Wie eine Generalprobe für Schlimmeres

Warum wir uns nicht an die Beschränkung unserer Freiheit gewöhnen dürfen
Abstandsregel
Foto: dpa/Geisler-Fotopress

Der Kampf gegen die Corona-Pandemie ging auch in Deutschland mit drastischen Einschränkungen grundgesetzlich geschützter Freiheiten einher. Für Vladimir Balzer, Redakteur und Moderator beim Deutschlandfunk Kultur, wurde ein Alptraum Wirklichkeit, der sich nicht wiederholen darf.

Januar

Das Jahr hatte gerade erst begonnen, als es aus einem Land, in dem Demokratie und Freiheit keine Rolle spielten, verstörende Nachrichten gab. Aus Wuhan in China wurde berichtet, dass hunderttausende Menschen ihre Wohnung nicht verlassen durften. Wuhan ist eine dieser vielen chinesischen Millionenstädte mit schnell gebauten Hochhäusern. An so einem Ort kann sich ein Virus schnell ausbreiten. Die Stadt wurde geschlossen, es war keine Bewegung mehr möglich. Die Menschen mussten zu Hause bleiben. Das war die Zeit, als dort die Bürgerchöre entstanden und westliche Öffentlichkeit mitfühlte mit dem Schicksal der Bewohner.

Städte abriegeln, wenn sich ein unbekannter Virus ausbreitet – das war also eine Option. Aber könnte es ähnlich auch in Deutschland laufen? Wäre das mit unserem Recht vereinbar? Würden wir Deutschen es uns gefallen lassen, wenn man uns zu Hause einsperrt? Für mich waren das theoretische Fragen, das Problem war weit weg, es würde gar nicht so weit kommen. Unsere Freiheit stand nicht zur Debatte.

Februar

Der Brexit war vollzogen, die Europäische Union war kleiner geworden und an die Flüchtlingslager an ihren Rändern hatte man sich gewöhnt. Dort war die Lage nicht schön, aber was sollte man von hier aus schon tun? Man konnte es bedauern, mehr schien nicht möglich. Das Weltklima war wichtiger. Seit Monaten hatten Jugendliche in der ganzen Welt immer freitags demonstriert, sie wollten, dass die Politik mehr tut für den Schutz der Natur. Die Regierung unter Kanzlerin Merkel reagierte zögerlich, viele waren enttäuscht von ihrem Klimaplan, aber es ging voran, nur eben in kleinen Schritten. Es war klar: Der Druck von der Straße würde nicht nachlassen. Die nächste Generation, die demonstrierte, wollte sich beteiligen, wollte mitreden, war wütend, wollte etwas verändern. Es ging um Grundfragen der Demokratie.

Die Älteren dachten dabei auch an etwas anderes. Schon seit dem Jahr davor war immer wieder die Rede von der Friedlichen Revolution. Vor dreißig Jahren hatten Menschen sich nicht mehr verbieten lassen, Freiheit und Demokratie zu verlangen. Sie wollten reisen, wohin sie wollten, sie wollten ihre Meinung sagen, wo und wie sie wollten, sie wollten eine Regierung auch abwählen können, wenn es nötig war. Sie wollten nicht mehr alles akzeptieren, was von Staat und Regierung kam. Sie riskierten viel dafür. Ihnen hatte das Deutschland von heute so viel zu verdanken, sie waren auch Erneuerer für den Landesteil im Westen. Dreißig Jahre Friedliche Revolution, dreißig Jahre Deutsche Einheit, es sollten Monate werden, in denen Freiheit und Demokratie gefeiert werden würden.

Der Winter ging ins Land, die Familien kamen zurück aus dem Skiurlaub, der Virus in China war vergessen, Ende Februar wurde von ein paar Infektionen in Bayern berichtet, aber das war schnell eingedämmt. Es bestand keine Gefahr. Das Leben ging weiter.

Aber was war da in Italien los? Es gab immer mehr Meldungen darüber, dass der Virus nun also doch in Europa angekommen war. Plötzlich gab es tägliche Statistiken, besorgniserregende Kurven, Zahlen, die nichts Gutes verhießen. Der neue Virus war in Bayern, er war in Baden-Württemberg, er war in Nordrhein-Westfalen. Die Krankheit hatte Deutschland erreicht, und nun war Wuhan wieder nahe. Die Angst wurde stärker. Wie schlimm würde es werden?

März

Das Vertrauen der Deutschen in das Funktionieren ihres Staates ist recht groß, gerade im Vergleich zu anderen Ländern. Es sollte doch ohne größeren Aufwand möglich sein, eine Gesundheitsgefahr zu bannen, das dachte auch ich.

Der März war da, der Virus verbreitete sich in Europa, aber so etwas wie die Leipziger Buchmesse konnte in keinem Fall abgesagt werden. Für mich war diese Messe ein unverrückbares Ritual, seit meiner Kindheit. Die Älteren erzählen davon: Sie sei immer ein Ort des freien Geistes gewesen, auch zu Zeiten der DDR. Sie musste stattfinden. Dann kam der 3. März. Auf meinem Smartphone öffnete sich eine Eilmeldung. Im Grunde begriff ich zum ersten Mal, in welcher Lage sich das Land befand. Die Leipziger Buchmesse war abgesagt. Das können sie doch nicht machen, das ist übertrieben! Es sollte ein Gedanke sein, der mich noch lange verfolgte.

Am selben Tag führte ich ein Interview mit dem Leiter eines großen renommierten Verlags. Er war der Erste, der aussprach, was ich später immer wieder hören sollte. Er sagte, nutzen wir diese Pause. Ich verstand nicht sofort, was er meinte. Die Pause nutzen? Wofür? Für seine Autorinnen und Autoren brach gerade eine wichtige Vermarktungsbühne weg, es würde – wer weiß wie lange – keine Lesungen mehr geben, vielleicht würden auch bald Buchhandlungen schließen, es war nicht klar, wie es weiterging mit der Buchbranche. Doch er sprach von einer Pause, die man nutzen sollte.

Ich frage mich heute, ob es damals, ganz zu Beginn der Pandemie in Deutschland, schon Leute gab, die dieses Anhalten einer gesamten Gesellschaft schon immer wollten. Denen alles zu schnell gegangen war, die weniger unterwegs sein wollten, die eine Pause brauchten, die dankbar waren für diesen Einbruch in ihr Leben.

Mir waren solche Gedanken fremd. Ich verstand die Sehnsucht nach einem langsameren, stärker hinterfragten Leben. Aber ich wollte selbst darüber bestimmen. Niemand sollte das für mich tun. Ich verstand nicht, wie man sich für die Verlangsamung seines Lebens durch andere bedanken konnte. Und wie man staatliche Entscheidungen nicht hinterfragen wollte. Die Eilmeldungen auf meinem Telefon rissen inzwischen nicht mehr ab. Die Zahlen der Infizierten und der Toten machten allen Angst, die Zahlen waren der Gradmesser unseres Lebens, und sie wurden immer schlimmer. Ende März waren sechzigtausend Deutsche infiziert, über fünfhundert waren tot. Ich begann zu begreifen, dass genau diese Zahlen mein Leben in den nächsten Wochen bestimmen würden.

Viele Virologen und wenige Virologinnen waren jetzt gefragte Leute. Es fühlte sich langsam so an, als würden sie regieren und nicht die gewählten Politiker. Die Virologen waren nicht gewählt, sie konnten sich sogar teilweise irren, aber sie waren mächtig. Soziologen, Philosophinnen, Wirtschaftswissenschaftler, Psychologinnen – von diesen Disziplinen hörte man kaum etwas, das auf ein Gesamtbild der Gesellschaft schließen ließ. Mir kam das in einer Demokratie seltsam vor.

Der März ging zu Ende, und ich begann, immer mehr zu hoffen, nur in einem bösen Traum zu sein. Was ich jetzt sah, konnte einfach nicht die Wirklichkeit sein. Geschlossen waren Kitas, Schulen, Universitäten, Theater, Kinos, Konzertsäle, Opernhäuser, Restaurants, Cafés, Hotels und die meisten Läden. Flugzeuge blieben am Boden, Grenzen wurden dicht gemacht, man konnte nirgends mehr hinreisen. Das gesellschaftliche Leben war wie eingefroren.

Ich schrieb einen Text, es war kein rein journalistischer Kommentar, es war eher eine Glosse, fast ein Hilferuf. Darin hieß es, dass wir uns keinesfalls an diesen Zustand der Unfreiheit gewöhnen dürften, dass wir jeden Tag, an dem die Pandemie-Regeln gelten, als schmerzhaft zählen und als Verlust wahrnehmen müssten. Ich sprach von einer Gefahr für die Demokratie, und ich erinnerte an die Feierlichkeiten zu dreißig Jahren Deutsche Einheit. Ich schrieb davon, dass ich dieses Land nach der Pandemie noch wiedererkennen will. Selten habe ich so viele Reaktionen auf einen Text bekommen. Sehr viele waren dankbar für jemanden, der es „endlich“ mal sagt, der die Werte hochhält, die gerade unterzugehen drohten. Andere wünschten mir die Krankheit an den Hals, damit ich verstünde, was Corona bedeutet. Es hieß, man könne wohl für ein paar Wochen Unfreiheit aushalten, um eine Pandemie einzudämmen, ich solle mich mal „nicht so anstellen“ und an die Opfer denken. Wieder andere störten sich an dem von mir geforderten „demokratischen Widerstandsgeist“. Ja, ich war damit weit gegangen, der Text war ein Ausbruch, er war reine Wut, er war der Versuch, einen Schock zu verarbeiten. Ich würde ihn heute nicht mehr so schreiben, aber damals fühlte es sich so an, als ob Demokratie und Freiheit ernsthaft in Gefahr waren. Keiner konnte damals sagen, wie lange dieser beängstigende Zustand anhalten würde. Es gab keine Perspektive, und niemanden schien das zu stören.

April

Es war die Stunde der Exekutive. Es wurde viel ausgeführt und nur wenig kontrolliert. So schien es. Wo waren die Gerichte? Wo waren die Parlamente? Wo blieb die Diskussion? Das Land wirkte paralysiert. Ich verstand nicht, wie schnell die Menschen hierzulande bereit waren, auf grundlegende Dinge zu verzichten: Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Erfüllung der Schulpflicht. Nichts davon galt mehr, und wieder der Eindruck: Es schien kaum jemanden zu stören. Die Freiheit war weg. Wer dagegen mit ein paar Gleichgesinnten hätte demonstrieren wollen, den hätte die Polizei daran gehindert. Wie lange dieser Zustand andauern würde? Niemand wusste es. Nur wenige schienen es wissen zu wollen. Ich fühlte mich wie in einem politischen Experiment, das niemand hinterfragte. Es war wie eine Generalprobe für Schlimmeres. Es war also möglich, den Charakter eines Landes im Laufe weniger Tage völlig zu verändern. Und wenn dieser Zustand vorbei sein sollte – woher wissen wir, dass er nicht wiederkommt? Die Probe lief doch schon mal ganz gut!

Das alles war für mich als Ost-Kind ein Alptraum. Mir kam in diesen Tagen ein abstruser Gedanke: Musste man wieder für Grundrechte kämpfen? War etwa nicht sicher, was die Ostler damals erkämpft hatten? Mussten wir im Osten denen im Westen erklären, was sie verlieren würden? Reichte ein hoch ansteckender Virus aus, um eine Demokratie ins Wanken zu bringen? Genügte eine ungesicherte Datengrundlage, um ein ganzes Land lahmzulegen, um die wirtschaftliche Existenz von hunderttausenden kleinen Betrieben zu gefährden? Um ganze Branchen in die Knie zu zwingen? Fragte jemand nach den langfristigen Folgen für freie Musikerinnen, für Gastronomen, für Clubbetreiber?

Mir kam es lange so vor, als ob sich nur Wenige diese Fragen stellten. Die Öffentlichkeit schaute stattdessen gebannt auf die neusten Pandemie-Zahlen und hatte Angst, pure Angst. Werden die Krankenhäuser zusammenbrechen? Werden wir solche Bilder sehen wie in Bergamo? Werden Ärzte im Notfall entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht? Wieviele von uns werden sterben?

Natürlich hatte auch ich keine gesicherten Informationen über Corona. Hätten die Ängste nicht doch wahr werden können? Was wäre, wenn Freunde oder Familienmitglieder durch Vorerkrankungen gefährdet gewesen wären, hätte ich dann immer noch auf meine Freiheiten bestanden?

Diese Ambivalenz musste ich aushalten: unter den Einschränkungen der Freiheit zu leiden und gleichzeitig versuchen, die Situation auszuhalten, über sich selbst hinauszuwachsen. Die Regeln waren jetzt andere, Sicherheit schien wichtiger als Freiheit, und vielleicht würde die Geschichte denen Recht geben, die die Sicherheit wollten.

Denunzianten kamen zum Zuge, Hygienelehrer ermahnten mich, Abstand zu halten und meine Maske aufzusetzen. Wer auch nur leiseste Zweifel anmeldete, galt als unverantwortlich. Wegen denen, so hieß es immer wieder, kommt bald die zweite Welle. Die Gesellschaft war gespalten, so schien es, in die, die es begriffen hatten – und die anderen.

Mai

Die Schulen waren inzwischen seit Wochen geschlossen. Wie selbstverständlich mussten die Eltern sich zu Hause um das Schulische kümmern. Es wurde einfach vorausgesetzt, es war ja für einen höheren Zweck. Ein Hauch von Adenauerzeit zog durchs Land, denn am stärksten waren die Mütter betroffen. Soziologinnen schrieben davon, dass das Land in Sachen Gleichberechtigung um dreißig Jahre zurückgeworfen wird. Was jungen Familien in dieser Pandemie zugemutet wurde, ist jedenfalls kaum zu ermessen.

Nachdem die Öffentlichkeit sich etwas von der Fixierung auf die täglichen Pandemie-Zahlen gelöst hatte, blickte sie endlich auf die Kinder. Sie blieben zu Hause, und vielen von ihnen tat das nicht gut. Sie waren, was Kinder nie sein sollten, isoliert. Viele von ihnen, vor allem die aus sozial schwierigen Familien, werden sich später an das Gefühl des Ausgeliefertseins erinnern. Es werden keine guten Erinnerungen sein.

Juni

Langsam öffnete sich das Land, die Demos von aufmerksamkeitsfressenden Verschwörungstheoretikern und verantwortungslosen Impfgegnern lichteten sich, der Sommer war fast da, die Ferien nicht mehr weit. Der Schulbetrieb würde in diesem Schuljahr nicht mehr regulär aufgenommen werden. Die Zahlen der vom Virus Infizierten gingen zurück, Virologen stritten sich öffentlich über ihre Forschungen und die gesellschaftlichen Konsequenzen. Es waren Streite unter Erwachsenen, Kinder und Jugendliche waren wieder Nebensache.

Es begann die Zeit des Wundenleckens. Mein Schock des Anfangs war noch spürbar. Was würde bei einer nächsten Pandemie passieren? Worauf konnte man sich politisch noch verlassen? Woher kommt die Illusion, dass eine Gesellschaft sich zum Besseren erneuern kann, wenn Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, Bildung um Monate zurückgeworfen wird und die Wirtschaft über Jahre geschädigt ist?

Der Sommer kam, die Pandemie schien im Griff, aber immer wieder tauchte ein Begriff auf, der wie eine Drohung wirkte: die zweite Welle. Für das, was in einem solchen Fall kommen würde, reichte meine Vorstellungskraft nicht mehr aus, und ich beschloss, diesen Gedanken zu verdrängen

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