Krisenmodus statt Feierlaune

Die Schweizer Reformierten stecken in schweren Turbulenzen
Krise statt Feiern. Synode der Schweizer Reformierten Kirche am 15. Juni im Kursaal zu Bern.
Foto: Nadja Rauscher
Krise statt Feiern. Synode der Schweizer Reformierten Kirche am 15. Juni im Kursaal zu Bern.

Gleich im Gründungsjahr befindet sich die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) in einer tiefen Krise: Präsident Gottfried Locher und Ratsmitglied Sabine Brändlin sind zurückgetreten. Statt zu feiern, lässt der Zusammenschluss der reformierten Kirchen in der Schweiz nun die Querelen in der eigenen Führung extern untersuchen. Felix Reich, Redaktionsleiter von reformiert info in Zürich, analysiert die Lage.

Eigentlich wollte die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) in diesem Jahr feiern. Und zwar gleich doppelt. Im schönen Wallis hätte im Juni die erste Synode des neu gegründeten Zusammenschlusses der reformierten Kirchen in der Schweiz abgehalten werden sollen. Die Verfassung, welche die Kräfte des vielstimmigen Protestantismus in der Schweiz bündeln soll, ist seit Anfang des Jahres in Kraft. Zudem wurde die Vorgängerorganisation, der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK), im September 1920, vor genau 100 Jahren gegründet.

Die dreitägige Versammlung in Sion wurde früh abgeblasen. Die Behörden hatten wegen der Corona-Pandemie ein Veranstaltungsverbot verhängt. Die wichtigsten Tagesordnungspunkte der Synode sollten virtuell verhandelt werden. Doch dieses Szenario war für viele Synodale undenkbar, als der Verhandlungstermin näher rückte, denn die Feierlaune hatte sich innerhalb weniger Monate in Krisenstimmung verwandelt. An eine virtuelle Debatte war angesichts der heiklen Tagesordnung nicht zu denken. Um die Abstandsregeln einhalten zu können, wurde die auf einen Tag verkürzte Synode kurzfristig in den Kursaal in Bern verlegt.

Am 24. April war Sabine Brändlin aus dem Rat der EKS zurückgetreten, am 27. Mai folgte ihr Präsident Gottfried Locher, der bis vor kurzem auch Herausgeber von zeitzeichen war. Dazwischen lagen Wochen der Spekulationen in diversen Medien und Vorwürfe gegen den Kirchenpräsidenten. Bekannt geworden war, dass die Exekutive eine Beschwerde gegen Locher behandelte, in der ihm eine ehemalige Mitarbeiterin „Grenzverletzungen“ anlastet. Hinzu kamen weitere Anschuldigungen von Frauen, die sich einer Gruppe von Synodalen anvertraut hatten. Wie schwerwiegend die Vorkommnisse waren, blieb nebulös.

Der Aargauer Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg, der die Schilderungen kennt, konkretisierte die Vorwürfe nicht, sagte aber gegenüber der Kirchenzeitung reformiert.: „Mit einem Präsidialamt in der Kirche ist das, was uns berichtet wurde, nicht vereinbar.“

Das Drama eröffnet hatten wenige Zeilen, mit denen Sabine Brändlin ihren Rücktritt begründete: Aus „persönlichen Gründen“ und wegen „unüberbrückbaren Differenzen“ verlasse sie den Rat. Die EKS reagierte mit einer hastig aufgesetzten Medienmitteilung. Darin erwähnt wurde ein laufendes Amtsgeschäft, das der Rat „mit grosser Sorgfalt umfassend“ behandle und bei dem ein Mitglied in den Ausstand getreten sei. Gemeint war Brändlin, deren Name die EKS nicht einmal nannte. Auch die sonst nach einer Demission üblichen Worte des Dankes sparte sich der Rat. Damit wurde erstmals offensichtlich, dass das Kollegium unter immensem Druck stand und ihm dabei das Gespür für eine adäquate Kommunikation abhandengekommen war. Juristisch verklausulierte Floskeln luden zum Lesen zwischen den Zeilen ein. Die direkt Involvierten schwiegen beharrlich. Zumindest ließen sie sich nicht zitieren.

Die Landeskirchen der Kantone Bern-Jura-Solothurn, Zürich, Waadt und Aargau verlangten vom Rat in einer dringlichen öffentlichen Anfrage Transparenz und setzten die Krise damit auf die Tagesordnung der Synode in Bern. Ein Offener Brief, den Theologinnen und Theologen unterzeichnet hatten, stellte einen Zusammenhang her zwischen den „unüberbrückbaren Differenzen“, die Brändlin geltend gemacht hatte, und der früheren Ankündigung der Pfarrerin, in der EKS die Prävention gegen Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe zu verstärken. Locher wiederum begründete den Rücktritt mit seiner „aktuell beschränkten Gestaltungskraft als Präsident“. Der Rat betonte mit Blick auf die Beschwerde, der Sachverhalt sei „weder erstellt noch erhärtet“.

Gerüchte und Feindseligkeit

Auf der Krisensynode vom 15. Juni in Bern wurde endlich klar, was sich hinter den sprachlichen Codes verbarg: Brändlins persönliche Gründe bezogen sich auf eine intime Beziehung mit Präsident Locher. Diese bestand bereits vor den Wahlen 2018. Die Zürcher Pfarrerin Rita Famos trat bei der Wahl gegen ihn an, verlor aber deutlich. Gerüchte und eine von Feindseligkeit geprägte Stimmung hatten damals eine offene Debatte verhindert. Der Präsident konnte die Reihen seiner Unterstützer nochmals schließen. Tragfähige Brücken zu seinen Kritikern aufzubauen, gelang ihm aber nicht. Auch Brändlin hatte sich für eine Wiederwahl Lochers stark gemacht. Gegenüber seinen Ratskollegen soll er Gerüchte über eine Beziehung mit ihr im Vorfeld der Wahlen dementiert haben.

Die Wahlen von 2018 erschienen der Synode in Bern damit in einem neuen Licht. „Das Wahlgremium wurde hintergangen“, erklärte Ratsmitglied Ulrich Knoepfel. Der Präsident der Glarner Kirche hatte Locher und Brändlin zum Rücktritt aufgefordert, nachdem er von ihrer inzwischen beendeten Beziehung erfahren hatte. Auch die Geschäftsprüfungskommission der Synode, die nach Brändlins Rücktritt eine Untersuchung eingeleitet hatte, hält in ihrem Bericht fest: „Es stellt sich die Frage, ob die Ratsarbeit wegen nicht offengelegter Befangenheit von zwei Ratsmitgliedern ganz oder teilweise anfechtbar sei.“

Über den eigentlichen Auslöser der Turbulenzen, die Beschwerde gegen Locher, ist hingegen noch immer wenig bekannt. Klar ist nur, dass sie von einer ehemaligen Mitarbeiterin eingereicht wurde, die mit ihm ebenfalls eine Beziehung hatte, und dass sie ihm „Grenzverletzungen“ vorwirft. Nach vertraulichen Gesprächen mit der betroffenen Frau zog Vizepräsidentin Esther Gaillard als Fachperson ausgerechnet Brändlin hinzu. Die Theologin hatte die Fachstelle Männer, Frauen, Gender der Aargauer Landeskirche geleitet und die „Prävention von Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen“ zu einem ihrer Kernthemen in der Ratsarbeit erklärt. Ihre nicht lange zurückliegende Beziehung mit Locher hielt sie nicht davon ab, sich dem Geschäft zu widmen. Laut dem parlamentarischen Bericht verneinten die im Vorfeld involvierten Anwälte eine Befangenheit Brändlins.

Gaillard und Brändlin hatten bereits Juristen und Kommunikationsfachleute konsultiert, als sie den Rat erstmals über die vorliegende Beschwerde informierten und auch Locher mit den Vorwürfen konfrontierten. Inzwischen liegen Rechnungen in sechsstelliger Höhe vor. In einer virtuell durchgeführten Ratssitzung beantragten sie am 17. April die Suspendierung des Präsidenten und eine unabhängige Untersuchung der Beschwerde. Die externe Untersuchung wurde zwar beschlossen, doch gegen dessen Willen wollte der Rat seinen Präsidenten nicht suspendieren. Zudem soll Locher die Möglichkeit zugestanden worden sein, sich mit der Beschwerdeführerin gütlich zu einigen. Dieses Vorgehen habe sie nicht mittragen wollen und sei deshalb zurückgetreten, ließ Brändlin in einem Brief ausrichten, den der Aargauer Kirchenratspräsident Weber-Berg an die Synodalen verschickte. Darin „erkennt und bedauert“ sie immerhin die „negativen Implikationen“, die ihr Verhältnis mit Locher auf die Wahlen 2018 hatte. Locher hält die Beschwerde laut parlamentarischem Untersuchungsbericht für einen „Teil einer inszenierten Intrige“ und wähnte sich nicht mehr in einer Behörde, sondern sah sich „einem Tribunal“ gegenüber.

Mit Gottfried Locher verließ ein Präsident die EKS, der 2011 angetreten war, den Reformierten ein Gesicht zu geben. In der medialen Öffentlichkeit war er als eloquenter und klug argumentierender Theologe präsent. Er ließ sich auf theologische Debatten ein und rang mit der biblischen Botschaft, die er nie glatt bügeln wollte. Nach seiner Wiederwahl exponierte er sich vermehrt in politischen Fragen. Überraschend deutlich sprach er sich im Vorfeld der entsprechenden Versammlung des Kirchenbunds für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aus. In seiner letzten Abgeordnetenversammlung im November 2019 beschloss der Kirchenbund mit deutlicher Mehrheit, Traugottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare zuzulassen, sobald auf politischer Ebene die Ehe für alle eingeführt wird, was im Frühjahr 2021 der Fall sein dürfte.

Auch in Bezug auf die Konzernverantwortungsinitiative, die vom evangelischen Hilfswerk Brot für alle stark geprägt wurde, legte Locher seine Zurückhaltung ab. Die Volksinitiative will Haftungsklagen gegen Schweizer Unternehmen ermöglichen, die mit ihrer Produktion im Ausland Menschenrechte verletzen und Umweltschäden anrichten. Je nach Umsetzung geht die Vorlage weiter als das in Deutschland diskutierte Lieferkettengesetz. Gegenüber reformiert. sagte Locher: „Menschenrechte sind keine Verhandlungsmasse.“ Die Kirche trete ein für „Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“.

Ein wichtiges Anliegen war Locher der ökumenische Dialog. Unermüdlich wies er darauf hin, dass die Kirche nicht an den Konfessionsgrenzen aufhört, ohne die Hindernisse für eine Annäherung zu verschweigen. Im Reformationsjahr 2017 feierte er gemeinsam mit dem katholischen Bischof von Basel, Felix Gmür, einen Gottesdienst und verband das Jubiläum der Reformation mit dem Gedenken an den Heiligen Niklaus von Flüe. Die beiden Repräsentanten nahmen voneinander gegenseitig die Entschuldigung entgegen für das Leid, das die Kirchenspaltung verursacht hatte, und umarmten sich unter dem Applaus der Gemeinde. Ein wichtiges Zeichen der Versöhnung.

Wobei Locher gerade in der Ökumene zuweilen auch irritierende Signale aussandte. So trug er als reformierter Pfarrer in Gottesdiensten und bei öffentlichen Auftritten manchmal ein silbernes Kreuz. Was wohl als sichtbares Glaubensbekenntnis gemeint war, ließ sich auch als Sehnsucht nach einer Hierarchisierung der reformierten Kirche lesen. Doch zum reformierten Erbgut gehört eigentlich, dass im Gottesdienst unter Pfarrerinnen und Pfarrern, die den Talar tragen, keine Rangordnung zu erkennen ist und es in der Liturgie auch keine solche gibt. Locher war fasziniert von einer mit Sinn für die Inszenierung gestalteten Liturgie, was ihm von Kritikern als Hang zum Klerikalismus ausgelegt wurde.

Auf die im Herbst 2019 verabschiedete Verfassung der EKS hatte Locher lange hingearbeitet. Auch sie war von Diskussionen um seine Person begleitet, den Vorwurf, er wolle einen reformierten Bischof installieren, wurde er nie ganz los. Aber vielleicht war es gerade sein Verdienst, diese durch Irritationen ausgelöste Debatte lanciert zu haben. Die Reformierten mussten so darum ringen, wie stark sie die geistliche Leitung an Persönlichkeiten binden wollen. Mit der in der Verfassung verankerten Dreiteilung der geistlichen Leitung auf Synode, Rat und Präsidium wurde ein tragfähiger Kompromiss gefunden.

Lochers Rücktritt trifft die EKS in einem heiklen Moment. Die Abläufe in der jungen Organisation sind nicht gefestigt. So hat die Synode noch keine Geschäftsordnung verabschiedet, sie muss sich auf die neue Verfassung und die alten Reglemente der Vorgängerorganisation stützen. Im Rat selbst lenkten laut dem Bericht der parlamentarischen Aufsichtskommission die Anwälte beider Seiten „die Diskussion auf eine überwiegend juristisch argumentierende Ebene“. Auch die durch externe Fachleute bestimmte Kommunikation war davon geleitet, Persönlichkeitsrechte zu wahren und keine Klage zu riskieren. Die Transparenz, welche die Institution schützt, blieb auf der Strecke.

Synode überfordert

Überfordert zeigte sich auch die Synode am 15. Juni. Ihre Sitzung wurde lange von der Diskussion darüber gelähmt, ob der Bericht der Geschäftsprüfungskommission öffentlich verhandelt werden dürfe. Die Kommission verlangte eine Diskussion unter Ausschluss der Öffentlichkeit und hätte dafür beinahe die nötige Zweidrittelmehrheit erhalten. Absurderweise mussten die Synodalen die Vertraulichkeit eines Papiers beurteilen, das sie gar nicht kannten. Aus Angst vor einem Leck war der Untersuchungsbericht unter Verschluss gehalten und den Synodalen erst in der zweiten Sitzungshälfte ausgehändigt worden.

Um die Aufarbeitung der Geschehnisse voranzutreiben, hat die EKS nun für den 13. und 14. September eine Sondersynode angesetzt. Sie soll den Auftrag der untersuchenden Anwaltskanzlei definieren, denn sie hat die Aufsicht über die Untersuchung dem Rat entzogen und einer Kommission unterstellt, die sie aber erst noch besetzen muss. Noch völlig offen ist, wann Wahlen stattfinden, um die vakanten Sitze zu besetzen. Ins Spiel gebracht wurde bereits die Installierung eines Übergangsrats.

Wie rasch die EKS aus ihrer Krise findet, ist offen. Zwar muss sie sich nicht neu erfinden, denn die Verfassung ist breit abgestützt. Doch braucht die EKS wohl eine Atempause. Souverän agiert haben nicht viele in dieser Geschichte voller Verstrickungen und ungenügend aufgearbeiteter Konflikte. Offensichtlich wurde immerhin, dass die kritische Reflexion der eigenen Macht, die Fähigkeit, Vertrauen aufzubauen, und nicht zuletzt gesunde Demut entscheidende Voraussetzungen sind für ein Spitzenamt in der reformierten Kirche.

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