Persönlich

Zeugnis vom Völkermord

Samuel Marder gehört zu den wenigen Schoah-Überlebenden, die auch noch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Lage sind, der Nachwelt Zeugnis vom Völkermord sowie von den mit ihm untergegangenen Kulturlandschaften Ostmitteleuropas abzulegen. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass das 2013 bereits auf Englisch erschienene Kompendium von Texten des 1930 in Czernowitz geborenen und seit 1949 in den Vereinigten Staaten lebenden Violinisten nun auch – übersetzt und herausgegeben von Ulrich Seeberg – in einer deutschsprachigen Fassung vorliegt.

Das Buch enthält zum einen autobiografische Erinnerungen, die „vom Leben und Leiden unter den Nazis und von der andersartigen Hölle unter den Kommunisten“ – so Irving Greenberg , Professor für Jüdische Studien an der City University of New York, in seiner Einführung – erzählen. Gemeinsam mit zigtausenden anderen Familien wurde die Familie Marder unter den Nationalsozialisten aus Czernowitz in das Konzentrationslager Werchowka (Transnistrien) deportiert, wo Samuels Vater ums Leben kam. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager und vor der mühsamen Übersiedlung in ein westdeutsches DP-Lager erlebte Marder in Czernowitz die Fürsorge des von den Kommunisten drangsalierten Skulener Rebbe Eliezer Zusia Portugal, dem ein eigenes Kapitel der Erinnerungen gewidmet ist. In ihrer Gesamtheit reichen die autobiografischen Texte von der Kindheit in den 1930er-Jahren bis zum späteren Leben in den USA.

Den Erinnerungen vorangestellt sind zum anderen Erzählungen, mittels derer Marder die Welt widerspiegeln will, „die vor meinen Augen verschwand“, erläutert er in seinem Geleitwort: „Ich wollte meine Erinnerungen an diese vibrierende Kultur und jene Gemeinschaften teilen, die nie wieder existieren werden.“ Wenn auch die historische wie biografische Zäsur der Kriegsjahre sowie die unmittelbare Nachkriegszeit den Fluchtpunkt der in diesem Band versammelten Texte bilden, geht Marder damit über das so wichtige Erinnern an Gewalt und Verbrechen hinaus. Vielmehr setzt er dem Judentum Ostmitteleuropas mit seinem ganz eigenen kulturellen, religiösen und spirituellen Erbe ein Denkmal. Damit verdeutlicht er zum einen, welch großer kultureller Verlust neben den Millionen menschlichen Opfern des nationalsozialistischen Genozids und der kommunistischen Gewaltherrschaft steht beziehungsweise mit ihnen einherging. Zum anderen lässt er die stark mystisch geprägte Frömmigkeit, die seine Kindheit prägte, vor dem inneren Auge des Lesers auferstehen. Man mag ihr Fortwirken im schriftstellerischen Schaffen darin erkennen, dass die Erzählungen „oftmals in einer Art magischen Realismus verfaßt“ sind, wie Greenberg hervorhebt.

Den hinteren Teil des Bandes bildet eine Sammlung von lyrischen Texten des Autors – die beschlossen werden von „Gedichten aus dem Holocaust“. Dankenswerterweise sind sämtliche Gedichte sowohl in deutscher Übersetzung als auch auf Englisch wiedergegeben, sodass sich der Leser bei Bedarf und Interesse die sprachliche Gestalt dieser sehr persönlichen Texte im Original erschließen kann. Dabei lohnt es sich mithin, dem Rat zu folgen, den Rabbi Alan J. Yuter, Professor für hebräische Literatur an der Universität von Maryland, Baltimore County, in seinem Vorwort gibt: „Um den Autor kennenzulernen, empfehle ich dem Leser, zunächst die Gedichte am Ende des Buches zu lesen. Sie enthalten eine Botschaft, die in ihrer Einfachheit zu einer so heiligen Dimension emporsteigt, dass sie nicht durch jene Sprachform gefasst werden kann, die konventionell Prosa genannt werden kann.“


 

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Foto: Andreas Helle

Tilman Asmus Fischer

Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft


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