte, seit ich denken kann. Examen bestanden. Sehr gut. Das musste gefeiert werden. Es gab ein kleines Studentencafé, das Sekt in Flaschen auf der Karte hatte. Das waren etwa sechs kleine Gläser. Die konnte man sich gut teilen. Jeden Tag kam eine Kommiliton aus der Prüfung raus. Jedes Mal feierten wir. Der Wirt rieb sich die Augen und freute sich über seinen Umsatz.

Doch der Mensch ist für die Sucht gebaut. In dem Moment, in dem etwas, das im Gehirn ein bestimmtes Glücksgefühl auslöst, rund um die Uhr verfügbar ist, kann er schneller süchtig danach werden, als eine Mausefalle zuschnappt. Es fängt ganz harmlos an. Wir konsumieren „Etwas“ und bekommen gute Laune. Wunderbar. Alles kein Problem, solange das „Etwas“ nicht ständig verfügbar ist. Dann muss sich das Gehirn eben damit abfinden – nix mehr da, und das Leben kehrt wieder auf Normallevel zurück. Das hat doch jahrhundertelang gut funktioniert. „Etwas“ ist aus? Der Sonntagsbraten aufgegessen? Kein Problem. Zurück in den Alltag. Arbeiten. Essen. Schlafen. Bis es wieder „Etwas“ gibt. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es nie mehr einen Mangel an irgend „Etwas“.

Nicht einmal durch die Corona-Krise. Es gab und gibt immer alles, und das nicht nur in ausreichender Menge, sondern in obszön übertriebener Masse und ausgekochter Vielfalt. Deshalb kann jeder von allem abhängig werden, was im Gehirn diesen kleinen Glückskick auslöst. Ob das der nächste Klick in die Facebook-Timeline ist oder das nächste Glas Rotwein. Der Blick auf das Smartphone, die Tafel Schokolade, die nächste Folge der Lieblingsserie, das nächste Bier, die nächste Tüte Chips. Weil immer endlos viel Nachschub da ist. Es ist einfach nie Schluss. Wenn von Alkoholabhängigkeit die Rede ist, taucht oft der Begriff vom „Wirkungstrinken“ auf. Zur Entspannung oder zur Überwindung von Schüchternheit. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen. Ich trank doch nicht wegen der Wirkung. Nein, ich trank, weil es mir Spaß machte. Weil es lustig war, weil es gesellig war, weil es dazugehörte, weil jeder es machte. Weil es schmeckte. Weil ich es mir verdient hatte.

Erster Job. Werbetexterin. Ich lernte, dass Ideen für Werbekampagnen zu entwickeln und Texte für bestimmte Produkte zu schreiben, hochkomplexe und intellektuell anspruchsvolle Tätigkeiten sind, die einem viel Respekt verschaffen, wenn man es kann. Gleichzeitig ist ein großer Druck damit verbunden, immer liefern zu müssen, ganz egal ob man unter Liebeskummer leidet oder einem einfach mal nichts einfällt. Aber jetzt kommt der Background ins Spiel. Jemand, der vom Leistungsprinzip und einer strengen Arbeitsethik durchdrungen ist, lässt sich auch gern mehr auf den Tisch legen. Viel mehr. Ein Glas Rotwein am Abend hilft hervorragend zu kompensieren. Den Druck, Ideen haben zu müssen. Den Zeitdruck, fertig werden zu müssen. Den Anspruch, einen perfekten Job abliefern zu wollen. Auch zu Hause. Ich hatte allerdings nicht geahnt, wie hinterlistig meine Bereitschaft, alles zu geben, in der Arbeitswelt ausgenutzt werden würde. Das kannst du besser. Ja, natürlich. Also nochmal ran. Bist du etwa nicht belastbar? Doch, klar, ich schaffe das. Und wenn ich mich in Einzelteile zerlege. Teil eins entwickelt Kampagnenideen, Teil zwei schreibt eine Broschüre, Teil drei denkt sich einen Werbespot aus, Teil vier macht die Powerpoint-Präsentation und Teil fünf arbeitet den Mental Work Load von zu Hause ab. Nur einkaufen muss ausfallen, essen gehen stattdessen. Und dazu gibt es eine Flasche Rotwein.

Schöne neue Arbeitswelt

Es war schon zu meiner Zeit krank und ist immer krasser geworden, wie der Arbeitnehmer von angeblich wichtigen, unbedingt zu erledigenden Aufgaben unter Druck gesetzt wird. Und es wird noch schlimmer kommen, denn durch die Digitalisierung werden Millionen Jobs verloren gehen. Um die Jobs, die es dann noch gibt, werden sich alle noch heftiger prügeln müssen. Und wenn jemand einen davon hat, muss er oder sie sich alles gefallen lassen, damit er nicht rausgeworfen und durch die Nächste oder den Nächsten ersetzt wird. Wo soll das hinführen? Wollen wir das?

Heute frage ich mich, warum ich diese Spirale der Selbstausbeutung nicht gestoppt habe, bevor ich krank wurde. Warum ich nicht schon viel früher gerufen haben: Schluss jetzt. Ich kann nicht mehr. Und ich will das vor allem nicht mehr. Doch im durchgetakteten Multitasking-Alltag gab es kein Innehalten, keinen Raum für solche Gedanken. Bevor sie auftauchten, waren sie schon mit einem Schluck Rotwein weggespült.

Natürlich stellte auch ich mir irgendwann die Frage: „Trinke ich zu viel?“ Was schon allein ein deutliches Kriterium für einen kritischen Alkoholkonsum ist. Das wird daran deutlich, dass umgekehrt jemand, der einen moderaten Alkoholkonsum pflegt, sprich: ab und zu ein Glas Wein oder ein Bier oder auch ausnahmsweise mal ein paar mehr trinkt, sich wohl kaum fragen muss, ob er oder sie zu viel trinkt.

Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Was aber ist Sucht anderes als entgleister, völlig außer Kontrolle geratener Konsum? Wäre es angesichts der Corona-Krise nicht der richtige Zeitpunkt, unsere Konsumgesellschaft radikal in Frage zu stellen – eine ganz andere Form der Prävention vorzunehmen, die berücksichtigt, dass wir alle in irgendeiner Form von Sucht betroffen sind? Noch schlimmer ist, dass Konsum häufig alle möglichen Gemeinschaften ersetzt. Wenn ganz normale Jungs, statt mit ihren Freunden auf dem Bolzplatz zu kicken, alleine vor dem Computer sitzen und sich eine zweite Identität aufbauen, in der sie die Helden sind, hat das auch etwas damit zu tun, dass sie in der realen Welt keine Gemeinschaft haben, bei der sie das Gefühl haben, dazuzugehören.

Also, was tun? Leistungswahnsinn beenden. Ausbeutung und Selbstausbeutung stoppen. Konsum auf ein vernünftiges Maß herunterschrauben. Bereichernde, kleine und große Gemeinschaften aufbauen. Dann brauchen wir zumindest keine Süchte mehr, um uns zu entspannen oder Helden zu sein.

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Foto: Urban Zintel

Andrea Noack

Andrea Noack arbeitete viele Jahre als Werbetexterin. 2019 veröffentlichte sie ihr Buch "Die Beste schläft. Meine Alkoholsucht und wie ich sie überwand." Weitere Infos: www.andreanoack.de 


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